Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung
Artikel vom 09.05.2005
Aus dem Zusammenwirken von drei Veränderungen, nämlich durch die wachsende Arbeitslosigkeit, die Finanznot der Städte sowie den Rückzug des Staates aus der Wohnungsversorgung, ergeben sich in den Großstädten Konzentrations- und Ausgrenzungsprozesse in Gestalt einer stärkeren sozialen Segregation, also einer stärkeren Sortierung der Wohnbevölkerung nach Einkommen, Lebensstil und Nationalität in verschiedenen Quartieren.
Kennzeichen benachteiligter Stadtquartiere
Diese marginalisierten Quartiere sind durch wirtschaftliche Schwäche, politische Benachteiligung sowie städtebauliche Mängel gekennzeichnet. Die ökonomische Schwäche drückt sich darin aus, dass in diesen Quartieren überdurchschnittlich viele Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und Bezieher von Wohngeld leben. Politisch benachteiligt sind die Quartiere insofern, als viele Bewohner keinen deutschen Pass besitzen und somit von politischer Partizipation weitgehend ausgeschlossen sind. Städtebauliche Mängel treten beispielsweise in Form zu dichter Bebauung, schlechter Bausubstanz vieler Wohnungen oder durch zu wenige Grünanlagen zutage. (vgl. Ottersbach 2003: 34f)
Ursachen von Konzentrationsprozessen in wachsenden und schrumpfenden Städten
"Während in wachsenden Städten Segregationsprozesse durch die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt über Verdrängung erfolgen, lässt sich in schrumpfenden Städten eine zunehmende Polarisierung der Bevölkerung nach der sozialen Lage durch eine gänzlich andere Entwicklung feststellen. In schrumpfenden Städten wird die räumliche Segregation bzw. soziale Polarisierung durch selektive Wanderungen verstärkt: Zum einen durch die sozial selektive Abwanderung aus der Kernstadt in die Umlandregionen und zum anderen durch sozial selektive Binnenwanderungen innerhalb der Städte. (...) Eine erhöhte Wohnungsleerstandsquote und sinkende oder stagnierende Mieten begünstigen eine stärkere Fluktuation innerhalb der Stadt, da Haushalte mit ausreichendem Einkommen auch ohne großen finanziellen Mehraufwand und Zeitaufwand ihre Wohnsituation durch einen innerstädtischen Umzug verbessern können."
Abstieg durch Mobilitäts- und Fahrstuhleffekt
Selbst wenn dieser sogenannte Mobilitätseffekt ausgeschlossen wird, es also keine Zu- und Fortzüge gibt, kann aus einem ehemaligen Arbeiterviertel ein Armutsquartier werden: Der "Fahrstuhleffekt" beschreibt eine Situation, in der infolge des Strukturwandels die ansässige Bevölkerung kollektiv "absteigt". Dafür gibt es in den Großstädten heute viele Beispiele: "Gebiete, in denen vorwiegend gering qualifizierte Industriearbeiter gewohnt haben ("Arbeiterviertel"), erleben einen kollektiven Abstieg dadurch, dass die Fabrikarbeitsplätze verschwunden und die Arbeiter arbeitslos geworden sind. Plakativ formuliert: Aus einem Arbeiterquartier wird dann ein Arbeitslosenquartier." (Häußermann 2000: 17)
Prototypen "sozialer Brennpunkte"
In den vergangenen Jahren haben sich zwei Prototypen von benachteiligten Quartieren herausgebildet: die innerstädtischen oder innenstadtnahen (Altbau-)Quartiere sowie die an der Peripherie der Städte gelegenen Trabanten- oder Großwohnsiedlungen der 60er bis 80er Jahre. Bei den Altbauquartieren ist häufig die Schließung eines ortsansässigen Großunternehmens der Auftakt für den sozialen Niedergang gewesen. Allerdings lässt sich beobachten, dass der Rückzug deutscher Unternehmen in den vergangenen Jahren teilweise durch vielfältige Investitionen von ausländischen Selbstständigen aufgefangen wird. Jenseits der anfänglichen Nischenökonomie sind hier häufig Versorgungsstrukturen entstanden, die sich an alle Bewohner richten und deren multikultureller Flair oftmals auch Bewohner anderer Stadtteile anzieht.
Eine solche Stabilisierung des Quartiers, insbesondere durch Selbsthilfepotenziale der Migranten, ist in den randstädtischen Großwohnsiedlungen in der Regel nahezu ausgeschlossen. Die architektonisch wenig anspruchsvollen, mehrgeschossigen Häuser, häufig verkehrstechnisch schlecht angebunden, sind seit jeher bloße Schlafsilos gewesen, in denen eine Nutzungsmischung von Wohnen und Arbeiten weitestgehend unmöglich ist. Selbst wenn Einzelhandelsläden baulich eingeplant worden sind, stehen sie meist leer und verstärken das Bild allgemeiner Verödung und Vernachlässigung des Stadtteils.
Die Großwohnsiedlungen sind für ein Modell von Leben und Arbeiten gebaut worden, das in der Zeit der fordistischen Produktion Geltung beanspruchen konnte, dessen Bedeutung aber abnimmt. Die Quartiere wurden entworfen für die "Normalfamilie", deren männlicher Ernährer tagsüber abwesend ist. Soweit die Lebensweise der heutigen Bewohner diesem Modell, nämlich der zeitlichen und räumlichen Trennung von Wohnen und Arbeit, weiterhin entspricht, sind sie auch meist mit ihrer Wohnsituation zufrieden. Diejenigen indes, die sich in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit dort nun auch tagsüber aufhalten müssen, finden meist weder Aufenthaltsorte noch Betätigungsmöglichkeiten.
Quartierseffekte: vom benachteiligten zum benachteiligenden Wohngebiet?
In der Stadtsoziologie geht man der Frage nach, ob von den marginalisierten Quartieren Effekte ausgehen, die die Ausgrenzungssituation ihrer Bewohner verschärfen oder ob sie - im Gegenteil - sogar Ansatzpunkte bereithalten, dieser Ausgrenzung zu begegnen. Dem Wohnumfeld kommt insofern eine besonders große Rolle zu, als Arbeitslose und Arme in der Reichweite ihrer sozialen Beziehungen stärker auf ihr Quartier angewiesen sind als finanziell Bessergestellte oder Erwerbstätige. Ihre Mobilität und ihr Aktionsradius ist gewöhnlich geringer, zudem können sie sich dem Quartier aufgrund ihrer geringen Marktmacht nur schwerlich durch Umzug entziehen. Kronauer und Vogel (2001) betrachten die Auswirkungen eines Quartiers auf die soziale Lage seiner Bewohner unter zwei Gesichtspunkten: zum einen als Ressource, zum anderen als sozialen Erfahrungsraum.
Vor allem zwei Arten von Ressourcen erscheinen ihnen relevant:
- unterstützende soziale Netze und
- institutionelle Angebote.
Im Hinblick auf die sozialen Netze sorgt bereits die Ausgrenzung vom Erwerbsleben dafür, dass sich die Kontakte zu erwerbstätigen Personen verringern. Durch diese Reduktion von Kontakten auf Menschen in gleicher sozialer Lage gehen zum einen wichtige Informationen über potenzielle Stellenangebote verloren, zum anderen schwinden die Möglichkeiten zu gegenseitiger materieller Hilfe.
Institutionelle Angebote im Quartier, die nach Kronauer und Vogel Auswirkungen auf die Lebensqualität in Armutsquartieren haben können, betreffen vor allem die Erreichbarkeit des Quartiers (mit öffentlichen Verkehrsmitteln) sowie die Quantität und Qualität von Dienstleistungen am Ort. Dazu zählen die Schule, medizinische Versorgung sowie Beratungsstellen und Freizeitangebote. (Kronauer/ Vogel 2001: 45f) Die Forscher Gestring und Janßen (2002) sprechen hier von materiellen Effekten des Quartiers- je besser die Versorgung der Anwohner ist, desto eher besteht die Möglichkeit, dass auch Gebietsfremde angezogen werden und so eine Isolation der Nachbarschaft vermieden wird.
Das Quartier als Erfahrungsraum
Die zweite Dimension nach Kronauer und Vogel beschreibt das Quartier als Erfahrungsraum. Negativ betrachtet, kann das Leben im Armutsquartier bedeuten, im Gefühl bestärkt zu werden, von der Außenwelt stigmatisiert und ausgeschlossen zu sein. Das Bestreben, sich selbst noch als überlegen zu stilisieren, kann dabei mit dem Versuch einhergehen, sich gegen die vermeintlich Schlechtergestellten - die Ausländer, die Alkoholiker etc. - vehement abzugrenzen. Als weiterer negativer Quartierseffekt wurde von Wilson (1987) angeführt, dass Jugendlichen in Quartieren, in denen erwerbstätige Erwachsene eine Randerscheinung darstellen, ein positives Rollenvorbild für die Orientierung auf Arbeit fehlt.
Ein noch weiter gehendes Argument für die ausgrenzende Wirkung eines benachteiligten Quartiers wurde bereits 1961 von Lewis aufgezeigt und findet sich bis heute in der stadtsoziologischen Diskussion wieder: Als Bestandteil einer "Kultur der Armut" seien in benachteiligten Nachbarschaften Verhaltensweisen funktional und daher verbreitet, die sich bei Kontakten mit der Mehrheitsgesellschaft als kontraproduktiv erweisen. Für Gestring und Janssen zählt diese Dimension zu den sozialen Effekten des Quartiers.
Zu diesen sozialen Effekten zählt auch, dass die Bildungschancen von Kindern aus sozial benachteiligten Familien erheblich eingeschränkt sind. Dies haben nicht nur die Ergebnisse der PISA-Studie deutlich gemacht, sondern auch eine Studie der Arbeiterwohlfahrt, die sich im Februar 2003 mit "Armut im frühen Grundschulalter" auseinander gesetzt hatte.
Dass das Wohngebiet Einfluss auf das Verhalten der Bewohner hat, wenn die Bewohner einen großen Teil ihrer Zeit im Gebiet verbringen und wenn sie wenige Bekannte haben, bestätigen auch Untersuchungen von Blasius und Friedrichs. Die Kölner Soziologen haben die Akzeptanz für abweichendes Verhalten in verschiedenen benachteiligten Stadtteilen untersucht. Gefragt wurde nach den sozialen Normen im Gebiet, z.B. ob es vorkommt, dass ein Nachbar Kinder beschimpft, eine Frau sexuell belästigt, eine Ausländerin beschimpft, ein 15jähriges Mädchen schwanger wird, jemand im Wohnviertel betrunken ist, ob jemand trotz Sozialhilfe eine Putzstelle annimmt. Diese Verhaltensweisen kommen nach Aussagen der Befragten in allen Wohngebieten vor, wenngleich in unterschiedlichem Maße. "Je stärker das Gebiet benachteiligt ist, desto größer ist die Billigung abweichender Verhaltensweisen, insbesondere solcher, die eine Aggression gegen Personen aufweisen." (Friedrichs/ Blasius 2000: 195)
Gestring und Janßen machen zudem politische Benachteiligungseffekte für die Stadtteile aus: Die Organisations- und Konfliktfähigkeit der Bewohner ist nur gering. Insbesondere die ausländischen Bewohner sind in Ermangelung der deutschen Staatsbürgerschaft sowie aus sprachlichen Gründen von der Partizipation ausgeschlossen, doch auch bei den deutschen Bewohnern zeigt sich zumeist eine unterschichtstypische politische Abstinenz. Auf der symbolischen Ebene sorgt die öffentliche Stigmatisierung des Quartiers für eine geringe Identifikation mit dem eigenen Wohnumfeld.
Auf der positiven Seite kann das marginalisierte Quartier aber auch einen Schutzraum darstellen, in den man sich mit seinesgleichen zurückzieht. Darin, inwieweit das Quartier jedoch als Unterstützung wahrgenommen wird, unterscheiden sich gerade in den monofunktionalen Großwohnsiedlungen Männer und Frauen ganz erheblich. Die arbeitslosen, oft alleinerziehenden Frauen finden im Quartier gewöhnlich ein gut ausgebautes Netzwerk sozialer Einrichtungen vor, die ihren Bedürfnissen entgegen kommen. Staatliche und private Initiativen richten sich vor allem an Frauen und Kinder. Für die arbeitslosen Männer wird das Quartier hingegen leicht zum Ort der Isolation, dem nur noch mit dem Rückzug in die eigenen vier Wände begegnet werden kann.
Literatur und Links
Alisch, Monika/ Dangschat, Jens 1998: Armut und soziale Integration. Strategien sozialer Stadtentwicklung und lokaler Nachhaltigkeit. Opladen: Leske + Budrich
Böhme, Christa/ Becker, Heidede/ Meyer, Ulrike/ Schuleri-Hartje, Ulla-Kristina/ Strauss, Wolf-Christian 2003: Handlungsfelder integrierter Stadtteilentwicklung, Deutsches Institut für Urbanistik
Friedrichs, Jürgen/ Blasius, Jörg 2000: Leben in benachteiligten Wohngebieten. Opladen: Leske + Budrich
Gestring, Norbert/ Janssen, Andrea 2002: Sozialraumanalysen aus stadtsoziologischer Sicht. In: Riege, Marlo/ Schubert, Herbert (Hrsg.): Sozialraumanalyse. Grundlagen - Methoden - Praxis. Opladen: Leske + Budrich, S. 147-160
Hanesch, Walter 2001: Armut und Integration in den Kommunen. In: DfK, 2001/I, S. 27-47
Härtig, Volker 2004: Abkehr von der Gießkanne. Über die Entwicklung im Sozialen Wohnungsbau. In: Bauwelt, Nr. 19/ 2004, S. 22-23
Häußermann, Hartmut 2000: Die Krise der "sozialen Stadt". In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10-11/ 2000, S. 13-21
Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen des Landes Nordrhein-Westfalen (ILS NRW)/ LEG Arbeitsmarkt- und Strukturentwicklung GmbH 2003: Belegungsmanagement in der integrierten Stadt(teil)entwicklung, Dokumentation des Fachgesprächs am 11. Dezember 2003 in Dortmund
Krings-Heckemeyer, Marie Therese 1998: Neue Herausforderungen für die Wohnungswirtschaft. In: Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Hessen (Hrsg.) 1998: Materialsammlung zur Tagung "Soziale Stadterneuerung" am 5. und 6. November 1998 in der Evangelischen Akademie Arnoldshain, S. 35-57
Kronauer, Martin/ Vogel, Berthold 2001: Erfahrung und Bewältigung von sozialer Ausgrenzung in der Großstadt: Was sind Quartierseffekte, was Lageeffekte? In: SOFI-Mitteilungen, Nr. 29/2001, S. 45-58
Krummacher, Michael/ Kulbach, Roderich/ Waltz, Viktoria/ Wohlfahrt, Norbert 2003: Soziale Stadt - Sozialraumentwicklung - Quartiersmanagement. Herausforderungen für Politik, Raumplanung und soziale Arbeit. Opladen: Leske + Budrich
Lewis, Oscar 1961: The children of Sanchez. New York: Random House
Ottersbach, Markus 2003: Die Marginalisierung städtischer Quartiere in Deutschland als theoretische und praktische Herausforderung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B28/2003, S. 32-39
Wilson, William Julius 1987: The truly disadvantaged. Chicago, London: The University of Chicago Press