Zeitenwende und Zeitenende – über Dringlichkeiten und ihre Politisierung
Artikel vom 01.06.2023
Die Zeiten ändern sich in immer neuen Tempi. Wahrnehmung und Wirklichkeit von Zeit verschiebt sich, Politiken und Politisierungen ringen und spielen mit der Zeit. Höchste Zeit für eine interdisziplinäre Tagung.
Beginn: 24.11.2023 | 13:00 Uhr
Ende: 25.11.2023 | 15:30 Uhr
Ort:
Schader-Campus
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Goethestr. 1-2
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64285 Darmstadt
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Höchste Zeit!
Der Begriff der „Zeitenwende“, den Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede nur einen Tag nach dem Kriegsausbruch gegen die Ukraine verwendete, wurde prominent zum Wort des Jahres 2022 erklärt. Er charakterisiert den Ausbruch dieses Krieges als einen Abbruch von Kontinuität, denn, so Scholz: „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Damit erfährt ein Ereignis die Zeit-Deutung der Dringlichkeit, die binnen 24 Stunden politische Maßnahmen, wie die Aufrüstung der Bundeswehr um 100 Milliarden Euro, legitimiert. Dringlich erschienen auch die Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19, die teilweise als „Wettlauf gegen die Zeit“ (Michael Kretschmar) gedeutet wurden. Und das „jetzt“ gebotene politische Handeln fordert auch die klimaaktivistische Bewegung „Letzte Generation“ ein: „Wir haben noch zwei bis drei Jahre, in denen wir den fossilen Pfad der Vernichtung noch verlassen können“, so lautete einer ihrer Leitsätze. Es bleibt keine Zeit für zeitlich verzögerte Politik.
Diesen drei Beispielen ist gemeinsam, dass sie Deutungen betreffen, die ein bestimmtes Ereignis als „Kairos“, als einen sich aufdrängenden Zeitpunkt für politisches Handeln verstehen. Gleichzeitig sind sie auch umstritten. Die antipandemischen Maßnahmen der Bunderegierung sind bezüglich der Einschätzung ihrer zeitlichen Dringlichkeit wie auch ihres Ausmaßes Gegenstand heftiger Auseinandersetzung gewesen. Und während im europäischen Raum das Zeitenwende-Paradigma akutes politisches Handeln einfordert, hat etwa für afrikanische Länder der Krieg in der Ukraine anscheinend keine sich derart aufdrängende politische Bedeutung, allenfalls verschärft er ihre Armutslage durch stetig steigende Getreidepreise. Auch die Bewertung klimapolitischer Handlungsimperative ist different: In Europa geht es um die Frage, ob in Zukunft ein dramatischer Klimawandel abgewendet werden kann. Noch, so die vielfache Meinung, bleibt Zeit. In afrikanischen und asiatischen Regionen hingegen deuten massive Versteppungen, Überflutungen und extreme Hitze darauf hin, dass die klimabedingte „Sintflut“ bereits eingesetzt hat. Einschätzungen, ob bereits „Kippunkte“ erreicht oder ob sie noch abwendbar sind, unterscheiden sich offenbar auch global, abhängig von der jeweiligen geografischen Lage.
Zeit-Fragen
Diese Verbund-Tagung der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik, der Schader-Stiftung und der Evangelischen Hochschule Darmstadt ging den folgenden Fragen nach:
- Inwiefern lässt sich die gegenwärtige Angst vor dem „Pfad der Vernichtung“ einordnen in eine apokalyptische Typologie der Angst vor dem Weltende?
- Welche der differenten Zeitenwahrnehmungen sind im Recht? Was ist der Maßstab für ihre Bewertung?
- Inwiefern ist die Zeitdeutung der Klimadebatte und -politik in Deutschland eurozentristisch und postkolonial geprägt?
- Inwiefern werden differente Zeitwahrnehmungen zunehmend zum Bezugspunkt sich verschärfender politischer Konflikte?
- Wie verhalten sich die räumlich wie auch zeitlich differenten Fokussierungen und Konkurrenzen der Aufmerksamkeit auf lokale und globale Ereignisse zueinander (Diskontierung)?
- Inwiefern resultiert Dringlichkeit politischer Handlungsanforderungen auch aus der chronischen Vernachlässigung der „langen Linien“ (Ralph Brinkhaus)?
- Gibt es Perspektiven einer globalen Zeitpolitik, die Politik als Gestaltungsraum konsentierter Zeitdeutungen gestaltet?
Vortragende
Es tragen unter anderem vor
Prof. Dr. Georg Franck, Professor für EDV-gestützte Methoden in Architektur und Raumplanung, Technische Universität Wien
Prof. Dr. Hartmut Graßl, Direktor em. am Max-Planck-Institut für Meteorologie
Dr. Sophie Hauschild, Unversität Heidelberg / Institut für Psychosoziale Prävention
Heike Hofmann MdL, Vizepräsidentin des Hessischen Landtags
Kirchenpräsident Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Evangelische Kirche in Hessen und Nassau
Dr. Jürgen P. Rinderspacher, Universität Münster
Philipp Schrögel, Käte Hamburger Centre for Apocalyptic and Post-Apocalyptic Studies CAPAS, Heidelberg
Tatjana Steinbrenner, Vizepräsidentin der IHK Darmstadt Rhein Main Neckar
Prof. Dr. Dr. h.c. Heribert Warzecha, Vizepräsident für Studium und Lehre, TU Darmstadt
u.a.