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Utopia: Religion, Macht und Gesellschaft

Artikel vom 08.12.2016

Foto: tomertu/Shutterstock.com

Drei Tage, vom 9. November bis zum 11. November 2016, haben Fachleute aus Wissenschaft und Praxis gemeinsam über Utopien und deren Wirkung auf die Gesellschaft debattiert.
Ausgangspunkt war der 500. Jahrestag des Erscheinens der Utopia von Thomas Morus. Dessen prototypische Darstellung einer idealen Gesellschaft inspirierte sozialutopische Modelle und Visionen über Jahrhunderte hinweg und auch die Teilnehmenden der Tagung im Schader-Forum.

Zugänge der Tagung zum Thema Utopien

Die Tagung bot vielfältige Zugänge zu dem Thema und regte somit in unterschiedlichen Bereichen zum Nach- und Weiterdenken an. Entsprechend dem Ausgangspunkt des 500. Jahrestags des Erscheinens von Thomas Morus‘ Utopia startete sie mit einem Prolog zu historischen und ideengeschichtlichen Aspekten.

Diesem folgte ein Vortragsabend, der die Frage aufwarf: Was ist und wozu dient Utopie? Hieran versuchten sich neben dem Initiator der Tagung Prof. Dr. Ulrich Bartosch von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Prof. Dr. Uwe Schneidewind vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und Prof. Dr. Dr. h.c. Gesine Schwan von der Berliner Humboldt-Viadrina Governance Platform. Die Moderation übernahm Dr. Christof Eichert, Geschäftsführender Vorstand der Herbert Quandt-Stiftung, die die Tagung maßgeblich gefördert hat.

Der transkribierte und von Prof. Dr. Ulrich Schneidewind freigegebene Beitrag ist unter dem Titel „Was ist und wozu dient Utopie? Der Blick aus und in verschiedene Zeiten - Gegenwart“ jetzt ebenfalls online einsehbar.

Darüber hinaus stellte die Tagung in einer weiteren Abendveranstaltung explizit die Frage der Utopiefähigkeit an das Christentum und beleuchtete somit eine theologische und religionssoziologische Seite. Es referierten Dr. Klaus Kufeld vom Ernst-Bloch-Zentrum Ludwigshafen und Prof. Dr. Peter Scherle vom Theologischen Seminar Herborn. Dr. Eberhard Pausch führte seitens des mitveranstaltenden Projektbüros Reformationsdekade der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in den Abend ein.

In weiteren inhaltlichen Blöcken debattierten die Teilnehmenden heutige Utopien und deren Wirkung auf die Gesellschaft. Drei Themenfelder strukturierten die Debatte: Es ging um religiöse Utopien, die auch im nichtchristlichen Kontext verortet sein können, um Utopien der Nachhaltigkeit, die in Zeiten drängender werdenden ökologischen und ökonomischen Transformationsbemühungen vielfach in der Diskussion sind, sowie um das Versprechen von Sicherheiten und Möglichkeiten durch technologische Utopien, die zwischen Hoffnungen und Befürchtungen schwanken lassen.

Den Epilog der Tagung bildeten themenorientierte Frühstückstische, die die Diskussion um religiöse, technologische und Utopien der Nachhaltigkeit wieder aufnahmen und auf die konkreten Bedarfe der Teilnehmenden fokussierten.

Berichterstattung

Zum Schluss hatten zwei Personen das Wort, die die Aufgabe der Berichterstattung übernommen haben. Sie haben die Tagung begleitet, die Debatten verfolgt und daraus je eigene Schlüsse gezogen, die hier zusammenfassend wiedergegeben werden.

Zum einen hatte Prof. Dr. Regine Kollek vom Hamburg Center for Bio-Governance an der Universität Hamburg und zugleich Vorstand der Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VDW) die Rolle der Berichterstattung übernommen, zum anderen Prof. Dr. Dirk Jörke vom Institut für Politikwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt.

Was sind Utopien?

Drei Tage wurde über Utopien diskutiert. Trotzdem waren sich die beiden Berichterstattenden einig, dass am Schluss keine klare Definition dessen vorlag, was Utopien sind. So siedeln sie in verschiedenen Disziplinen und Sektoren an, wie man bei der Tagung sehen konnte, setzen im Spektrum von Individuum und Gesellschaft an unterschiedlichen Ebenen an, gehören verschiedenen Genres an. Inhalt, Form und Funktion bilden sich daher auf je eigene Art und Weise aus. Auch wenn daher keine Definition von Utopie sinnvoll ist, sind sich doch die beiden Berichterstattenden einig, dass Utopien Aufgaben erfüllen, etwa:

  • als Sozialkritik an ungerechten Verhältnissen oder anders formuliert als Reaktion auf eine Lücke zwischen sozial konstruierten erfahrbaren Bedürfnissen und den aktuell vorhandenen Mitteln zur Befriedigung dieser,
  • als Gegenentwurf, verstanden als Gedankenspiel, letztlich im Sinne eines ausformulierten Wunsches nach dem „richtigen“ oder zumindest einem besseren Leben,
  • als Eröffnung von Kontingenzbewusstsein und eines Möglichkeitssinns, somit dem Aufzeigen von Alternativen.


Regine Kollek fragt, was die Menschen zu Utopien motiviert. Ist es die Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen und der Versuch, Alternativen dazu zu formulieren, wie man es bei Thomas Morus sehen kann? Oder ist es, mit Ernst Bloch argumentiert, auf den bei der Frage nach der Utopiefähigkeit des Christentums Bezug genommen wurde, eine anthropologische Neigung, also ein dem Menschen sozusagen eingepflanztes Bedürfnis oder zumindest eine solche Fähigkeit, über sich selbst hinauszudenken?

Von der Utopie zur Dystopie

Dirk Jörke warnt vor Gefahren, wenn mit den Gegenentwürfen und vorgestellten Alternativen ein Wahrheitsanspruch verbunden ist. Insbesondere bei religiösen Utopien sieht er große Risiken: in einer pluralistischen Gesellschaft kann es keinen religiös begründeten Wahrheitsanspruch geben. Religiöse Motive müssten in der Folge im Privaten verbleiben, können dort durchaus die Energie für den Einsatz für gerechtere Verhältnisse liefern. Aber ein utopischer Gesellschaftsentwurf lässt sich aus ihnen nicht ableiten.

Die Nähe zum Dystopischen, also das „Eskalationspotential des Utopischen“ zum Totalitären hin scheint hier auf. Deutlich wurde das auch, so Dirk Jörke, bei dem Praxisbericht des Journalisten Daniel Moßbrucker, der die digitalen Überwachungsmöglichkeiten plastisch aufzeigte. Mit diesem Bericht zeigte sich eine Ratlosigkeit, die Dirk Jörke auch für sich selbst benennt. Welchen Ausweg gibt es bei derartigen Freiheitsbedrohungen, außer die Öffentlichkeit in Verantwortung zu nehmen, die allerdings ihre kritische Funktion gerade bei der Frage der Digitalisierung nicht mehr wahrnimmt.

Fehlende Großentwürfe

Beide Berichterstattende weisen darauf hin, dass es keine utopischen Großentwürfe mehr zu geben scheint. Auch auf der Tagung blieben, so bedauert Dirk Jörke, utopische Alternativen eher blass. Er sieht hier eher utopische Elemente, etwa eine von der Neoklassik befreite Ökonomie, die Geschlechtergerechtigkeit im Islam oder auch der Appell an mehr Bescheidenheit, etwa hinsichtlich der bewohnten Fläche pro Person. Ist es nicht außerordentlich brav, wenn man heutzutage über eine Reduktion der Wohnfläche von bislang durchschnittlich 48 qm pro Person auf 38 qm diskutiert? Wie weit entfernt ist davon die Praxis der Utopier von Thomas Morus, fragt Dirk Jörke, die ihre Wohnstätten alle zehn Jahre durch Auslosung wechseln?

Utopiefähigkeit der Wissenschaft

Auch für die Wissenschaft, so Regine Kollek, die damit den Vortrag von Uwe Schneidewind am ersten Abend der Tagung aufgreift, sind Utopien gewinnbringende Gegenentwürfe zum gegenwärtigen Wissenschaftssystem. Das Anhäufen von immer detaillierterem Systemwissen in immer kleinere Mikrostrukturen hinein, wie es sich in zahlreichen Forschungen zeigt, beschwört zu Recht die Frage nach der Relevanz und Reichweite dieses Wissens hervor. Neben dem Systemwissen, so Uwe Schneidewind muss sich die Wissenschaft auch um Zielwissen – was ist wünschenswert? – und um Transformationswissen – was ist möglich und wie erreichen wir es? – bemühen. Dazu würde, so der Schluss von Regine Kollek, auch die Einbeziehung nicht-akademischer Wissensbestände gehören, was in der heute üblichen Wissenschaft sowohl zu epistemischen Problemen als auch zu institutionellen Hürden führt. Trotzdem plädiert sie für eine Öffnung der Wissenschaft in diesem Sinne, denn: Ein verändertes Wissenschaftssystem wäre für die Aufgaben der Zukunft besser gerüstet.

Transformative Praxis statt Utopie

Ausgehend von dem Bericht von Eva Stützel über das Ökodorf Sieben Linden formuliert Regine Kollek zum Schluss eine These, die auch die geringe Zahl heutiger utopischer Großentwürfe erklären könnte: Die heutigen Positiventwürfe, die ein richtiges, zumindest besseres Leben aufzeigen, werden nicht theoretisch formuliert, sondern entwickeln sich im Rahmen einer transformativen Praxis.

Vorab mehr oder weniger deutlich oder systematisch formulierte Ideen werden hierbei als Aufgabe begriffen und durch bestimmte körperliche, haptische, materiell vermittelte Übungen oder Praxen zumindest partiell realisiert. Die Wichtigkeit von Praxen, Handlungen, Einübungen zeigte nicht nur das Beispiel des Ökodorfs, sondern auch der Bericht von Abt Marianus über das klösterliche Leben, dessen Rhythmen und Übungen – verbunden mit der entsprechenden inneren Haltung - dazu dienen, dem Ziel der Gotteserkenntnis näher zu kommen. Eine ähnliche Bedeutung des Handelns und Tuns hat Regine Kollek auch bei Ulf Kilian, Künstler und Impulsgeber bei einem der Dialog-Cafés während der Tagung, identifiziert. Ihm zufolge ist es gerade nicht Aufgabe des Künstlers, schlüssige Gegenmodelle zu konzipieren. Stattdessen ist die ästhetische Durchdringung, der Dialog zwischen dem Künstler und dem Material entscheidend. Es geht nicht in erster Linie um das Werk, also das Ergebnis, sondern um die Tätigkeit. Hier drückt sich, so Regine Kollek, ein anderes Weltverhältnis aus.

Somit kann, auch wenn wir keinen utopischen Großentwürfen folgen, die Arbeit an der Utopie, gedacht als Vorstellung eines besseren Lebens, insbesondere das Einüben bestimmter transformatorischer Praktiken Elemente von Utopien in die Gegenwart bringen.

Dank

An dieser Stelle sei allen Mitwirkenden bei der Tagung gedankt. Nur aufgrund der vielen Vorträge, Impulse, Moderationen, Diskussionsbeiträge konnte die Tagung die ihr von vielen Teilnehmenden zugesprochene anregende, manchmal auch irritierende Wirkung entfalten.

Viele Kooperationspartner haben, neben der Schader-Stiftung, die Tagung konzipiert und umgesetzt, nämlich die Katholische Universität Eichstätt, das Projektbüro Reformationsdekade der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, die Evangelische Akademie Frankfurt am Main und die Katholische Akademie Rabanus Maurus – Haus am Dom. Ihnen sei für die inhaltliche und auch finanzielle Unterstützung gedankt. Darüber hinaus gilt der Dank der Herbert Quandt-Stiftung, die die Tagung gefördert hat.

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