Susanna Hertrich – Fiktionen und Sinnesapparate
Artikel vom 08.03.2017
Laut der transhumanistischen Vision sollen Technologien in der Zukunft die komplette Neugestaltung des menschlichen Daseins ermöglichen – medizinische, prothetische und genetische Eingriffe sollen ewige Jugend und die Aufhebung natürlicher Grenzen von Intelligenz und ungewollter psychologischer und physischer Einschränkungen mit sich bringen. Kurz: eine goldene Zukunft, in der die menschliche Evolution überwunden und Konzepte wie „Schicksal” bezwungen sein werden. Von Daniela Silvestrin
Alternative Zukunftsszenarien
„Früher hatten die Menschen Angst vor der Zukunft. Heute muss die Zukunft Angst vor den Menschen haben.” Was den Aphoristiker Werner Mitsch zum Niederschreiben seines Gedankens bewegte, waren wahrscheinlich weniger diese Träume und Visionen der in den 90er Jahren entstandenen transhumanistischen Bewegungen als eher das, was viel allgemeiner seit Mitte des letzten Jahrhunderts zu beobachten ist: Rasanter Fortschritt in Wissenschaft, Forschung und Entwicklung, welcher in immer kürzeren Abständen neue Möglichkeiten mit sich bringt, die vor kurzem noch unvorstellbar schienen. Im Gefolge dieser rapid entstehenden neuen Errungenschaften finden sich jedoch unvermeidlich immer auch sich daraus entwickelnde Schwierigkeiten und Unfälle neuer Natur und neuen Ausmaßes – ein Phänomen, das beispielsweise von dem Philosophen Paul Virilio unter den Begriffen der Dromologie und Grey Ecology analysiert wird, einer Kulturtheorie und -kritik, die die Geschichte und Conditio Humana unter Gesichtspunkten des Geschwindigkeitswahns, des Einflusses der neuen Medien und Technologien auf die Gesellschaft und daraus entstehender Unfälle neu schreibt.
Susanna Hertrich bezieht sich in ihrer Arbeit auf Phänomene und Fragestellungen, die sich aus den gesellschaftlichen und ökologischen Situationen unserer Zeit für uns direkt und indirekt ergeben. Mit welchen neuen Herausforderungen sehen wir uns konfrontiert? Was kann uns dabei helfen, ein ausgeprägteres Problembewusstsein zu entwickeln, um schon vorab neue Gefahr- und Konfliktpotenziale zu erkennen, anstatt nachträglich Schadenbegrenzung zu betreiben? Wie wollen wir künftig leben?
Hertrich vereint in ihrer Arbeit Kunst und wissenschaftliche Forschung, um durch die Verbindung aber auch Gegenüberstellung der jeweiligen Methoden und Blickwinkel neue Ansätze für Fragestellungen und Ideen für alternative Zukunftsszenarien zu schaffen. Ausgangspunkt ihrer Arbeiten sind daher beispielsweise Überlegungen, dass unsere natürliche Fähigkeit, Mitgefühl zu entwickeln und emphatisch zu reagieren, durch die täglich auf uns einprasselnden traurigen Nachrichten (von Umweltkatastrophen, Kriegen, Unfällen und generell menschlicher Gewaltbereitschaft) zunehmend abstumpft. Gleichzeitig hat die Natur uns für viele der neu entstandenen Gefahr- und Problemsituationen nicht ausreichend mit Wahrnehmungsmöglichkeiten, Instinkten und Reaktionsspektren ausgestattet. Neue Stimuli und neue Situationen erfordern die Aneignung neuer Fähigkeiten, fehlende psychologische und physiologische Fähigkeiten erfordern deren Stimulation und Training.
„Upgrades“ des menschlichen Wesens
Hertrichs Prothesen, die auf der Basis von „Was wäre, wenn…?”-Fragen entstehen, stellen somit Hinweise auf und Kritik an menschlichen, gesellschaftlichen oder ökologischen Missständen dar. Ihr teils funktionaler und fiktionaler Objektcharakter lässt die Arbeiten aber darüber hinaus gehen und eröffnet neue Reflexionshorizonte: Wie würde sich die Erweiterung unserer Sinne auf unser Handeln auswirken – und könnten wir dadurch zu besseren Menschen werden? In dem von ihr genau austarierten Zusammenspiel von ausgewählten Materialien, ästhetischen Qualitäten, Funktionalität, Technologie und Wissenschaft geht es in Hertrichs Arbeit nicht um das Spekulieren über Szenarien einer Zukunft der „Besser-Schneller-Stärker”-Zielsetzungen, sondern vielmehr um ein Spekulieren über verschiedene Möglichkeiten zur Entwicklung von Zukunftsvarianten für und durch alternative Sicht- und Handlungsweisen. Historische Bezüge für die Entwicklung solch kritischer künstlerischer Praktiken sind unter anderem bei den Methoden und Zielen avantgardistischer, radikaler Kunst- und Architekturbewegungen der 60er und 70er Jahre zu finden. Architekten und Künstler wie Archizoom, Superstudio, Haus-Rucker & Co oder auch Krzysztof Wodiczko erarbeiteten kritische, radikale, nicht gewinnorientierte Gestaltungen mit sozialem oder politischem Inhalt und Nutzen, um Raum für Diskussion und Reflexion zu schaffen. Vor diesem Hintergrund und bei Gegenüberstellung ihrer Arbeiten mit den Diskursen, Prothesen und Implantaten der Do-It-Yourself Grinder-Bewegung wird der Kontrast zwischen den Ansätzen des transhumanistischen „enhancing“ (zu Deutsch: steigern, erweitern) und denen Hertrichs, die eher einem „altering“ (zu Deutsch: verändern, umfunktionieren) entsprechen, deutlich. Während „Human Upgrading” im ersteren Fall den Fokus auf zukunftsgerichtete Produktentwicklung, Anwendbarkeit und Funktion für den Einzelnen legt, handelt es sich bei letzterem um das noch darüber hinausgehende Erforschen von Alternativ-Szenarien im Bewusstsein der Schwachstellen der heutigen Handlungs- und Denkautomatismen. Sowohl zukunftsorientiert als auch gegenwarts- und kontextbewusst spekuliert Hertrich zu „Upgrades” des menschlichen Wesens, nicht nur des menschlichen Körpers.
Hertrichs Prothesen-Objekte stehen immer auch in Bezug zu aktuellen wissenschaftlichen Studien und entstehen oftmals in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern, Ingenieuren und Forschungslabors. Die Entwicklung und Realisierung ihrer Arbeiten wird somit zur eigenständigen, künstlerischen Forschung, die also solche generell Teil der final präsentierten Objekte ist: Mithilfe der Fragestellungen und Werkzeuge wissenschaftlicher Forschung, aber aus dem Blickwinkel künstlerischen Denkens, tragen die Arbeiten von Hertrich in ihrer Entwicklung und Umsetzung eigenständig zur Wissensproduktion auf einer sowohl der Kunst als auch der Wissenschaft übergeordneten Ebene bei. Susanna Hertrichs Kunst agiert damit als das, was der Kommunikations- und Medientheoretiker Marshall McLuhan „Kunst als Radar” bezeichnet hat – ein „frühes Alarmsystem, das uns ermöglicht, soziale und psychologische Schwachstellen weit im Voraus zu erkennen, um uns auf die Auseinandersetzung damit vorzubereiten … diese Radar-Eigenschaft der Kunst übernimmt die Funktion eines unersetzlichen Wahrnehmungs-Trainings.”
Die Autorin: Daniela Silvestrin lebt und arbeitet in Berlin. Als Kuratorin und Kulturmanagerin forscht und publiziert sie an der Schnittstelle von Kunst, Naturwissenschaft und Recht. Der Fokus ihrer Arbeit liegt auf der kritischen Auseinandersetzung mit den Implikationen neuer Technologien aus künstlerischer Perspektive und deren Beitrag zur allgemeinen Wissensproduktion.
Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Ausstellung „Human Upgrade“, die vom 14. Oktober 2016 bis 5. März 2017 in der Galerie der Schader-Stiftung gezeigt wurde.
Zum Weiterlesen
Marshall McLuhan 2002: Understanding Media - The Extensions of Man (Critical Edition). Corte Madera, CA: Gingko Press.
Paul Virilio 2008: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie. Berlin: Merve.
Paul Virilio 2010: Grey Ecology. New York: Atropos Press.