Knappheit und Moral. Über Märkte und ihre Grenzen
Artikel vom 12.11.2020
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Prof. Dr. Dorothea Kübler, erhielt am 12. November 2020 den Schader-Preis. In ihrem Vortrag zur Preisverleihung setzte sie sich mit den Grenzen von Märkten auseinander, insbesondere wie diese Knappheit und Moral beeinflussen.
Begrüßung
Sehr geehrte Frau Schader, sehr geehrter Herr Schader, sehr geehrte Frau Staatssekretärin, sehr geehrte Mitglieder des Senats und des Stiftungsrats der Schader-Stiftung, sehr geehrte Damen und Herren.
Ich freue mich sehr über den Schader-Preis und bedanke mich von ganzem Herzen! Der Preis bedeutet mir sehr viel. Dass ich als Ökonomin den Schader-Preis für Gesellschaftswissenschaften erhalte, ist mir eine große Ehre – und Ermutigung. Und ich danke Ihnen, Frau Lueken, und Dir, Nicola Fuchs-Schündeln, für die überaus freundlichen Worte.
Ich freue mich besonders darüber, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf. Ich möchte über die Grenzen von Märkten reden – und darüber, was Knappheit und Moral miteinander zu tun haben.
Wie funktionieren Märkte?
Viele Gütermärkte sind einfach: Wenn man bezahlen kann, bekommt man, was man will.
Bei anderen Dingen reicht es nicht, sie auszuwählen, sondern man muss auch ausgewählt werden. Bei Studienplätzen kann man sich eine Universität aussuchen, aber man muss dann auch einen Studienplatz bekommen. Bei Schulen ist das ähnlich.
Spendernieren kann man nicht kaufen, sondern man muss auf der Warteliste an der Reihe sein, oder man muss einen passenden Spender aus der engeren Familie haben.
Und Lebenspartner wählen sich gegenseitig. Welche Kriterien bei der Partnerwahl zählen, ist ein viel beforschtes, aber bisher ungelöstes Rätsel.
Geld spielt keine Rolle, jedenfalls nicht dieselbe wie auf Gütermärkten.
Wie wird die Verteilung ohne Geld bestimmt?
Aber wie bestimmt man dann die Verteilung, wenn man Geld nicht verwenden möchte? Es gibt andere Kriterien, die je nach Kontext gelten, etwa die schulische Leistung für die Vergabe von Studienplätzen oder medizinische Kriterien für Spendernieren.
Güter wie Bildung und Gesundheit ermöglichen erst die volle Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Deswegen sollte Geld bei diesen Gütern nicht darüber entscheiden, wer was bekommt.
Aber die Ablehnung von Märkten geht über diese Bereiche hinaus, wie ich gleich zeigen werde. Die Frage ist deswegen: Wann genau sollte Geld keine Rolle spielen? Wann sollten Märkte verboten werden?
Wie kann die Ökonomie zu diesen Fragen beitragen?
Präferenzen
Wir beschäftigen uns mit Präferenzen.
Neben dem eigenen Nutzen, den die Neoklassik betont, spielt auch das Wohlergehen Anderer für Menschen eine Rolle. Amartya Sen hat das 1973 bereits beschrieben, und die Verhaltensökonomik beschäftigt sich damit im Detail. Menschen haben soziale Präferenzen, das heißt sie handeln fair oder reziprok.
Außerdem haben Menschen Präferenzen darüber, was andere tun, auch wenn sie selbst gar nicht beteiligt sind. Es ist zum Beispiel möglich, dass Menschen finden, dass bestimmte Transaktionen grundsätzlich nicht stattfinden sollten, weil das gegen soziale Normen oder Moralvorstellungen verstößt.
Abstoßende Transaktion – (Ob)noxious /repugnant / toxic transactions
Nehmen wir an, dass zwei Parteien sich einig sind darüber, dass eine der beiden ihre Niere an die andere Partei zu einem bestimmten Preis verkauft. Diese Transaktion kann für Dritte, also Beobachter, inakzeptabel sein.
Sogenannte abstoßende Transaktionen, in der Literatur repugnant oder noxious oder obnoxius transactions, gibt es in vielen Lebensbereichen. Wenn Körperteile betroffen sind, auch wenn es um Reproduktion und Sex geht, werden Transaktionen verboten. Beispiele gibt es natürlich auch, was menschliche Arbeit angeht und die Politik (kein Handel mit dem Wahlrecht) und die Religion. Was die Umwelt angeht, haben wir untersucht, warum viele Leute den Handel mit Emissionszertifikaten und CO2-Kompensationen abstoßend finden. Wir zeigen, dass das mit der Vorstellung kollidiert, dass jeder selbst verantwortlich ist für die Reduktion von Umweltbelastungen und sich davon nicht freikaufen sollte.
Was macht eine Transaktion abstoßend?
Die Ökonomen Ravi Kanbur und Alvin Roth sowie die Philosophin Debra Satz haben sich dazu konzeptionelle Gedanken gemacht. Ihre Positionen lassen sich etwas vereinfachend so zusammenfassen, dass es zwei Eigenschaften von Transaktionen gibt, die sie abstoßend machen.
Zum einen Extreme Konsequenzen. Hier sind die Auswirkungen von Märkten gemeint. Der Verlust der Menschenwürde, aber auch der Verlust von Körperteilen lassen sich als extrem bezeichnen, auch die Untergrabung demokratischer Prinzipien.
Der zweite Aspekt betrifft die Autonomie der Handelnden. Mangel an Autonomie bedeutet, dass die Akteure zu etwas gezwungen werden, aus Verzweiflung handeln, etc.
Es stellt sich die Frage, ob das hinreichende Bedingungen sind oder notwendige? Wie hängen sie miteinander zusammen, verstärken sie sich gegenseitig – oder nicht? Und lässt sich Evidenz dafür finden, dass Menschen solche Präferenzen haben?
Meine Vorstellung ist, eine Art von Reflektivem Gleichgewicht zu finden zwischen normativen Prinzipien und empirischer Evidenz.
Laborexperiment
Lassen Sie mich die Fragen nun präziser formulieren, die eine Postdoktorandin aus meiner Gruppe, Hande Erkut, und ich experimentell untersucht haben:
1. Können wir beobachten, dass die Experimentteilnehmer eher Transaktionen verbieten mit extremen Konsequenzen als solche mit harmlosen Konsequenzen?
2. Verbieten die Teilnehmer eher eine Transaktion, bei der eine der Parteien eingeschränkt autonom ist als bei voller Autonomie?
3. Wie interagieren diese beiden Faktoren?
Wie kann man extreme Konsequenzen im Experimentallabor umsetzen? Wir haben die Teilnehmer für zehn Minuten einen unangenehm hohen Ton über Kopfhörer anhören lassen. Die milde Konsequenz, die wir für den Vergleich umgesetzt haben, war dagegen eine Wartezeit von zehn Minuten.
Im Laborexperiment bekamen alle Teilnehmer zunächst 10 Euro dafür, dass sie sich am Ende des Experiments für 10 Minuten den unangenehmen Ton anhören. Nun konnten die Teilnehmer versuchen, das Anhören des 10 Minuten dauernden unangenehmen Tons an einen anderen Teilnehmer gegen eine Geldzahlung loszuwerden. Allerdings gab es Beobachter, die zuerst entscheiden durften, ob sie so einen Tausch überhaupt erlauben wollten oder nicht.
Eingeschränkte Autonomie
In dem Treatment mit voller Autonomie konnte der Teilnehmer, der ein Angebot erhalten hatte, entscheiden, ob er es ablehnen oder annehmen wollte. Wir haben aber neben diesem Treatment drei unterschiedliche Treatments mit eingeschränkter Autonomie durchgeführt. In einem der Treatments musste jedes Angebot angenommen werden. In einem weiteren Treatment wusste derjenige, der das Angebot bekam, nicht, wie unangenehm der Ton ist. Und in einem weiteren Treatment gab es eine dritte Partei, die für die betroffene Person entscheidet. Dieses Treatment mit der dritten Partei bedeutet, dass B keine Autonomie besitzt und es finanzielle Anreize für die dritte Partei gibt, die Transaktion zu erlauben. Das bildet Situationen ab, in denen zum Beispiel Familienmitglieder von dem Verkauf von Organen profitieren und die Entscheidung treffen.
Ergebnisse
Wie sehen die Ergebnisse aus? Wir beobachten, dass die Teilnehmer Transaktionen mit extremen Konsequenzen (also mit dem unangenehmen Ton) häufiger verbieten als diejenigen mit harmlosen Konsequenzen (Wartezeit).
Bei fehlender Autonomie, ein Angebot abzulehnen, und wenn eine dritte Partei entscheidet, wird die Transaktion mit dem unangenehmen Ton von 70 bis 80% der Teilnehmer in der Beobachterrolle verboten. Mangelnde Information hat dagegen fast keinen Effekt.
Wir sehen also, dass die zwei Bedingungen – extreme Konsequenzen und Mangel an Autonomie – additiv wirken, aber auch dann, wenn nur eine der Anforderungen erfüllt ist, können Transaktionen abstoßend sein.
Eingeschränkte Autonomie: Wenn monetäre Anreize abstoßend sind
Als nächstes zeige ich Ihnen ein Experiment, bei dem es wiederum um eingeschränkte Autonomie geht. Dieses Mal geht es um Angebote, die man nicht ablehnen kann. Die Frage ist: Machen hohe Geldzahlungen Angebote unwiderstehlich – und damit abstoßend? Hier geht es etwa um die Bezahlung von Teilnehmern an medizinischen Studien (zum Beispiel für den Covid-Impfstoff) oder auch von Spendern.
Im Leitfaden für Mitglieder Medizinischer Ethikkommissionen des Europarats findet sich folgender Hinweis:
„Die medizinische Ethikkommission muss sich davon überzeugen, dass alle Zahlungen und Vergünstigungen an die Teilnehmer (…) nicht derart hoch sind, dass sie die Teilnehmer dazu veranlassen, ein Risiko auf sich zu nehmen, das sie ansonsten nicht eingehen würden.“
Das kann man seltsam finden: Wenn man Leute dafür kompensiert, dass sie ein Risiko auf sich nehmen, dann ist das in Ordnung, solange die Studie genehmigt wurde. Warum sollte man den Teilnehmern nicht lieber mehr zahlen als weniger?
Warum monetäre Anreize abstoßend sind
Um das besser zu verstehen, hat mein Doktorand Robert Stüber folgendes Feldexperiment durchgeführt:
Er untersucht die Frage, ob man Stammzellen- und Knochenmarksspender mit 10 Euro oder mit 500 Euro entlohnen soll. Das war ein Experiment mit einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung. Die Entscheidungen der Teilnehmer in der Beobachterrolle hatten reale Auswirkungen auf die Zahlung an Spender.
Er findet, dass 17% der Teilnehmer das tun, was die Ethikrichtlinien besagen, nämlich die Zahlung von 10 Euro erlauben, aber eine Zahlung von 500 Euro verbieten. (Alle übrigen Teilnehmer erlauben entweder beide Zahlungen oder nur die hohe Zahlung und ein paar wenige auch gar keine Zahlung.)
Er untersucht dann, warum diese Teilnehmer das tun. Dafür hat er ein Treatment durchgeführt, bei dem nur diejenigen potentiellen Spender 500 Euro bekommen, die auch für 10 Euro bereit waren zu spenden. Unter diesen Bedingungen beobachtet er einen deutlichen Anstieg der Akzeptanz von 500 Euro bei den 17%, die vorher ablehnend waren.
Das heißt, dass das Verbot dieser Gruppe von Teilnehmern in der Tat dadurch motiviert ist, dass Leute nicht aufgrund der hohen Geldsumme zu Spendern werden sollen.
Robert Stüber hat außerdem eine Umfrage gemacht bei ehemaligen und aktuellen Mitgliedern des Deutschen Ethikrats: ca. 50% verbieten nur die hohe Zahlung. Dass 500 Euro ein Angebot ist, das man nicht ablehnen kann, das also eine Art von Zwang ausübt, ist keine Mehrheitsposition in der Gesellschaft, aber eine, die für Ethik-Kommissionen eine wichtige Rolle spielt.
Allerdings können solche Obergrenzen für die Kompensation dazu führen, dass zu wenige Spenderinnen gewonnen werden oder nicht ausreichend repräsentative Teilnehmer für medizinische Studien. Deutschland importiert zum Beispiel große Mengen von Blutplasma aus Ländern mit weniger stringenten Regulierungen und höheren Zahlungen an die Spender, vor allem aus den USA.
Beispiel: Nierenspenden
Zum Schluss möchte ich anhand des Beispiels von Nierenspenden diskutieren, was die bisher eher grundsätzlichen Überlegungen für die Gestaltung von Märkten bedeuten können.
Der Handel mit Organen ist verboten. Und es gibt einen Mangel an Spenderorganen. Die durchschnittliche Wartezeit für eine Spenderniere in Deutschland beträgt circa 3 ½ Jahre, und jedes Jahr versterben viele Patient:innen auf der Warteliste.
Es gibt zwei Quellen für Spendernieren, nämlich verstorbene Spender und lebende Spender, die ca. 40% der transplantierten Nieren weltweit ausmachen. Man kann ein gesundes Leben mit einer Niere führen und einer nahestehenden Person eine Niere spenden. Die Transplantation einer Niere erfordert allerdings die Kompatibilität zwischen Spender und Empfänger bezüglich der Blutgruppe und des menschlichen Gewebes. Bei Lebendspenden tritt regelmäßig der Fall auf, dass spendenwillige Personen nicht mit dem Empfänger kompatibel sind, so dass die Transplantation nicht durchgeführt wird. Wie kann man Zahl und Qualität der Transplantationen von Lebendspenden erhöhen?
Alternative zu Transaktionen mit Geld: Überkreuzspende
Sogenannte Überkreuzspenden ermöglichen Transplantationen dadurch, dass inkompatible Paare von Spendern und Empfängern Spenderorgane tauschen. Um möglichst günstige Tauschpaare zu finden, so dass eine große Anzahl von Spenden ermöglicht wird, gibt es Clearingstellen. Sie verwenden ähnliche Algorithmen wie für die zentrale Vergabe von Studienplätzen oder Plätzen an Schulen.
Überkreuzspenden in Europa
Weltweit und auch in Europa spielen Überkreuzspenden eine zunehmend wichtige Rolle für die Ermöglichung von Lebendspenden. Die blauen Länder auf der Karte, Großbritannien, die Niederlande und Spanien, haben schon länger große Nierentauschprogramme. Viele andere Länder ebenfalls, und einige sind nachgezogen. So hat Schweden mit Norwegen und Dänemark inzwischen ein gemeinsames Programm, das hier noch nicht verzeichnet ist. In Deutschland sind Überkreuzspenden dagegen verboten.
Ein zentraler Einwand in Deutschland gegen Überkreuzspenden ist, dass der Druck auf potentielle Spender:innen zunimmt, also dass es einen Mangel an Autonomie gibt! Das scheint mir allerdings nicht ganz überzeugend (so haben mein Kollege Axel Ockenfels und ich bei einer Anhörung des Bundestags auch argumentiert): Es ist richtig, dass der Druck auf diejenigen steigt, die spenden würden, aber aufgrund einer Inkompatibilität nicht spenden können. Allerdings hängt es vom Zufall ab, ob eine Unverträglichkeit besteht oder nicht. Wenn man so argumentiert, müsste man Lebendspenden vollständig verbieten. Um die Autonomie der Spender sicher zu stellen, gibt es die gute Praxis von Kommissionen, die die potentiellen Spender:innen befragen und die Spende ohne Angabe von Gründen ablehnen können, wenn der Anschein entsteht, dass sie nicht freiwillig ist.
Ich komme zum Schluss:
Was bedeutet das alles?
Manche Güter beeinflussen, wer wir sind und wie unsere Gesellschaft aussieht.
Manche Güter retten Leben.
Es kommt darauf an, wie wir die Verteilung dieser Güter organisieren, welche Märkte wir verbieten und welche wir so gestalten können, dass sie nicht abstoßend sind.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!