Auf der Durchreise
Artikel vom 07.03.2016
Orte im Transit haben vielerlei Qualitäten – sie sind faszinierend, unheimlich und verweisen auf Vergangenheit und Zukunft. Medientheoretiker und Ethnologen bezeichnen Orte im Transit auch als Nicht-Orte, die Sichtbares und Unsichtbares verbinden. Für den Alltag heißt das: Augen auf für neue Perspektiven und Erkenntnisse! Von Evelyn Runge
Facetten der Globalisierung
Schwarzer Badeanzug, blaue Badekappe: Die Hände an die Körperseiten gelegt, die Beine eng zusammen, den Kopf erhoben steht die Frau auf dem höchsten der zwölf Sprungtürme. Die niedrigeren Türme: leer. Die Zuschauertribüne: leer. Das Becken: blau gefliest, der Boden bedeckt mit einem Rest veralgten Wassers.
Auf dem Sprungturm steht Rebecca Wilton. Die Fotografin befasst sich seit einigen Jahren mit Orten des Transits und Orten im Transit. Auf den ersten Blick wirken diese belebt. Auf den zweiten fallen die Pflanzen auf, die über Fliesen, Beton, Bahnsteige wuchern, und auf den dritten, dass eine Person im Bild ist, in ihrer Kleidung in die jeweilige Umgebung eingegliedert. Ihre Motive stehen stellvertretend für viele andere Orte im Transit, die sie deshalb nur nach ihrer Funktion benennt: Sprungturm. Restaurant. Hotel. Tankstelle. Bahnhof. Dorf.
In ihnen sind die Facetten der Globalisierung zu erkennen: im ländlichen Raum als bedrückender Leerstand, da der demografische Wandel zu Abwanderung aus der Peripherie führt; in Zentren als Mobilitäts-Knotenpunkte, die morgen schon den Besitzer gewechselt haben können. Der französische Ethnologe Marc Augé definiert sie als „Nicht-Orte“: „Zu den Nicht-Orten gehören die für den beschleunigten Verkehr von Personen und Gütern erforderlichen Einrichtungen (Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen) ebenso wie die Verkehrsmittel selbst oder die großen Einkaufszentren oder die Durchgangslager, in denen man die Flüchtlinge kaserniert.“
Nicht-Orte sind der Durchreise und dem Ephemeren gewidmet. Auch münzenloses Geld gehört dazu, symbolisiert durch die Kreditkarte, Paypal und andere elektronische Zahlsysteme. Diese benötigen eine vernetzte Infrastruktur, die unsichtbar durch Kabel oder über Funk hergestellt wird. Orte hingegen werden durch Menschen ‚gemacht‘, durch ihre Lebendigkeit, durch „Identität, Relation und Geschichte“.
Unsichtbare Netzstrukturen
Ähnliche Überlegungen über Orte und Nicht-Orte, sichtbare Architektur und unsichtbare (logistische) Vernetzung finden sich auch in Schriften von Medientheoretikern – zum Beispiel bei Marshall McLuhan, Friedrich Kittler, Paul Virilio oder Vilém Flusser. Unter der sichtbaren Oberfläche eines Ortes liegen unsichtbare Netzstrukturen. Diese sind mit den Orten untrennbar verwoben. Und es gibt nie ein Netz an einem Ort, sondern immer die Überlappung verschiedener Netze. Nach Friedrich Kittler ist die Stadt auch ein Medium, ein „Netz aus lauter Netzen“. Durch smarte Technologien mehr denn je, sei es die Alltagsnutzung des Internets, sei es die zunehmende Vernetzung von Haustechnik.
Die Zeitschrift für Medienwissenschaft widmete dem komplexen Thema „Medien / Architekturen“ 2015 eine ganze Ausgabe. Die Autoren verstehen „Medien als soziotechnische Infrastrukturen […], die in weitere Infrastrukturen eingebettet sind und sich erst im praktischen Vollzug realisieren“. Sie werden erst durch die menschliche Nutzung zu dem, was sie im Hier und Jetzt sind. Übergänge kann der Betrachter erkennen, indem er seinen gewohnten Blickpunkt verlässt – auch mit Hilfe neuer technischer Möglichkeiten. Optische Innovationen, Kameras, das Fernsehen, Satelliten im Weltall ändern die menschliche Wahrnehmung, wie der französische Architekt und Medienphilosoph Paul Virilio schreibt. Die Fotografie machte schon früh Unsichtbares sichtbar. Walter Benjamin nannte dies 1931 das Optisch-Unbewusste, das durch technische Finessen wie Mikroskop-Fotografie, Serien- oder Röntgenaufnahmen sichtbar wird.
Überwindung des Gewohnheitssehens
Und zudem bedarf es der eigenen Mobilität, scheinbar vertraute Umgebungen anders als gewohnt wahrzunehmen. Das hat sich der Leipziger Spaziergangsforscher Bertram Weißhaar zur Aufgabe gemacht: Er bietet Führungen an durch Gebiete, die wenig attraktiv erscheinen, auf Parkdecks, in Schrebergärten und Braunkohlegruben sowie an Stadträndern. Der Mensch kann sich selbst zu neuen Aus- und Ansichten bewegen, indem er die Infrastrukturen besucht, die sein Alltagsleben oft erst ermöglichen.
Es geht um nichts weniger als die Überwindung des Gewohnheitssehens: Wir nehmen Dinge kaum noch wahr, die alltäglich sind. Florian Albrecht-Schoeck bricht dieses habituelle Sehen in seinen fotografischen Werken. Seine Motive scheinen zunächst sehr vertraut zu sein, eine Garageneinfahrt, Gehwege zu Plattenhaussiedlungen, eine Feuerwehrzufahrt. Die Passagen, die Menschen von A nach B führen sollten, sind menschenleer. Doch auch Albrecht-Schoecks Aufnahmen verlangen nach mindestens einem zweiten Blick. Albrecht-Schoeck fotografiert schwarz-weiß, mit einer analogen Mittelformatkamera. Seine Aufnahmen entstehen oft auf Reisen; zur Entwicklung der Filme funktioniert er seinen Schlafsack um zur mobilen Dunkelkammer. Der Fotograf im transitorischen Zustand akzeptiert Lichteinfälle auf sein Filmmaterial: Störungen und Ausfälle gehören zum menschlichen Leben.
Die Fotografien von Florian Albrecht-Schoeck und Rebecca Wilton lenken den Blick auf verlassene Orte. Durch die scheinbare Trostlosigkeit aber schimmern die – noch – unsichtbaren Netze, die vielleicht vor allem eines sind: der Übergang zu einer lebendigen Zukunft.
Die Autorin: Dr. Evelyn Runge ist Forschungsstipendiatin der Martin Buber Society of Fellows in the Humanities and Social Sciences, Hebrew University of Jerusalem, Israel. Sie ist Mitglied der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina sowie Mitglied im Beirat der Galerie der Schader-Stiftung.
Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Ausstellung „Transit: Orte", die vom 16. Oktober 2015 bis 28. Februar 2016 in der Galerie der Schader-Stiftung gezeigt wurde.