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Probleme des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt" - Anmerkungen aus sozialwissenschaftlicher Sicht

Artikel vom 16.06.2004

Die Schwierigkeiten der Evaluation verweisen auf einige grundsätzliche Probleme des Programms „Soziale Stadt”. Jürgen Friedrichs formuliert daher einige Defizite des Programms aus sozialwissenschaftlicher Sicht und konzentriert sich dabei vor allem auf fünf Aspekte, wie zum Beispiel methodologische Grundlagen und Gebietseffekte. Von Jürgen Friedrichs

1. Mitwirkung der Sozialwissenschaft

Ein Programm dieser Dimension, Reichweite und beabsichtigter sozialer Folgen sollte nicht allein von der Ministerialbürokratie ersonnen werden. Die intendierten gesell­schaftlichen Veränderungen erfordern Maßnahmen, die zu einem großen Teil auf sozial­wissenschaftlichen Annahmen beruhen. Die Sozialwissenschaft ist jedoch nicht an der Formulierung des Programms beteiligt gewesen. Es wäre aber eine ihrer Aufgaben, an der Formulierung, Begleitung und Evaluation mitzuwirken.

Eben weil das Programm innovativ sein will, hätte man im Vorfeld die Wissenschaft­ler an dem Programm beteiligen sollen. Es wäre möglich gewesen, die Maßnahmen kla­rer zu formulieren und hierzu Forschungsergebnisse heranzuziehen. Zum einen hätten die Befunde sozialwissenschaftlicher Forschung sehr wohl dazu dienen können, Maß­nahmen, wie z.B. solche zur Integration von ethnischen Minoritäten oder zur Partizipation als Erstellung von Kollektivgütern im Sinne von Olson, empirisch zu basieren. Die Be­funde hätten aber auch dazu dienen können, einzelne Maßnahmen als empirisch sehr wahrscheinlich nicht sinnvoll abzulehnen. Und schließlich hätten Wissenschaftler auch über die möglichen Nebenfolgen von Maßnahmen diskutieren können. Das Programm hat also keine theoretische Fundierung.

Dies gilt in besonderem Maße, weil das Programm neben den investiven Mitteln auch Mittel für nicht-investive Maßnahmen bereitstellt. Wenngleich das Schwergewicht auf den physischen Maßnahmen liegt, enthält die Programmformulierung dennoch zahlrei­che soziale Maßnahmen. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, Anlass des Pro­gramms seien weniger die physischen als die sozialen Probleme in den Wohngebieten ge­wesen. Die Komplexität der sozialen Probleme, ihre Verflechtung auf der Ebene der Familien oder Haushalte, erfordert eine ebenso starke Verflechtung der Maß­nahmen.

Bei den investiven Maßnahmen ist man sich wohl über das Vorgehen, die Kosten und den Erfolg der Maßnahmen relativ sicher. Dennoch lässt sich die Frage stellen, welche so­zialen Folgen physische Maßnahmen haben oder haben sollen. Auch dies wäre zu unter­suchen. Wichtiger für die sozialwissenschaftliche Analyse sind die sozialen Maßnahmen. Hier herrscht berechtigt eine erhebliche Unsicherheit darüber

  • welche Maßnahmen geeignet sind, ein gegebenes Ziel zu erreichen;
  • in welcher Zeit und mit welchem personellem Aufwand das Ziel in welchem Aus­maß erreicht werden kann;
  • welche „sozialen Ziele” man überhaupt erreichen will; und
  • ob diese Ziele auf der Ebene eines städtischen Teilgebiets zu erreichen sind oder sozialpolitische Maßnahmen auf einer ganz anderen Ebene erfordern, z.B. die Ver­ringerung der Arbeitslosigkeit.

2. Methodologische Grundlagen

Ausgangspunkt der Kritik ist, dass offenbar bei jenen, die Maßnahmen vorschlagen oder durchführen, ein grundlegender methodologischer Sachverhalt nicht berücksich­tigt wird. Jede Maßnahme hat folgende Struktur:

T: Um eine Veränderung in X zu erreichen, ist es zweckmäßig, Y zu verändern. G: Y ist eine Ursache von X. A: X liegt im Gebiet G vor.

Die technologische Aussage T beruht also auf einer Gesetzesaussage G und diese soll­te sich empirisch bewährt haben. Maßnahmen unterstellen demnach empirisch bewähr­te Hypothesen. Deshalb ist der Satz von Kurt Lewin „Nichts ist praktischer als eine gute Theorie” so zutreffend.

Wir benötigen also Sozialwissenschaftler, die sowohl bei der Formulierung des Pro­gramms als auch bei dessen Evaluation mitwirken. Sie könnten Maßnahmen daraufhin beurteilen, ob sie auf empirisch bewährten Hypothesen beruhen. Sie könnten ferner vor­geschlagene Maßnahmen als vermutlich eher unwirksam einstufen und könnten schließlich auf die Nebenfolgen von Maßnahmen hinweisen (X bewirkt nicht nur Verän­derungen in Y, sondern auch solche in Z und W. Diese könnten unerwünscht sein.)

Hierin sehe ich eine wichtige Aufgabe der Sektion „Stadt- und Regionalsoziologie”: Die Beratung auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Unsere Aufgabe ist es nicht, nach normativen oder politischen Kriterien vorzuschlagen, welche Form der Partizipati­on wünschenswert ist. Vielmehr sollten wir sagen können, welche Form der Mobilisie­rung der Bewohner auf der Basis empirischer Befunde am ehesten geeignet ist. Ebenso könnten wir auch sagen, welche Form vermutlich nicht geeignet ist (vgl. hierzu den Bei­trag von Neuer-Miebach in diesem Band).

3.Evaluation

Die Ziele des Programms sind unzureichend formuliert. Es gibt zahlreiche unklare Formulierungen, z.B. „selbsttragende Strukturen”, „Partizipation”, „Identifikation mit dem Gebiet”, „Stärkung der lokalen Wirtschaft”, „dauerhafte Stabilisierung”, „Integration von ethnischen Minoritäten" und „integriertes Handlungskonzept”. Dadurch kommt es immer wieder zu Schwierigkeiten, die Interpretation der Ziele durch einzelne Länder und Kommunen miteinander zu vergleichen. Dies verhindert einen systematischen Ver­gleich von Maßnahmen.

Es ist bedauerlich, dass der experimentelle Charakter der Maßnahmen nicht durch eine umfassende Evaluation gewürdigt wurde. Es hätten von Anbeginn die Länder und Kommunen dazu verpflichtet werden müssen, die Maßnahmen zu evaluieren. Dazu hät­ten auch Mittel bereitgestellt werden müssen. Gerade angesichts der unklaren Hypothe­sen über die Formen und Wirkungen nicht-investiver, also der sozialen Maßnahmen, wä­re dies unabdingbar gewesen. Nur so hätten künftige Planungen in anderen Gebieten von einer systematischen Evaluation profitieren können.

4. Gebietseffekte

Das Programm, wie andere europäische Programme auch, richtet sich auf Gebiete, nicht auf Personen bzw. Bewohner. Dieser area-based approach ist nur sinnvoll, wenn man einen Gebietseffekt unterstellt. Die seit 1990 nachgerade dramatisch angestiegene Literatur in der Soziologie, Kriminologie und Medizinsoziologie zu Gebietseffekten er­bringt nun zwei wichtige Ergebnisse:

  • Gebietseffekte sind vorhanden, aber gering im Vergleich zu den  Individualeffekten.
  • Gebietseffekte sind zu differenzieren, indem nicht nur die Ebenen „Gebiet” und „Individuum” berücksichtigt werden müssen, sondern auch die Meso-Ebene von Institutionen, darunter die Schule, Vereine und jugendliche peergroups, also auch deren Effekte auf das Verhalten der Individuen.

Der letztere Befund hat für sowohl für die Organisation der Planung als auch die Maß­nahmen eine wichtige Konsequenz: Solche „intermediären Instanzen” müssen in das Handlungskonzept einbezogen werden, insbesondere die Schulen. Es ist zu prüfen, ob dies in systematischer Weise bei der Umsetzung des Programms auf der kommunalen Ebene geschehen ist.

5. Methodische Anlage

Das Vorgehen hätte auch erfordert, mit quasi-experimentellen Designs zu arbeiten, um so die Maßnahme-Gebiete mit Gebieten zu vergleichen, die zwar ebenfalls Probleme, aber in geringerem Maße, aufweisen. Diese wiederum müssten mit Gebieten verglichen werden, die nur in sehr geringem Maße Probleme aufweisen. Dies ist nicht geschehen. Ferner wäre es erforderlich gewesen, die Datengrundlage zu verbessern. Wie die Evalu­ationen zeigen, liegen nur für eine kleine Zahl der Gebiete Daten für den Zeitpunkt 1990 oder früher vor. Es ist also gar nicht möglich, auf der Ebene von Aggregatdaten über das Teilgebiet Veränderungen zu untersuchen.

Im Prinzip hätte das aber auch noch nicht ausgereicht. Wenn man systematisch un­tersuchen will, welche Auswirkungen Maßnahmen auf bestimmte Bevölkerungsgrup­pen hatten, wäre ein Bewohner-Panel erforderlich gewesen. Die Kosten für solche Pri­märerhebungen sind zweifellos hoch. Die Frage ist nur, ob man ohne solche Daten jemals einigermaßen gesichert Aussagen über die Maßnahmen machen kann. Angesichts der Bedeutung dieses Programms wäre ein solcher Aufwand gerechtfertigt gewesen, weil wir nur so zu Erkenntnissen gelangen, die auch für künftige Projekte nutzbar sind.

Der Autor: Dr. Jürgen Friedrichs ist Professor für Soziologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und ist Direktor des Forschungsinstituts für Soziologie; er ist Mitherausgeber der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie”.

Literatur

  • Burgers, Jack / Vranken, Jan / Friedrichs, Jürgen / Hommerich, Carola, 2003: Anleitung für ein erfolgreiches Stadtentwicklungsprogramm. Beispiele aus neun europäischen Ländern, Opladen: Leske + Budrich

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