Stadt Leben
Artikel vom 12.04.2007
„Stadtluft macht frei”, so klang einst der Ruf – die Flucht aus der Knechtschaft der „Landlords”, aus der Abhängigkeit und Armut auf dem Lande in den Schutz der Mauern und Wehrtürme. Freiheit und Wohlstand war das Versprechen der Städte. Von Heik Afheldt
Stadt Leben
Das, was bei uns längst Geschichte – und nur zu oft erlebte Enttäuschung – ist, findet in Ländern wie China oder in Lateinamerika heute vor unseren Augen millionenfach und mit atemberaubender Geschwindigkeit statt. „Hochgeschwindigkeitsuburbanisierung” ist das Schlagwort. Eben lebten und arbeiteten noch über siebzig Prozent aller Chinesen – das sind mehr als 700 Millionen Menschen – auf dem Lande und von der kärglichen Agrarwirtschaft. Nun ziehen sie – nur mühsam gelenkt – in die hunderte, in Eile neu errichteten Großstädte im Süden des riesigen Landes. Hier leben sie nun fern vom Erdboden in Hochhäusern, in neuer Freiheit und subjektiv empfundenem Luxus, mit Wasser und elektrischem Licht. Hier suchen und finden viele Arbeit und Brot. Hier treffen sie auch auf Armut und Gewalt, Versuchungen und Gefahren und auf tausende fremder Menschen gleich außerhalb ihrer iegenen vier Wände, Menschen mit anderer Herkunft, anderem Glauben, anderen Sitten. Die Städte als „melting pots”, in denen die verschiedenen Eigenarten und Identitäten tatsächlich aber nur zum Teil verschmelzen. Integration und Segregation. Global Cities, in denen fast alle Kukturen der Welt vertreten sind, neue Wurzeln schlagen und ihre spezifischen urbanen Territoren prägen.
Wissenschaftler sagen voraus, dass in wenigen Jahren weit über die Hälfte aller Menschen in den großen schnell wachsenden Mega-Städten leben werden. Mehr als 3 Milliarden Städter! Städte mit 20 oder 30 Millionen Einwohnern auf wenigen Quadratkilometern werden das Bild prägen. Städte wie Tokio mit heute schon 35 Millionen Einwohnern, São Paulo und Mexiko-City (beide über 20 Millionen), Mumbai, Kalkutta oder Jakarta. Schon heute ist die „gefühlte Urbanisierung” größer als die gezählte und statistisch gemessene.
Teilhard de Chardin hat diesen Prozess anschaulich beschrieben als eine Evolution, in der die Menschheit immer größere und kompliziertere Moleküle bildet. Die Megastädte sind der räumliche Ausdruck hiervon, das Internet ist das globale „neuronale”, kommunikative Netzwerk.
Was stellt das für Fragen an die Forschung, an die politischen Gestalter, die Planer, die Architekten, die Designer und die Künstler, die unsere Welt mit neugierigen Augen und unbequemen Fragen begleiten und die urbanen Welten gestalten wollen?
Drei ganz verschiedene Bilder zeigen sich. Über dem ersten, fast allen Ländern auf unserem Globus gemeinsamen Bild prangt ein großes Fragezeichen. Was geschieht mit den ländlichen Räumen, aus denen die Menschen in Scharen abwandern? Das ist das Phänomen der „entleerten Räume” in Nord-Schweden genauso wie in Nord-China. Nur wenige dieser Räume werden als „Urban-Komplementäre” für Freizeit, Muße und romantischen Kontrast für das städtische Leben, sozusagen als „großräumige Schrebergärten”, in akzeptabler Distanz zu den urbanen Zentren eine neue Funktion finden. Die übrigen Räume gehen wegen „Nichtgebrauch” zurück an die Natur. Manche können noch der großflächigen Produktion von Biokraftstoffen dienen.
In den beiden Bildern, die die Überschrift Stadt tragen, sehen und erleben wir zwei sehr gegensätzliche Entwicklungen. Da ist die „Europäische Stadt”: Viele von ihnen erscheinen uns schön, weithin sorgfältig gestaltet, mit historischen Stadtkernen und alten qualitätsvollen Wohnquartieren, gepflegten Grünflächen, sauberen öffentlichen Einrichtungen und breiten Verkehrsangeboten. Ihr Leitbild: „Museum” – mit einigen wenigen modernen städtebaulichen Leuchttürmen. Ein Vorrang für die Rekonstruktion alter Strukturen und Gehäuse, in ständigem Konflikt mit den sich schenll wadnlnden Nutzungen und Ansprüchen – und vor allem gefährdet durch einen schnellen und weithin verdrängten Bevölkerungsschwund. Die sichtbaren Folgen: Leerstände bei den Wohnungen und Leerfallen von Industrie- und Gewerbebauten. Die digitale Bohème braucht zum Produzieren keine aufwändigen Büros, sondern nur den Internetzugang. Öffentliche Einrichtungen verlieren ihre Nutzer. Die „perforierte Stadt” nennt Tom Sieverts diese Stadtentwicklung.
Ganz anders das Bild der wuchernden und ausufernden neuen Mega-Cities in der Dritten Welt wie eben São Paulo, Shanghai, Dubai, Neu-Delhi oder Nairobi. Wie MacDonals pflanzen die großen namenhaften Architektur-Büros ihre typischen hoch aufgeschossenen Duftmarken rund um den Globus in diese expansiven Stadträume – oder Stadtwüsten. Jede will ihren Foster- oder Libeskind-Bau. Darunter und dahinter entsteht ein enges, explosives Gemenge von fast unanständigem materiellen Reichtum und empörender Armut. Eine „Gleichzeitigkeit von Hypermoderne und Rückständigkeit” (Magdalene Kröner) mit neu enstehenden „Räumen, in denen Erinnerung und Geschichte lediglich illustrative Funktionen eingeräumt” werden und in denen ein so wesentliches Element städtischer Kultur – noch – fehlt, das engagierte Bürgertum. Unter- und außerhalb der mehr oder weniger glanzvollen und ordentlich organisierten offiziellen Welten herrschen Schwarzarbeit und kriminelle Strukturen als allgegenwärtige Bedrohung, permanent überlastete Verkehrs- und Kommunikationsstrukturen (Beispiel Peking) und eine gesundheitsschädigende Belastung der Stadtluft durch Lärm, Feinstaub und andere Emissionen. Hier gilt nicht mehr „Stadtluft macht frei” sondern „Stadtluft macht krank”.
Wo immer Künstler helfen können, die Augen zu öffnen und die sozialen und ökologischen Unverträglichkeiten zu erkennen, und wo Forschung beitragen kann, die erkannten Nachteile zu lindern oder gar zu verhindern, dort macht es Sinn, mit kritischer Vernunft aktiv zu werden. Dazu will die Schader-Stiftung auch mit dieser Ausstellung einen Beitrag leisten.
Der Autor: Prof. Dr. Heik Afheldt ist freier Publizist und Wirtschaftsberater und Honorarprofessor an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Er war Mitglied und von 2003 bis 2008 Vorsitzender des Kuratoriums der Schader-Stiftung.
Der Beitrag erschien zuerst im Katalog zur 2. gemeinsamen Ausstellung „Feldforschung Stadt > 29 Antworten” des Hessischen Landesmuseums Darmstadt und der Schader-Stiftung in der Reihe „Bilder gesellschaftlichen Wandels”.