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Besser als nichts. Transit-Orte und Nicht-Orte

Artikel vom 07.03.2016

Rebecca Wilton: KAUFHAUS 2003, ©VG Bild-Kunst Bonn 2015

Angenommen, Sie setzen sich heute in Hamburg mit einem Kulturwissenschaftler in einen Zug und beginnen eine Diskussion über Transit-Orte: Spätestens in Hamburg-Harburg fällt der Begriff „Nicht-Ort“. Von Lars Wilhelmer

Nicht-Orte sind nicht „leer“ – sie sind anders

Florian Albrecht-Schoeck: aus der Serie AFTEЯ AFTEЯMATH 2015 (Detail), ©Florian Albrecht-Schoeck

Ein Nicht-Ort, das ist nach Marc Augé ein Ort, dem es vor allem an etwas mangelt – Identität, Relation, Geschichte. Ein Ort der Anonymität, der Einsamkeit, der Entwurzelung. Klassische Transit-Orte wie Bahnhöfe, Hotels und Flughäfen, aber auch Supermärkte und Freizeitparks sind Prototypen des Nicht-Orts; Augés Essay „Non-Lieux“ beginnt mit der Beschreibung einer Flugreise.

Sind also alle Transit-Orte zugleich Nicht-Orte? Fragen wir das Internet, fragen wir Lotter07. In seiner Online-Rezension von Augés Essay schreibt Lotter07, eigentlich Albrecht Schlotter, über den vermeintlichen Nicht-Ort Supermarkt: „In unserem örtlichen mittelgroßen Lebensmittelmarkt [...] fühle ich mich doch ein bisschen zuhause. Es herrscht dort eine freundliche Atmo-sphäre, man macht ein bisschen Smalltalk und flirtet mit den Damen an der Kasse. Ich habe dort kein Gefühl von Einsamkeit. Eher schon in den großen Supermärkten, in denen man sich verlaufen kann. Ich käme aber nie auf die Idee, sie Nicht-Orte zu nennen. Das hört sich in meinen Ohren einfach blöde an und deswegen wird dieser Begriff nach meiner Prognose auch keine allzu großartige Karriere machen.“

Da der Begriff bereits Karriere gemacht hat – seit der Erstveröffentlichung von „Non-Lieux“ 1992 sind zahlreiche Texte erschienen, die sich mit Augés Theorie auseinandersetzen –, ist Schlotters „Prognose“ eher ein Kuriosum. Aber was ist mit Schlotters Flirt an der Kasse, dem Gefühl von Zuhause?

Suchen wir weiter, SZ Magazin, Ausgabe 24/2011. In einem Interview berichtet der Pächter einer Autobahnraststätte über einen typischen Stammgast: „Er hat sein Lieblingsgericht, kennt die Bedienung und weiß, wo die Toiletten sind. Wenn er dann noch gefragt wird, ob er wieder die Bratwürste mit Kraut will, ist er glücklich und kommt wieder. Es gibt viele Menschen, die bewusst rausfahren, für die ist die Raststätte kein anonymer Ort, sondern einer mit eigener Atmosphäre und Identität.“

Und schließlich diese vermeintlich „leeren“ Orte, die Rebecca Wilton und Florian Albrecht-Schoeck fotografiert haben – das dunkle Parkhaus, das verlassene Hotel: Ist das denn gar nichts? Erzählen diese Orte keine Geschichten?

Vielleicht sind diese Nicht-Orte also gar nicht so nichtig. Vielleicht passiert gerade hier etwas, das nirgendwo sonst passiert. Vielleicht wäre es sinnvoll, diese Orte nicht durch den Mangel an etwas zu definieren, sondern durch ihre Differenz zu anderen Orten, durch ihre Andersartigkeit. (Der andere Ort, das ist der hetero topos, was uns wiederum zu Foucault führt. Aber das ist ein anderes Thema für eine andere Zugreise.)

Schauplätze im Dazwischen

Rebecca Wilton: VILLA 2003, ©VG Bild-Kunst Bonn 2015

Anstatt in das bloße Nichts, in die vermeintlichen Leerstellen der Gesellschaft zu blicken, ließe sich aus einer solchen Differenzperspektive mehr entdecken: Andere Identitäten, andere Relationen, andere Geschichten. Das hieße nicht, Marc Augés Zeitdiagnose zu ignorieren; so kann man durchaus kritisieren, dass Flughafenterminals, Tankstellen und Fast-Food-Filialen überall auf der Welt ähnlich aussehen. Damit verschwinden sie jedoch nicht von der Landkarte der Orte. Sie werden aus ganz bestimmten Gründen homogen gestaltet und homogen wahrgenommen. Ihnen wird eine andere Identität verliehen. Die Verschleierungstaktiken, die den Transit-Ort gewollt als „nichtigen“ Ort stilisieren – als einen Ort, an dem der Mensch lediglich als Konsument en passant auftreten soll, ohne als Produzent seiner eigenen Räumlichkeit wirksam zu werden –, diese Taktiken ließen sich sogar besser entschlüsseln, wenn man sich auf sie einließe, anstatt sie zu negieren. Auch ließe sich untersuchen, wie durch Transit-Orte neue, globale Bindungen und Räume entstehen – andere Relationen.

Und was für Geschichten haben diese Orte hervorgebracht! Die moderne Literatur ist voller spannungsgeladener Schauplätze im Dazwischen. Das beginnt mit der Eisenbahn: Die „rasende Maschine“ verursacht im 19. Jahrhundert eine neuartige räumliche Irritation, die von den Autoren der Zeit aufgeregt verfolgt und literarisch verarbeitet wird. Später, in der Zeit der Weimarer Republik, stilisieren literarische Texte das Hotel zum mondänen Zentrum von Flirt und Tanz, zum provisorischen Schauplatz par excellence in einer provisorischen Zeit. Im Zweiten Weltkrieg wird der Transit-Ort Hafen zum Hoffnungsort und die Schiffspassage über den Ozean zum letzten Ausweg vieler Exilanten. Zu diesen zählen nicht selten auch die Schriftsteller selbst. Der Flughafen schließlich ist der symbolische Ort der globalisierten Spätmoderne und zugleich ein Ort, der sich durch seine aseptische Atmosphäre besonders hartnäckig der Narration zu verweigern scheint. Doch gerade hier, im ständigen Changieren zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit, zwischen Platzierung und Deplatzierung, entstehen die spannendsten Geschichten.

Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal mit einem Kulturwissenschaftler reisen, und Sie haben Gesprächsstoff bis München. Das ist doch besser als nichts.

Der Autor: Dr. Lars Wilhelmer studierte Germanistik, Soziologie und Journalistik. Er arbeitete in der Schweiz als kuratorischer Assistent für Literatur- und Architekturausstellungen zum Thema Grand Hotel. Anschließend lehrte er Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Im Frühjahr 2015 erschien seine Dissertation über Transit-Orte in der Literatur der Moderne.

Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Ausstellung „Transit: Orte", die vom 16. Oktober 2015 bis 28. Februar 2016 in der Galerie der Schader-Stiftung gezeigt wurde.

Zum Weiterlesen

 

Kanne, Miriam, 2013: Provisorische und Transiträume. Raumerfahrung „Nicht-Ort“. Berlin: LIT Verlag.

Wilhelmer, Lars, 2015: Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen. Bielefeld: transcript.

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