Darmstadt-Ansichten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zur Konstruktion topographischer Erinnerung
Artikel vom 12.04.2009
Dass Orte Erinnerung binden und wieder freigeben können, hat den Stadtplaner und Architekturkritiker Dieter Hoffmann-Axthelm zur These veranlasst: „Alle Erinnerung ist räumlich.” Von Mechthild Haas
Zur Konstruktion topographischer Erinnerung
1)Nicht nur kann ein einzelnes Gebäude, sondern auch jeder Stadtraum mit seinem System von Häusern und Monumenten, von Straßen und Plätzen zu einem Träger von Erinnerung werden. Druckgraphische Ansichten von Städten sind in vielerlei Hinsicht für historische Fragestellungen interessant. Bereits ihre Existenz beweist den Wunsch von Auftraggebern oder Käufern, sich ein Bild des eigenen Lebensraumes zu machen. Topographische Merkmale können Identität stiften, sowohl für die Einzelperson wie auch die Gemeinschaft. Einzelne Bildelemente, wie Richtstätten oder Befestigungsanlagen, geben Aufschluss über Herrschaftsverhältnisse oder politische Ansprüche: Werden sakrale Bauten betont, zeigt sich im konfessionellen Zeitalter darin die heilsgeschichtliche Erwartungshaltung der Stadtgemeinschaft; wohlgeordnete Häuserzeilen und prächtige Zunft- oder Patrizierbauten spiegeln die innerstädtische soziale Hierarchie wider.
Die frühesten Beispiele von Stadtansichten finden sich unter den Holzschnittillustrationen in Hartmann Schedels „Weltchronik” (Nürnberg 1493). Zu den bekanntesten topographischen Werken des 16. Jahrhunderts zählen Sebastian Münsters „Cosmographia” (Basel 1544) sowie das von Georg Braun und Franz Hogenberg edierte 6-bändige Werk „Civitates orbis terrarum” (1572-1618), das an Umfang und Qualität neue Maßstäbe setzte. Im 17. Jahrhundert war Matthäus Merian in Frankfurt der bedeutendste Verleger von Stadtansichten. Seine „Topographia Germaniae” enthielt in 30 Bänden weit über 2000 Einzelansichten von Städten, Ortschaften, Schlössern, Burgen und Klöstern. Nach der Natur aufgenommen sind Merians Kupferstiche und Radierungen in der Perspektive meisterhaft und oftmals das älteste zuverlässige Bilddokument eines Ortes. Im 18. Jahrhundert folgten Werke mit großformatigen Detailansichten von Gebäuden und Monumenten. Erwähnt sei Fischer von Erlach mit seinem Werk „Entwurff einer historischen Architectur” (1721), das als erste universale Architekturgeschichte der Welt gilt. In Italien schuf Giovanni Battista Piranesi ab Mitte des 18. Jahrhunderts seine berühmten großformatigen Kupferstich-Veduten von Rom und anderen italienischen Städten.2) Dank des im 19. Jahrhundert aufkommenden Tourismus und der steigenden Nachfrage nach Andenken und Erinnerungsstücken erfreuten sich Veduten wachsender Beliebtheit. Die druckgraphischen Künste profitierten davon am meisten, denn Schnellpresse und neue Illustrationstechniken ermöglichten hohe Auflagen, wodurch die vorher teuren Blätter für weite Kreise erschwinglich wurden und große Verbreitung fanden. Die Künstler wählten die unterschiedlichsten Perspektiven und erarbeiteten, im großen wie im handlichen Format, Varianten der Landschaftsveduten und Stadtpanoramen wie auch der Stadtinterieurs mit signifikanten Bauwerken, Plätzen und Straßen. Die Ende des 18. Jahrhunderts erfundene Lithographie wurde meist für das große Format verwendet. Im deutschen Kulturraum später als in England und Frankreich wurde der Holzstich vor allem als Buch- und Zeitschriftenillustration zur verfügbaren Gebrauchskunst. Schließlich ersetzte im Laufe des 19. Jahrhunderts der Stahlstich den Kupferstich, so dass auch die gestochenen Bildtafeln der Ansichten- und Reisewerke in höheren Auflagen hergestellt werden konnten, jedoch an künstlerischem Wert verloren.
Das hier vorgestellte Material entstammt der sogenannten Hoffmeister-Sammlung, einer Spezialsammlung in der Graphischen Sammlung des Hessischen Landesmuseums Darmstadt. Die Sammlung umfasst heute rund 2000 Arbeiten, es sind auf Hessen bezogene Porträtstiche und topographische Ansichten, schwerpunktmäßig aus dem 19. Jahrhundert. Vermutlich wurde die Sammlung, über deren Provenienz in den Museumsakten nichts zu finden ist, Ende des 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts an unser Museum gegeben. Bei dem Sammler handelt es sich wahrscheinlich um den hessischen Juristen, Numismatiker und Historiker Jacob Christoph Carl Hoffmeister.3) Porträt und Vedute, erst recht in graphischer Form, galten traditionell als „niedere” Bildgattungen von primär dokumentarischem oder auch dekorativem Nutzen. Deshalb ist die Hoffmeister-Sammlung nicht nach Autoren geordnet, sondern alphabetisch nach Personen bzw. Ortsnamen sortiert. Alle Arbeiten sind auf Untersatzbögen montiert und unten rechts in lateinischer Currentschrift mit Feder beschriftet.
Bei der Fülle der Hessenansichten sind an erster Stelle die Bilderfolgen des Darmstädter Verlags Gustav Georg Lange zu nennen. Lange gehörte zu den gefragten Spezialisten seines Fachs und bewegte sich als Unternehmer im Spannungsfeld einer Kombination von Stecherwerkstatt, Kunsthandel und Zeichenschule. Als Buchhändler, noch nicht 20 Jahre alt, begründete Lange 1831 ein eigenes Sortiments-Geschäft in seiner Vaterstadt, das bald einen guten Aufschwung nahm.4) Lange ließ sich die Herstellung seiner Druckwerke viel kosten. Der Text war genau und anziehend geschrieben, die Ansichten mit künstlerischem Auge ausgewählt und in eigener Druckerei in bester Qualität, teils in Stahl-, Kupfer- oder Zinkdruck, hergestellt.
Heutige Einzelblätter befanden sich in der Regel ursprünglich als Illustrationen in Büchern und wurden später herausgeschnitten. Damit gingen die Bildregie in der Abfolge und die Kommentare des Buches verloren. Um die historische Konstruktion topographischer Erinnerung exemplarisch vorzuführen, wollen wir den ehemaligen Kontext wiederherstellen und uns zu jenem Zimmerreisenden des 19. Jahrhunderts machen, der im Lehnstuhl sitzend „Das Grossherzogtum
Hessen in malerischen Original Ansichten” 5) durchblättert. „Darmstadt, die Residenz des Großherzogs von Hessen und bei Rhein, sowie der Sitz aller Landesbehörden, macht in die Ferne keinen großartigen Eindruck, weil es ihr an hohen Kirchen und an Türmen fehlt, ist aber im Innern eine der freundlichsten Städte Deutschlands.” 6) Mit diesen Worten beginnt Karl Wagner seine Ausführungen im ersten Band, um nach kurzer Darstellung der Umgebung auf die Stadt einzugehen und zunächst die Grunddaten, wie Flächenraum von 1398 Quadratmorgen, 1409 Häuser, 10 freie Plätze etc. zu liefern. Danach beginnt die „specielle Beschreibung mit den schönsten Partieen der Stadt.” 7) Bemerkenswert ist, dass als erstes Bild weder das „Großherzogliche Schloss” noch das „Rathaus”, sondern der „Luisenplatz” regelrecht hymnisch vorgestellt wird: „... man wird überhaupt nicht viele [freie Plätze] finden, die ihm den Preiß der Schönheit streitig machen. Es ist weniger die Pracht der ihn umgebenden Gebäude, als das durch Ebenmaß, Aussicht, Helle, Mannigfaltigkeit und Belebtheit hervorgerufene schöne Ganze, was ihm einen seltenen Reiz verleiht.”8) Bekanntermaßen wurde der Platz, der noch heute ein Viereck bildet, an der südlichen Seite vom großherzoglichen Palais gesäumt, das vom Großherzog in erster Linie als Wohnung und nicht zu Repräsentationszwecken genutzt wurde. Gegenüber lag das ähnlich gestaltete Kanzleigebäude. Hinzu kam das Gasthaus „Traube”, ein Privathaus, und schließlich im Südwesten das stilistisch vergleichbare Ständehaus, das ehemalige Palais des Landgrafen Christian. Die von Jacob Meinrad Bayrer entworfene und von Johann Poppel gestochene Bildtafel zeigt den Platz mit dem Ludwigsmonument,9) „das die Liebe und Dankbarkeit des Volkes seinem großen und noch im Tode hochverehrten Fürsten, dem im Jahre 1830 verstorbenen Großherzoge Ludewig I. zu setzen sich gedrungen fühlte.” 10) Sämtliche Häuser, die Fürstenwohnung, die Landesbehörden und die
Privathäuser, sind zu Füßen des Großherzogs relativ einheitlich gestaltet und gleich geordnet gruppiert, kein Gebäude tritt hervor. Die Platzgestaltung zeigt nicht nur harmonische und klare Strukturen, was dem Idealbild einer Residenz und Beamtenstadt entspricht, sondern diese von Lange publizierte Ansicht – in der Folge mit leichten Variationen wieder und wieder reproduziert – wurde für Darmstadt identitätsstiftend.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts veränderte sich das Bild der Stadt durch die Industrialisierung. Großunternehmen wie die Chemiefabrik Merck oder die Maschinenfabrik Schenck fassten in Darmstadt Fuß.11) Vor allem die Eisenbahn, Sinnbild für das neue Zeitalter, faszinierte die Künstler. So gab der Verlag von J.G. Leuthner einen Stahlstich heraus, der im Hintergrund das Panorama von Darmstadt zeigt. Größengleich zum Schloss und der Ludwigskirche ist rechts die Mercksche Fabrik mit rauchendem Schornstein hinzugekommen. Prominent im Vordergrund fährt eine Dampflok mit mehreren Anhängern auf der 1846 eröffneten Main-Neckar-Bahn. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts stellte die Fotografie für die alten Reproduktionsmedien eine immer stärkere Konkurrenz dar. Dabei orientierten sich die Fotografen an der Ästhetik der graphischen Veduten und wählten etablierte und vertraute Blickachsen. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, verstärkt durch die soziale Mobilität und damit notwendig werdende Kontaktpflege durch Briefe und Postkarten, wurden Stadtansichten mehr und mehr zum Massenmedium. Doch blieb, obwohl die Arbeiter und Angestellten inzwischen über ein Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung stellten, für Darmstadt die Prägung als Beamtenstadt bestehen und der Luisenplatz weiterhin das Sinnbild der eigenen Urbanität. Selbst in der Bilderflut im Internet leben die tradierten Stadtansichten fort. Wer im Internet nach Darmstadt-Bildern sucht, stößt sofort auf den „Langen Ludwig”, das alte Symbol aus Residenzstadttagen.12)
Als Gegenbild zur Repräsentationsstrategie der einschlägigen druckgraphischen Kompendien pflegten die Künstler seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auch den eher privaten Blick auf die Stadt: Hinterhöfe, kleine Gassen und Gärten wurden als Sujet entdeckt. Unter den Darmstadtbildern der Hoffmeister-Sammlung mag dafür ein bislang unveröffentlichtes Wasserfarbenblatt des Stahlstechers C. Schüler vom November 1834 stehen. Laut alter Aufschrift zeigt es einen winterlichen Hinterhofgarten „gesehen von der Schleiermacherstraße aus”. Diese individuelle Aneignung der Stadt widersetzte sich einer Vereinnahmung als allgemeingültiges Identifikationsbild, weshalb solch intime Ansichten privat blieben und nicht den Weg in die gedruckte Auflage fanden.
Die Autorin: Dr. Mechthild Haas ist Leiterin der Graphischen Sammlung des Hessischen Landesmuseums in Darmstadt.
Der Beitrag erschien zuerst im Katalog zur 5. gemeinsamen Ausstellung "Stadt – Bild – Konstruktion" des Hessischen Landesmuseums Darmstadt und der Schader-Stiftung in der Reihe „Bilder gesellschaftlichen Wandels”.
1) Dieter Hoffmann-Axthelm: Der Stadtplan der Erinnerung, in: Kunstforum International, Bd. 128 (Themennummer „Zwischen Erinnern und Vergessen“), 1994, (S. 148-153) S. 148.
2) Vgl. die Bibliographie „Alte Stadtansichten“ von Alois Fauser: Repertorium älterer Topographie.
Druckgraphik von 1486 bis 1750, 2 Bde., Wiesbaden 1978.
3) J.C.C. Hoffmeister wurde am 6. August 1813 als Pfarrerssohn in Eiterhagen/Söhre geboren und ist am 9. Oktober 1893 in Kassel gestorben. Zu seiner Person vgl. Ingeborg Schnack (Hrsg.): Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck 1830-1930, Bd. 3, Marburg 1942, S. 236-239; freundlicherweise hat Prof. Dr. Eckhart G. Franz, Darmstadt, unsere These, dass es sich bei Hoffmeister um den besagten Juristen handelt, bestätigen können.
4) Vgl. Rudolf Schmidt: Deutsche Buchhändler. Deutsche Buchdrucker, Bd. 4, Berlin/Eberswalde 1907, S. 591.
5) Karl Wagner/Gustav Georg Lange/Johann Wolfgang Apell: Das Großherzogthum Hessen in malerischen Original-Ansichten, 3 Bde., Lange Verlag, Darmstadt 1849 (Bd. 1: Starkenburg & Rheinhessen, Bd. 2: Oberhessen, Bd. 3: Frankfurt).
6) [Wie Anm. 5], Bd. 1, S. 3.
7) [Wie Anm. 5], Bd. 1, S. 5.
8) Ebd.
9) Wagner schrieb seinen Text 1842, damals war das Ludwigsmonument noch unvollendet, am 25. August 1844 wurde es eingeweiht. Die Bildtafel ist eine der frühesten Ansichten des 39,15 m hohen Denkmals. Die Säule aus Buntsandstein entwarf Georg Moller. Die 5,45 m hohe und 540 kg schwere Statue aus Bronze wurde von Ludwig Schwanthaler entworfen und von Johann Baptist Stiglmaier gegossen. Vgl. Peter Engels: Kleine Geschichte eines großen Denkmals: Das Ludewigsmonument in Darmstadt, 3. überarbeitete Auflage, Darmstadt 2006.
10) [Wie Anm. 5], Bd. 1, S. 6.
11) Vgl. Rainer Schoch und Peter Thorbecke: Darmstadt 1840-1900-1978. Eine Stadt verändert ihr Gesicht, Ausst. Kat Hessisches Landesmuseum Darmstadt, 1977; Eckhart G. Franz: Im Zeichen der Industrialisierung (1850-1890), in: Darmstadts Geschichte. Fürstenresidenz und Bürgerstadt im Wandel der Jahrhunderte, Darmstadt 1980, S. 354-422.
12) www.darmstadt.de/imperia/md/images/darmstadt-web/dabilder/103.jpg [05.03.2009].