Globale Menschenrechte und Solidarität
Artikel vom 04.08.2016
Eine Gesellschaft braucht Menschen, die sich ihrer Rechte bewusst sind, zugleich aber auch füreinander solidarisch eintreten. Den Denkern der Aufklärung, die auf die Trias Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aufbauen, ist zuzustimmen. Wir sollten Brüderlichkeit und Solidarität nicht aus den Augen verlieren. Von Angelika Nußberger
Brüderlichkeit und Solidarität als vergessenes Erbe der Aufklärung?
„Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“
So poetisch hat Friedrich Schiller in seiner Ode an die Freude von der Brüderlichkeit gesprochen. Damit greift er den Schlüsselbegriff der französischen Menschenrechtsbewegung auf, der neben „liberté“ und „égalité“ ihre dritte Säule bildet und zugleich ein Bindeglied zwischen eben jenen Werten darstellt. „Solidarität“ meint im Grunde dasselbe wie „fraternité“ oder Brüderlichkeit, ist aber weniger pathetisch; das eine ist beschreibender Begriff, das andere Metapher; beides drückt eine Grundhaltung der Verbundenheit und des Füreinander-Einstehens aus.
Freiheit und Gleichheit sind in eine Vielzahl von Verfassungstraditionen eingegangen und haben „Karriere“ gemacht. Wie steht es aber um das dritte Element, die Brüderlichkeit, die Solidarität? Ist sie verlorengegangen? Ist gerade dies ein Charakteristikum der Menschenrechtsidee des „Westens“, in der die Selbstverwirklichung und das Individuum in den Mittelpunkt gestellt und der Einzelne gelehrt wird, für seine Rechte zu fechten, nicht aber, sich für das Wohlergehen der anderen einzusetzen?1 Otto Depenheuer spricht in diesem Zusammenhang von einer „Grundrechtsdogmatik, die strukturell auf die Erschließung und Sicherung immer weiterer Selbstentfaltungsoptionen des Individuums gerichtet ist und deshalb apriorischen Solidaritätsverpflichtungen fremd und sprachlos gegenüberstehen muss.“2 Es scheint, als werde das soziale Element entweder vergessen oder aber institutionalisiert, in dem der Sozialstaat die Solidarität ersetzt. Stimmt diese Kritik? Welchen Beitrag kann die Rechtsprechung zu Menschenrechten zur Solidarität in der Gesellschaft leisten? Fördert sie Egoismus oder fördert sie Solidarität? Hat das in Europa vernachlässigte Element der „Brüderlichkeit“ und Solidarität über die außereuropäischen Traditionen erneut in den internationalen Menschenrechtsschutz Eingang gefunden?
Das sind die Fragen, die ich in meinem kurzen Referat zu beantworten versuchen will. Dabei möchte ich zunächst einen Blick auf die verschiedenen Traditionsstränge werfen, die europäische der außereuropäischen Tradition gegenüberstellen und mit dem, was wir als „universelle Tradition“ bezeichnen, abgleichen. Sodann interessieren mich die verschiedenen Formen von Solidarität, individuelle, institutionelle und zwischenstaatliche Solidarität. Abschließend möchte ich am Beispiel eines Falls aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte diskutieren, auf welche Weise die Menschenrechtsprechung zur Stärkung von Solidarität in der Gesellschaft beitragen kann.
Solidarität und Brüderlichkeit als wesentliche Elemente der Menschenrechtsidee
Europäische Menschenrechtstradition
Die Europäische Menschenrechtstradition, deren Ursprünge bis zurück zum Jahr 1215, zur Magna Carta reichen, ist vielfältig und facettenreich. Einen dominanten Einfluss hatten die Ideen der Aufklärung. Im Folgenden soll als pars pro toto ein Blick auf die deutsche und französische Verfassungstradition geworfen werden. Besonders aussagekräftig für „europäisches Rechtsdenken“ ist zudem die 1950 in Form eines völkerrechtlichen Vertrags ausgearbeitete Europäische Menschenrechtskonvention.
Französische Verfassungstradition
Auch wenn die Trias „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ untrennbar mit der französischen Revolution verbunden zu sein scheint, so hat das dritte Element, die Brüderlichkeit oder Bruderliebe, doch nur vergleichsweise wenig Spuren in den frühen französischen Verfassungstexten hinterlassen. In die Menschenrechtserklärung von 1789 wurde der Begriff nicht explizit aufgenommen. Er figuriert erstmals im Vorwort zur Verfassung von 1848 als „allgemeines Prinzip“. So wird die Republik mit folgenden Worten beschrieben:
„Sie hat als Prinzip: Freiheit, Gleichheit und Bruderliebe, und als Basis: die Familie, die Arbeit, das Eigenthum und die öffentliche Ordnung.“
Die Mitwirkung des Einzelnen am staatlichen Wohlergehen wird auch konkret erläutert:
„Die Bürger sollen das Vaterland lieben, der Republik dienen, sie um den Preis ihres Lebens vertheidigen, sich an den Staatslasten nach dem Verhältniß ihres Vermögens betheiligen; sie sollen sich durch die Arbeit die Mittel ihrer Existenz sichern, und durch Voraussicht ihr Auskommen für die Zukunft; sie sollen mitwirken zur gemeinsamen Wohlfahrt, durch gegenseitige brüderliche Unterstützung, und zur Ordnung des Ganzen beitragen, durch Beobachtung der sittlichen Gebote und der geschriebenen Gesetze, welche die Gesellschaft, die Familie und das Individuum regieren.“
Auch bei der Beschreibung der sozialen Dimension wird die Brüderlichkeit zitiert:
„Die Republik soll den Bürger in seiner Person, seiner Familie, seiner Religion, seinem Eigenthum, seiner Arbeit beschirmen, und den für alle Menschen unentbehrlichen Unterricht Jedem zugänglich machen; sie soll, durch brüderlichen Beistand, die Existenz der bedürftigen Bürger sichern, sei es, daß sie ihnen Arbeit, innerhalb der Grenzen ihrer Mittel schafft, sei es, daß sie, in Ermanglung der Familie, denen Unterstützung gewährt, welche arbeitsunfähig sind.“ Die gegenwärtig gültige Französische Verfassung aus dem Jahr 1958 spricht in der Präambel vom „gemeinsamen Ideal der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“.
Deutsche Verfassungstradition
Anders dagegen ist die deutsche Verfassungstradition. Weder Solidarität noch Brüderlichkeit werden im Grundgesetz erwähnt. Dennoch legt das Bundesverfassungsgericht seiner Rechtsprechung nicht das Menschenbild eines isolierten Individuums zugrunde, sondern sieht „die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinn der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.“3 Weiter führt das Bundesverfassungsgericht aus:
„Dies heißt aber: Der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, dass dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.“4
Auch wenn diesem Verständnis die Idee der Brüderlichkeit zugrunde liegen mag, so wird doch deutlich, dass der Begriff selbst in der deutschen Tradition nicht mit vergleichbarer Symbolkraft eingesetzt wird wie in Frankreich.
In der Europäischen Menschenrechtskonvention, die für 47 Staaten in Europa bindend ist, finden Solidarität und Brüderlichkeit keine Erwähnung. Ebenso wenig werden Pflichten des Einzelnen gegenüber Staat und Gesellschaft normiert.
Außereuropäische Menschenrechtstraditionen
Oftmals wird die Idee eines Schutzes der Menschenrechte als „made in Europe“ bezeichnet. Zugleich wird gegen die Vorstellung, die Menschenrechte seien universell, angeführt, es gäbe in den verschiedenen Kontinenten der Welt unterschiedliche Traditionen.
Um den mit diesen Vorstellungen einhergehenden Bedenken Rechnung zu tragen, wurde bei der Vorbereitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 das Wissen und Verständnis von nicht aus Europa stammenden Denkern einbezogen. In diesem Rahmen führte der chinesische Denker Chung-Suh Lo zu den „Menschenrechten in der chinesischen Tradition“ aus:
„Das grundlegende ethische Konzept der chinesischen sozialen politischen Beziehungen ist viel eher die Erfüllung der Pflicht gegenüber dem Nachbarn als die Einforderung von Rechten. Die Idee gegenseitiger Verpflichtungen wird als die fundamentale Lehre des Konfuzianismus erachtet.“5
Dieselbe Idee findet sich auch in einem berühmten Zitat von Mahatma Gandhi: „Ich habe von meiner weisen, aber analphabetischen Mutter gelernt, dass alle Rechte verdient werden müssen, indem man seine Pflichten wohl erfüllt. Selbst das Recht zu Leben bekommen wir nur, wenn wir die Pflicht der Bürgerschaft auf der Welt erfüllen. Von dieser einen grundlegenden Feststellung ist es leicht, die Pflichten von Männern und Frauen zu definieren und jedem Recht eine korrespondierende Pflicht, die zuerst erfüllt werden muss, gegenüberzustellen. Bei jedem anderen Recht kann man zeigen, dass es eine Usurpierung ist, für die es sich kaum zu kämpfen lohnt.“6
Es überrascht daher nicht, wenn sich in außereuropäischen Menschenrechtserklärungen eine andere Gewichtung des Elements der Brüderlichkeit findet. In der Afrikanischen Charta für Menschenrechte und Rechte der Völker wird den Pflichten des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft ein ganzes Kapitel gewidmet. Beispielsweise wird ausgeführt:
„Jedermann ist verpflichtet, seine Mitmenschen zu achten, sie ohne Diskriminierung zu betrachten und mit ihnen auf die Förderung, Bewahrung und Stärkung der gegenseitigen Achtung und Toleranz gerichtete Beziehungen zu unterhalten.“
„Jedermann hat darüber hinaus die Pflicht:
1. die harmonische Entwicklung der Familie zu schützen und für den Zusammenhalt und die Achtung der Familie zu arbeiten; seine Eltern jederzeit zu achten und sie zu unterhalten, wenn sie bedürftig sind;
2. seiner nationalen Gemeinschaft dadurch zu dienen, daß er ihr seine körperlichen und geistigen Kräfte zu Verfügung stellt.“
Universelle Menschenrechtstradition
Auf universeller Ebene hat man versucht, die verschiedenen in sich widersprüchlich scheinenden Traditionen miteinander zu verbinden. So findet sich die Brüderlichkeit an prominenter Stelle, in Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“
Darüber hinaus werden Pflichten normiert, auch wenn deren Erfüllung nicht, wie bei Gandhi gefordert, conditio sine qua non für die Zuerkennung von Rechten ist:
„Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist.“
In diesem Punkt unterscheidet sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wesentlich von der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Aus diesen Beobachtungen scheint sich die These abzuleiten, Solidarität wäre als ausschließlicher oder besonderer Beitrag der außereuropäischen Menschenrechtstradition zur universellen Menschenrechtstradition zu verstehen. Dieser Befund ist aber in mehrfacher Hinsicht zu relativieren. Zum einen ist das Element der Brüderlichkeit ein, wenn auch nicht dominantes, so doch, wie erläutert, bereits in der Aufklärung angelegtes Element der europäischen Tradition. Zum anderen spiegeln Dokumente wie die Europäische Menschenrechtskonvention nur einen Teil des Erbes und sind zusammen mit den sie ergänzenden Verbürgungen sozialer Rechte zu sehen. Aufgrund der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West hatte man die je unterschiedlich gewichteten Rechte, einerseits die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte, andererseits die Freiheitsrechte, in verschiedenen Dokumenten kodifiziert, nicht aber, ohne deren Unteilbarkeit zu betonen. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist so zusammen mit der, allerdings nur mit einem zahnlosen Durchsetzungsmechanismus versehenen, Europäischen Sozialcharta zu sehen. Und schließlich zeichnet sich die europäische Tradition auch dadurch aus, Solidaritätspflichten aus den Freiheits- und Gleichheitsrechten abzuleiten. Es wäre ein Fehlschluss anzunehmen, dass das, was nicht geschrieben ist, nicht existent wäre.
Dennoch aber bleibt es dabei, dass das explizite Bekenntnis zu Solidarität in außereuropäischen Texten besonders deutlich ist.
Verschiedene Formen von Solidarität
Grundsätzlich hat die Menschenrechtsidee eine vertikale Ausrichtung. Sie schützt den Einzelnen vor dem Staat im Rahmen einer Über-Unter-Ordnungsbeziehung. Solidarität wird dagegen grundsätzlich im horizontalen Verhältnis und damit im zwischenmenschlichen Verhältnis eingefordert. Von der individuellen Solidarität lässt sich aber eine institutionelle Solidarität und eine internationale Solidarität unterscheiden.
Individuelle Solidarität im zwischenmenschlichen Verhältnis
Solidarität und Brüderlichkeit wurden nicht von den französischen Aufklärern erfunden; vielmehr haben sie weit zurückreichende Wurzeln und wurden von ihnen nur auf ihr Schild gehoben. So lassen sich in Religion, Moralphilosophie und Psychologie umfassend Forderungen nach Solidarität und Brüderlichkeit nachweisen. Verschiedene Motivationen lassen sich unterscheiden.
Der Grundansatz geht auf die „Goldene Regel“ in der Ethik zurück, die, positiv formuliert, bedeutet, andere so zu behandeln, wie man selbst von den anderen behandelt werden will. Negativ formuliert ergibt sich die Sentenz „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“
Diese Haltung ist als „egoistisch“ zu erachten und funktioniert nach dem auch dem Vertragsrecht zugrunde liegenden Prinzip „do ut des“. Solidarität ist mit der Erwartungshaltung, im Ergebnis selbst zu gewinnen und abgesichert zu sein, verbunden. Dies ist aber nicht a priori nur negativ zu werten, insbesondere da es ein Sich-in-den-Anderen-Versetzen impliziert.
Diesem Modell steht ein religiöses Grundverständnis von Solidarität gegenüber, das auf der Idee der Nächstenliebe, so wie sie etwa in der biblischen Geschichte vom Barmherzigen Samariter zum Ausdruck kommt, aufbaut: „Dann geh und handle genauso“.7 Solidarisches Handeln entspringt hier nicht eigener Motivation und auch nicht der Erwartung, dass der andere ebenso handeln und das gute Handeln damit belohnen wird, sondern vielmehr der Überlegung, so zu handeln, „wie es Gott wohlgefällt“. In den biblischen Texten wird die Heilserwartung im Jenseits erfüllt; dort werden diejenigen die den Armen Gutes tun und mit ihnen solidarisch sind, die Gerecht-Leidenden, belohnt. Auch wenn dieser Ansatz in seiner Radikalität nicht (mehr) der Verkündung der christlichen Kirchen entspricht, ist das Element in den biblischen Erzählungen, etwa in der Lazarus-Geschichte, unmittelbar präsent.
In jedem Fall zählt Solidarität zusammen mit Personalität, Gemeinwohl und Subsidiarität zu den klassischen sozialphilosophischen Prinzipien der christlichen Lehre.
Schließlich lässt sich noch auf das Modell des Glücksgewinns zurückgreifen. So fördert solidarisches Handeln ein Gemeinschafts- und Glücksgefühl, wie es nicht zuletzt aus der Vielzahl von Berichten der Flüchtlingshelfer aufscheint, die davon Zeugnis ablegen, wie sie in ihrem Einsatz für die Flüchtlinge aus aller Welt Genugtuung und Erfüllung erlebt haben.
Dies bedeutet aber zugleich auch, dass zwischenmenschliche Solidarität mit Zwang nur bedingt durchsetzbar ist. Zwar können über Sanktionen bestimmte Handlungsweisen, etwa Unterstützungszahlungen für Eltern oder Kinder, eingefordert werden. Damit ist aber keine solidarische Einstellung erreichbar. Die Mittel des Rechts sind unzulänglich, wenn eine intrinsische Motivation fehlt, sich dem anderen zuzuwenden. Dies ist der Grund, warum entsprechende Postulate auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention, die sich als juristisches Instrument und nicht als abstraktes Wertebekenntnis versteht, nicht enthalten sind.
Institutionelle Solidarität
Die institutionelle Solidarität in Form des Sozialstaats ist in Deutschland nicht nur verfassungsrechtlich verankert, sondern seit der Bismarck-Zeit Realität. Die Gemeinschaft hat für den Einzelnen einzustehen und dafür infrastrukturelle Vorkehrungen zu schaffen. Solidarität wird hier vom Willen des einzelnen im Wesentlichen abgekoppelt. Die Mitgliedschaft in Sozialversicherungssystemen ist ebenso wie die Umverteilung über das Steuersystem obligatorisch. Hier wird die horizontal wirkende Idee der Brüderlichkeit wiederum ins Vertikale verkehrt, der Staat schafft ein alle Individuen umfassendes Sozialsystem, das auf der Grundlage rechtlicher Ansprüche abgesichert ist. Die Akzeptanz für das System wird gestützt durch das sich aus religiösen und moralischen Überzeugungen speisende Solidaritätsgefühl.
Internationale Solidarität zwischen Staaten
Nach Richard von Weizsäcker kann „nur eine solidarische Welt [...] eine gerechte und friedvolle Welt sein.“8 Dies bringt die Solidaritätsdiskussion von der individuellen und gesellschaftlichen Ebene auf eine dritte, auf die zwischenstaatliche Ebene. So ist in einer international verflochtenen, globalisierten Welt nötig, auch im internationalen Bereich in Notlagen, füreinander einzustehen, insbesondere humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe zu leisten. Dies gilt im Besonderen in einer engeren Staatengemeinschaft wie der Europäischen Union. Berühmtes Beispiel war die Griechenlandhilfe.
Auch hier mag man kritisch nachfragen, woher die Motivation für das solidarische Eintreten für andere kommt. Wie die juristischen Auseinandersetzungen um die Instrumente der Europäischen Zentralbank zur Stützung von Banken und allgemeine, weit reichende Umverteilungsmaßnahmen im Rahmen der Europäischen Union zeigen, wird Solidarität insoweit nicht nur nicht als selbstverständlich, sondern sogar als den eigenen, in der Verfassung niedergelegten Grundsätzen widersprechend erachtet.
Letztlich wird man wohl davon auszugehen haben, dass Staaten nicht uneigennützig solidarisch handeln, auch wenn die politischen Verlautbarungen dies nahelegen mögen. Vielmehr wird solidarische Verantwortung übernommen, wenn man sich in einer Gesamtbilanz Vorteile erhofft. So kann finanzielle Hilfe für andere Staaten geleistet werden, um Absatzmärkte zu schaffen oder die Zahl der (Wirtschafts-) Flüchtlinge zu reduzieren, aber auch aus machtpolitischen Erwägungen, weil man sich mehr Sicherheit oder mehr Einfluss erhofft. Ein bekanntes Beispiel wäre etwa die im Kalten Krieg geleistete Entwicklungshilfe. Entsprechende Motivationen können sich aber auch aus historischer Verbundenheit ergeben. So wird berichtet, einer der ärmsten Staaten der Welt, Äthiopien, habe bei einem Erdbeben in Chile eine, wenn auch kleine, Spende geschickt, da man eine viele Jahre zurückliegende Unterstützungsleistung vergelten wollte. Im Allgemeinen dürfte Altruismus in internationalen Beziehungen aber selten sein.
Beitrag der internationalen Menschenrechtsrechtsprechung zur Stärkung von Solidarität
Vor diesem Hintergrund gilt es nun zu fragen, welchen Beitrag europäische Menschenrechtsrechtsprechung, die Staaten zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet, zur Stärkung von Solidarität leisten kann.
Ausgangspunkt ist dabei, dass Menschenrechte „Jedermanns-Rechte“ sind. Die Kläger sind die „Erniedrigten und Beleidigten“ von Dostojewski, die sich gegen ihnen widerfahrenes Unrecht wenden, wie die Krankenpflegerin Heinisch, die auf Missstände in einem Pflegeheim aufmerksam gemacht hatte und daraufhin entlassen worden war. Sie hatte gegen die Bundesrepublik Deutschland geklagt, da die Arbeitsgerichte ihre Kündigung als gerechtfertigt angesehen hatten.9 Vor dem Gerichtshof gewonnen hat auch der Sicherungsverwahrte M., der geltend machte, nach Ablauf der Haftstrafe dürfe er nicht rückwirkend aufgrund einer neuen Regelung zur Sicherungsverwahrung weiter in Haft gehalten werden.10 Erfolgreich war etwa auch der Nigerianer Anayo, dem die Gerichte das Recht, seine Zwillinge zu sehen, verweigerten, da die Mutter der Kinder mit einem anderen Mann verheiratet war und sich dem Umgangsrecht des biologischen Vaters widersetzte.11
Es sind Kläger wie diese, die ihre Sorgen vor den Gerichtshof bringen, aber auch der Prinz von Monaco, die Kinder von Fußballtorwart Oliver Kahn und Günter Jauch. Es sind „Jedermanns-Rechte“; und dies wird ernst genommen.
Die Frage der Solidarität lässt sich besonders gut am Beispiel des Falles Campeanu gegen Rumänien12 erläutern. Der Junge hatte nichts von den Sonnenseiten des Lebens gesehen. Er war von seiner Roma-Mutter als Baby bei der Geburt ausgesetzt worden, hatte keinen Vater, war geistig behindert und zudem HIV-positiv. Bis zum Erreichen von 18 Jahren wurde er in rumänischen Kinderheimen erzogen, danach war niemand mehr wirklich für ihn zuständig, nicht das Kinderheim, da er volljährig war, nicht das Krankenhaus für AIDS-Kranke, da er geistig behindert war, und nicht die psychiatrische Anstalt, da sie keine AIDS-Kranken aufnehmen wollte. Völlig verwahrlost starb er kurz nach seinem 18. Geburtstag.
Seine Rechte konnte er nie vor Gericht geltend machen. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist für so einen Fall grundsätzlich nicht zuständig. Klagen können die Opfer, aber nur sie selbst. Dennoch hatte sich für ihn eine NGO eingesetzt, deren Mitarbeiter auf das Leiden von Valentin Campeanu kurz vor seinem Tod aufmerksam geworden war. Auch wenn die NGO grundsätzlich kein Mandat hatte, da sie nicht die Verletzung eigener Rechte geltend machen konnte, so machte der Gerichtshof doch eine Ausnahme, erkannte die Beschwerde für zulässig und stellte eine Verletzung der Rechte von Valentin Campeanu fest.
Der Fall zeigt damit die Möglichkeiten und Grenzen des Beitrags von Menschenrechtsrechtsprechung zu Solidarität auf.
Prämisse eines gerichtlichen Schutzes ist, sich wehren zu können. Grundproblem aber ist, dass diese Voraussetzung gerade für die Ärmsten, die am meisten der Solidarität und des Schutzes bedürfen, nicht zutrifft. Vielmehr ist es notwendig, dass ihr Leid „entdeckt“ wird und dass jemand den wirklich Benachteiligten seine Stimme leiht. Der ehemalige Verfassungsrichter Wolfgang Böckenförde hat in einem vielzitierten Ausspruch darauf verwiesen, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Dies könnte man übertragen und sagen, dass auch die Menschenrechtsidee von Voraussetzungen lebe, die sie selbst nicht garantieren könne. Denn sie baut auf die Solidarität der „anderen“, insbesondere der Nicht-Regierungsorganisationen und der Anwälte, die den Betroffenen oftmals unentgeltlich Vorarbeiten leisten müssen. Dazu werden keine Pflichten festgelegt. Das Schutzsystem, zumindest so wie es auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention verstanden wird, kann nicht garantieren, dass auch die Rechte der Schwächsten wirklich geltend gemacht werden können.
Besonders eklatant deutlich wurde dies an einem berühmten Fall, der in den 70er Jahren an den Gerichtshof gebracht wurde. Eine irische Frau, Mrs. Airey, die sich, nachdem eine Scheidung im irischen Recht nicht möglich war, um eine Trennung von Tisch und Bett von ihrem gewalttätigen und dem Alkohol verfallenen Ehemann bemühte, scheiterte daran, dass sie sich keine anwaltliche Vertretung am Obersten Gericht in Irland leisten konnte. Der Fall wurde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht, der aufgrund der Nicht-Gewährung von Prozesskostenhilfe in Irland eine Verletzung des Rechts auf Zugang zum Gericht monierte.13 Nun scheint es ein Widerspruch zu sein, dass die Betroffene sich keinen Anwalt in Irland leisten konnte, wohl aber vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertreten war. Wer auf Frau Aireys Leiden aufmerksam geworden und das Grundsatzproblem als Frage des europäischen Menschenrechtsschutzes verstanden und den Fall im Namen von Frau Airey nach Straßburg gebracht hat, wird aus der Entscheidung nicht ersichtlich. Ohne diese Hilfestellung aber wäre der Fall nicht vor den Europäischen Gerichtshof gelangt. Dies gilt auch für eine Vielzahl anderer Fälle von Menschen, die sich nicht selbst wehren können. So stehen Nicht-Regierungsorganisationen wohl hinter den meisten Beschwerden von Flüchtlingen, geistig Kranken oder auch von Romas. In einem jüngst vor der Großen Kammer verhandelten Fall wurde ersichtlich, dass die Rechtsanwältin den Kontakt zu ihren Mandanten, serbischen Romas, verloren hatte und sie nicht einmal von dem Kammerurteil informieren konnte. In diesen Fällen stellt sich die Frage für den Gerichtshof, ob er überhaupt berechtigt ist, die Sache weiter zu verhandeln.14 Das System, bei dem „Andere“ für diejenigen, die selbst keine Stimme haben, eintreten, birgt auch Gefahren des Missbrauchs. So war bei dem Fall von Vincent Lambert, bei dem es um das „Recht zu sterben“ für einen nach einem Unfall seit vielen Jahren im vegetativen Zustand befindlichen Patienten ging, eine der zentralen Fragen, wer ihn vertreten darf – seine Ehefrau, die dafür eintrat, dass es in seinem Sinne das Beste sei, sterben zu dürfen, oder seine Eltern, die auf ein Weiterleben um jedem Preis bestanden. Der Gerichtshof entschied, dass die Parteien nur ihr eigenes Leid als Angehörige geltend machen könnten, nicht aber das Leid des eigentlich Betroffenen, des nicht mehr ansprechbaren Vincent Lambert.15
Ähnliches gilt auch für einen Fall der Leihmutterschaft und die Vertretung der Interessen des Kleinkindes.16 In all diesen Fällen handeln die Anderen aus einer „egoistischen Solidarität“ heraus; sie vermengen ihre eigenen Interessen mit den Interessen derjenigen, die keine eigene Stimme mehr haben.
Abgesehen von besonderen Einzelfällen ist es aber das große Verdienst von Anwälten und Nicht-Regierungsorganisationen, die Interessen der Benachteiligten zu Gehör zu bringen.
Ein zweites Moment macht nachdenklich. So wird im Fall Campeanu der Staat Rumänien wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Die Verantwortung wird somit dem Abstraktum „Staat“ zugewiesen. Die nähere und unmittelbarere Verantwortung der verantwortungslos oder nicht handelnden Personen – Vater, Mutter, Klinikpersonal, Mitpatienten, sonstige Mitwisser und Wegschauer – wird damit nicht thematisiert. Solidarität wird bei einer menschenrechtlichen Verurteilung auf sehr abstrakter Ebene geltend gemacht; persönliche Verantwortlichkeiten werden ausgeblendet.
Allerdings muss man trotz dieser Kritik auch den positiven Effekt der Entscheidungen des Gerichtshofs sehen, da mit derartigen Fällen das gesellschaftliche Gewissen geweckt wird. Wenn ein Urteil allgemeine Bestürzung „Wie konnte so etwas bei uns geschehen?“ auslöst, erreicht es sehr viel, im Idealfall über die unmittelbar geforderten Reformen hinaus ein allgemeines Umdenken, das der Entstehung ähnlicher Problemlagen vorzubauen helfen sollte.
All dies gilt in besonderer Weise für Flüchtlinge, wenn deren Einzelschicksale vor Gericht gebracht werden, so dass die Einhaltung der Menschenrechte überprüft werden kann. Das Schicksal des afghanischen Übersetzers M.S.S., der in Griechenland ohne Dach über dem Kopf, ohne Recht zu arbeiten und ohne Unterstützungsleistung sich selbst überlassen worden war, ohne dass sein Antrag auf Asyl geprüft worden wäre, und der dennoch nach seiner Fortsetzung der Flucht von Belgien nach Griechenland auf der Grundlage des Dublin-Systems wieder zurückgeschickt werden sollte,17 hat dazu geführt die Automatismen des Umgangs mit Flüchtlingen in Europa in Frage zu stellen. Ähnliches gilt für das Schicksal der 8-köpfigen Familie Tarakhel ebenfalls aus Afghanistan, die aus der Schweiz nach Italien zurückgeschickt werden sollten, ohne dass eine gemeinsame Unterbringung sichergestellt worden wäre.18 Besonders häufig vor Gericht geprüft werden aber Rückführungsfälle, bei denen es zu klären gilt, ob in der Heimat wirklich reale Gefahren für Leib und Leben drohen.
Auch hier stellen sich wichtige Fragen nach den Voraussetzungen der Solidarität. Gilt sie nur jene, die „da“ sind oder auch für denjenigen, die noch in der Ferne warten? Die Genfer Flüchtlingskonvention etwa schützt nur die Geflohenen, die legal oder illegal Grenzen überschritten haben und in einem anderen Land physisch präsent sind.19 Und wo sind die Grenzen der Solidarität? Darf man Straftäter ausweisen, auch wenn ihnen in ihrer Heimat Schlimmes droht? Wie weit reicht hier die Solidarität?
Menschenrechte – Egoismus oder Solidarität?
Damit stellt sich abschließend die Frage, auf welche Art Solidarität auf der Grundlage der Menschenrechte erreicht wird. Deutlich werden die besonderen Wirkungen des Menschenrechtsschutzsystems, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Gegenmodelle es gibt.
Ein erstes Gegenmodell wäre als „Robin Hood-Modell“ zu klassifizieren, bei dem der Wohltäter ausschließlich für andere da ist und seine eigenen Interessen vollkommen zurückstellt. Bei der Menschenrechtsbeschwerde wird dagegen gerade das eigene persönliche Leiden, umgemünzt in einen rechtlichen Anspruch, geltend gemacht und das klagende „Ich“ stellt sich selbst in den Mittelpunkt. So ist der Vorwurf des Egoismus und des bedenkenlosen Individualismus naheliegend, greift aber doch zu kurz. Denn der Einzelne, der nach vorne tritt, handelt zugleich für alle anderen, die sich in vergleichbarer Position befinden, aber nicht den Mut haben, sich dem Spotlight des gesellschaftlichen Interesses auszusetzen. Insofern lässt sich von „indirekter Solidarität“ sprechen. Im Ergebnis soll nicht nur im Einzelfall Abhilfe geschaffen werden, sondern auch für andere der Weg geebnet und die Lebenssituation verbessert werden.
Die Fälle des Gerichtshofs vermögen dies anschaulich zu illustrieren. So hat der in Sibirien wegen Vermögensdelikten inhaftierte ehemalige Unternehmer Kalashnikov vor dem Gerichtshof wegen der Haftbedingungen in überbelegten, mit Ungeziefer infizierten Zellen, die er mit Gefangenen, die an ansteckenden Krankheiten litten, teilen musste, geklagt. Das Urteil des Gerichtshofs, das die dem Gefangenen widerfahrene Behandlung als „unmenschlich und entwürdigend“ einstufte,20 hat Reformen in einer Vielzahl von Staaten insbesondere im ehemals kommunistischen Machtbereich angestoßen; Tausende von entsprechenden Verurteilungen werden ausgesprochen und den Betroffenen Schadensersatz zuerkannt.
Ähnliches lässt sich für den Fall Zaunegger sagen. Herr Zaunegger hatte für bessere Rechte für nichteheliche Väter gestritten. Im deutschen Recht schloss das Veto der Mutter ein geteiltes Sorgerecht aus.21 Der Gerichtshof sah dies als mit dem Recht auf Familie unvereinbar an. Inzwischen wurde das Gesetz geändert, die Stellung des nichtehelichen Vaters wesentlich verbessert.
Als drittes Beispiel mag der Fall Stanev v. Bulgarien dienen, bei dem die Unterbringungsbedingungen für psychisch Kranke zur Sprache gebracht wurden; sie waren wenig, wenn überhaupt, besser als die Haftbedingungen für Kriminelle.22
Als weiteres Argument gegen den Vorwurf des dem Menschenrechtssystem inhärenten Egoismus ist darauf zu verweisen, dass der Gerichtshof die Rechte der Betroffenen nicht abstrakt, sondern immer im Rahmen der gesellschaftlichen Verantwortungsstruktur sieht und die Interessen des Einzelnen und der Gemeinschaft zum Ausgleich bringt. Grundmuster in der Argumentation ist, ob eine Beschränkung von Rechten „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ ist; geprüft wird auch, was für das gesellschaftliche Zusammenleben conditio sine qua non ist.
Ein weiteres Gegenmodell lässt sich in Anspielung auf die biblische Lazarus-Geschichte, bei der Trost im Jenseits versprochen wird, „Lazarus-Modell“ nennen.
Der biblische Text ist sehr drastisch. Ein paar Auszüge mögen genügen:23
„Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war. Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Stattdessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen.“
Im zweiten Teil des Textes geht es um die Klagen des Reichen, der im Jenseits leidet und sich an Abraham wendet:
„Abraham erwiderte: Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden.“
Über Jahrhunderte hat man aus dieser Geschichte abgeleitet, der Mensch werde geprüft, müsse dulden und auf Gott vertrauen und werde im Jenseits belohnt. In ein ähnliches Muster passt auch die Geschichte des Hiob, den Gott als seinen getreuen Diener ansieht.
Undenkbar wäre es, sich Lazarus oder Hiob als Kläger vor Gericht ob der ihnen widerfahrenden ungerechten Behandlung vorzustellen. Dieser Gegensatz illustriert die Diesseitigkeit des Menschenrechtsmodells. Rechte werden hic et nunc zuerkannt, es werden unmittelbare Änderungen angestrebt. Leiden wird mit Geld ausgeglichen.
Für ein drittes Gegenmodell ließe sich auf Mutter Teresa verweisen. Sie nimmt den Auftrag der Nächstenliebe wörtlich, reicht die Hand denen, die es brauchen, intendiert aber nicht eine Verbesserung der gesellschaftlichen Strukturen allgemein; derartige Fragen sind außerhalb ihres Blickfelds. Damit ist der Fokus ausschließlich auf die horizontalen zwischenmenschlichen Beziehungen gerichtet.
Beim Menschenrechtsmodell dagegen geht es um eine Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Gesellschaft in einer grundsätzlich vertikalen Beziehung. Über Gerichte werden Werte durchgesetzt, aber eben nur im vertikalen Verhältnis. Aufgaben, Pflichten und gesellschaftliche Moral werden definiert, nicht dagegen individuelle Moral.
Es ist offensichtlich, dass Solidarität nicht verkürzt werden darf auf die vertikale Dimension Staat – Individuum. Vielmehr ist die Solidarität auf horizontaler Ebene sowohl in den zwischenmenschlichen Beziehungen als auch im internationalen Bereich im Verhältnis zwischen den Staaten notwendig komplementär.
Fazit
Damit lässt sich als Fazit festhalten, dass das Menschenrechtsmodell der EMRK zwar ein auf das „Ich“ bezogenes Modell ist, das aber zu mehr Solidarität in der Gesellschaft führt. Es trägt dazu bei, den Blick auf den Einzelnen und seine Stellung in der Gesellschaft zu richten. Und es ist effektiv, da insgesamt Verbesserungen erreicht werden.
Dennoch – ein nur auf Rechte abstellendes Gesellschaftsmodell ist nicht vollkommen, nicht ausreichend. Rechte sind die Rohmaterialien, die Steine, um ein gemeinsames Haus aufzubauen. Aber ohne den Kitt, ohne eine solidarische Grundeinstellung, kann ein Haus nicht gebaut werden, wird nicht standfest sein.
Eine Gesellschaft braucht Menschen, die sich ihrer Rechte bewusst sind, zugleich aber auch füreinander solidarisch eintreten. Den Denkern der Aufklärung, die auf die Trias Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aufbauen, ist zuzustimmen. Wir sollten Brüderlichkeit und Solidarität nicht aus den Augen verlieren.
Dieser Beitrag ist die von der Autorin Professor Dr. Dr. h.c. Angelika Nußberger überarbeitete Fassung ihres öffentlichen Vortrags am 9. Juni 2016 im Rahmen des Business Ethics Summit 2016 des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik (DNWE) im Schader-Forum, Darmstadt. Die Veranstaltung wurde gefördert von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Projektbüro Reformationsdekade).
Die Autorin: Prof. Dr. Dr. h.c. Angelika Nußberger ist Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und Preisträgerin des Schader-Preises 2015.
1Nach Ansicht des französischen Sozialphilosophen Frédéric Lenoir ist die zentrale Kritik, die man an die moderne westliche Welt richten müsse, dass sie das Ideal der Brüderlichkeit vergessen und sich ausschließlich auf Fragen der Gleichheit und der individuellen Freiheitsrechte konzentriert habe. (Frédéric Lenoir, La Guérison du Monde, 2012, S. 226).
2Otto Depenheuer, Solidarität und Freiheit, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX Allgemeine Grundrechtslehren, 3. Aufl. 2011, § 194, S. 665 - 697, Rd. 194.
3 BVerfG 4, 7 (15).
4 Ebenda.
5 United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, Human Rights. Comments and interpretation, UNESCO/PHS/3 (rev), Paris 25.7.1948, S. 185; Übersetzung von der Verfasserin.
6 Mahatma Gandhi, A Letter Addressed to the Director-General of UNESCO, abgedruckt in: United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, Human Rights. Comments and interpretation, UNESCO/PHS/3 (rev), Paris 25.7.1948, S. 3; Übersetzung von der Verfasserin.
7 Lk 10,25-37.
8 Richard von Weizsäcker, Verantwortung für sozialen Fortschritt und Menschenrechte. 1986.
9 EGMR vom 21.07.2011, Heinisch v. Deutschland, Beschwerde-Nr. 28274/08, RJD 2011.
10 EGMR vom 17.12.2009 , M. v. Deutschland, Beschwerde Nr. 19359/04, RJD 2009.
11 EGMR vom 21.12.2010, Anayo v. Deutschland, Beschwerde Nr. 20578/07, EuGRZ 2011, 115 ff.
12 Centre for Legal Resources on behalf of EGMR vom 17.07.2014, Valentin Câmpeanu v. Romania, Beschwerde-Nr. 47848/08, RJD 2014.
13 EGMR (GK) vom 09.10.1979, Airey v. Irland, Beschwerde Nr. 6289/73, A32.
14 EGMR vom 07.07.2015, V.M. u.a. v. Belgien, Beschwerde Nr. 60125/11; der Fall ist gegenwärtig vor der Großen Kammer anhängig.
15 EGMR (GK) vom 05.06.2015, Lambert v. Frankreich, Beschwerde Nr. 46043/14, RJD 2015.
16 EGMR vom 27.1.2015, Paradiso und Campanello v. Italien, Beschwerde Nr. 25358/12.
17 EGMR (GK) vom 21.01.2011, M.S.S. v. Belgien und Griechenland, Beschwerde Nr. 30696/09, RJD 2011.
18 EGMR (GK) vom 04.11.2014, Tarakhel v. Schweiz, Beschwerde Nr. 29217/12, RJD 2014.
19 Vgl. Angelika Nußberger, Flüchtlingsschicksale zwischen Völkerrecht und Politik. Zur Rechtsprechung des EGMR zu Fragen der Staatenverantwortung in Migrationsfällen, NVwZ 2016, 815-822.
20 EGMR vom 15.07.2002, Kalashnikov v. Russland, Beschwerde Nr. 47095/99, RJD 2002-VI.
21 EGMR vom 03.12.2009, Zaunegger v. Deutschland, Beschwerde Nr. 22028/04.
22 EGMR (GK) vom 17.01.2012, Stanev v. Bulgarien, Beschwerde Nr. 36760/06, RJD 2012.
23 Lk 16, 19-31.