Erinnern und Vergessen: Bilder der Stadt
Artikel vom 07.05.2009
Stadtbilder beschränken sich nie auf Dokumentation, sie stilisieren und idealisieren. In den Umbrüchen der Moderne werden Stadtbilder vollends zu einem Erinnerungsträger nicht nur des Abwesenden – wie beim Reiseandenken –, sondern zum Zeugnis des Bedrohten und Verlorenen schlechthin. Von Gerhard Vinken
Typisierte Stadtbilder
Stadtbilder zeigen Stadt. Dieses Zeigen ist kein Abbilden. Bilder privilegieren bestimmte Ansichten, wählen aus, lassen weg. Sie rahmen, heben heraus. Schon die frühen, kommerziell erfolgreichen Hersteller von Stadtveduten haben immer wieder bestimmte Darstellungsmodi gewählt. Viele der berühmten Stadtansichten von Matthäus Merian d.Ä., dessen einschlägiges Stichwerk „Topographia Germaniae“ maßgeblich zur Kanonisierung von Stadtbildern beigetragen hat, zeigen die Stadtfront vom Felde oder, wenn irgend möglich, vom Ufer eines Gewässers her, überragt von einer Vielzahl prägnanter Türme, so dass sich eine charakteristische Silhouette ergibt. Häufig ist auch die sogenannte Vogelflugsicht, die Totale von schräg oben, wo das Weichbild, die Kontur der Stadt in ihrem Mauerring, die Einbettung in die spezifische Topographie sich zu einem Bild von hoher Prägnanz und Wiedererkennbarkeit zusammenfügen. Den besonderen Reiz dieser Perspektive macht es aus, dass sich die innere Organisation der Stadt mit ihren Hauptplätzen, Verkehrsadern und öffentlichen Großbauten spontan erschließt, und sich darüber hinaus buchstäblich jedes Haus, jeder Garten darstellen und vom stolzen Besitzer auffinden lässt. Bildproduktion und städtische Identität sind eng miteinander verknüpft. Das Venedig Canalettos, das Paris der Impressionisten sind untrennbar von unserer eigenen Wahrnehmung dieser Städte geworden. Typisierte Stadtbilder haben über Generationen Erwartungshaltungen geweckt, Vergleichbarkeiten aufgerufen, Blicke und Bilder gelenkt, bis zu den Erinnerungsfotos der Familienalben.
Transformation der Stadt
Stadtbilder beschränken sich nie auf Dokumentation, sie stilisieren und idealisieren. Schon der genannte Kupferstecher Merian hatte nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges erklärt, seine Stadtansichten seien als Modelle für den Wiederaufbau geeignet, repräsentierten sie doch den idealen Bauzustand eines goldenen Zeitalters, der in Wirklichkeit nicht mehr bestanden hätte. In den Umbrüchen der Moderne werden Stadtbilder vollends zu einem Erinnerungsträger nicht nur des Abwesenden – wie beim Reiseandenken –, sondern zum Zeugnis des Bedrohten und Verlorenen schlechthin. Im Gefolge der Industrialisierung war die europäische Stadt einem vorher nicht gekannten dynamischen Wandel unterworfen, ein Wandel, der den Verlust der vertrauten städtischen Räume und Ordnungen nach sich zog. Der sprunghafte Anstieg der Bevölkerung und die Anbindung an die Eisenbahn führten überall zur Schleifung der Stadtmauern und Wallanlagen. Die wuchernden Vorstädte und Neubauviertel, neue Industrie- und Verkehrsanlagen verwischten die Grenze, die über Jahrhunderte hinweg Stadt und Land geschieden hatte. Auch der innere Stadtumbau, vor allem die zahllosen Schneisen, die für die Erfordernisse des Verkehrs in die alten Quartiere getrieben wurden, veränderten das Gefüge der vertrauten Räume. Die Modernisierung schuf gänzlich neue Gebäudekomplexe und Straßenzüge – und brachte Unordnung, den Verlust von Orientierungspunkten und Identität mit sich.
In seinem Gedicht „Der Schwan“ bringt Baudelaire die umstürzende Erfahrung auf den Punkt, die mit der „Haussmannisierung“ von Paris einherging: „Das alte Paris ist nicht mehr (ach, die Form einer Stadt wandelt sich schneller als das Herz eines Sterblichen)“1. Seit der Antike stand Architektur für Dauer, für Beständigkeit. Stadt bot den festen, geordneten Rahmen, einen Raum, in dem das wechselvolle Leben erst Kontur erhielt. Nun scheinen die Geschwindigkeiten vertauscht. Mit dem neuen Zeitmaß, das von Dickens „Hard Times“ bis zu Chaplins „Modern Times“ durch das monotone, unermüdliche Auf und Ab der Maschinen, die Kolben der Eisenbahn, die Arbeiterströme auf dem Weg zur Schicht vorgegeben ist, wird auch der ordnungsstiftende, steinerne Rahmen der Stadt von der Beschleunigung der Moderne mitgerissen. Der Mensch bleibt hinter den Transformationen seiner Umgebung zurück: eine Erfahrung von Entfremdung und Entwurzelung, die als Nostalgie, Heimatsehnsucht oder Kulturpessimismus die Moderne von Beginn an begleitet.
Das Bild der alten Stadt als Gegenbild
Viele Stadtansichten dieser Zeit sind geprägt von dem Versuch, die bedrohte Einheit wenigstens im Bild zu wahren. Die Embleme der Moderne, die bürgerlichen Kultur- und Repräsentationsbauten, selbst Krankenhäuser und Bahnhöfe treten als Motive neben die etablierten Ansichten und Sehenswürdigkeiten, wie Rathäuser und Kirchen. Doch neben die stolze Dokumentation von Wachstum und Fortschritt tritt zunehmend die Beschwörung des Verlorenen und Vergangenen. Aus den Umbrüchen und Verwüstungen der modernen Beschleunigung taucht das Bild der alten Stadt als ein Gegenbild auf. Zuerst hat der englische Architekt und Architekturkritiker A. W. Pugin in seiner polemischen Moderne-Kritik „Contrasts“2 (1841) das Mittelalter und die mittelalterliche Stadt emblematisch der modernen Zersetzung entgegen gehalten. Der Protagonist des „Gothic Revival“ zeigt die neuere Geschichte als eine Dekadenz- und Verfallszeit, die auch die sinnfällige architektonische Ordnung zerstört hat. Bei der gezeigten zeitgenössischen Stadt ist die klare Scheidung von Innen und Außen aufgelöst und zersiedelt, die Stadtgrenze nicht mehr erfahrbar. Die vielfältige Dichte des Zentrums ist dem bedrückenden Gedränge von Industrie und schattigen Unterkünften gewichen, die reduzierten Kirchtürme konkurrieren mit rauchenden Schloten. Die neue Stadt spiegelt eine Gesellschaft, deren soziale und sittliche Ordnung aus den Fugen geraten ist. Zentral im Vordergrund steht das Gefängnis, dahinter die eingezäunte Irrenanstalt; die große, ehemals vor den Mauern errichtete Abtei links im Hintergrund ist neben einem Eisenwerk zerfallen. Die Ansicht der alten Stadt ist demgegenüber als eine harmonische Einheit, als Verkörperung einer göttlichen und organischen Ordnung gezeigt.
Sehnsuchtsbilder und retrospektiver Städtebau
Die Gegenüberstellung von gotischer und moderner Stadt ist bezeichnenderweise nicht chronologisch im Sinne von vorher/nachher angeordnet. Die alte Stadt ist hier idealtypisches Bild, Gegenbild zur neuen – falschen – Stadt: das Bild der alten Stadt zeigt sich als ein Produkt moderner Stadterfahrung. Solche emotional aufgeladenen Sehnsuchtsbilder wirken heute mehr denn je in die Gestaltung der Städte zurück. Schon der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg hat am Frankfurter Römer, um die Marktkirche in Hannover und andernorts bildhaft montierte Ensembles geschaffen, synthetische Traditionsinseln, die inmitten radikal neu gestalteter Städte Identität sichern sollten. Später richteten sich Nostalgiewelle und „pictorial turn“ im Namen des Stadtbildes gegen eine als „unwirtlich“ empfundene Nachkriegsarchitektur, die nicht nur am rekonstruierten Hildesheimer Knochenhauerhaus idyllischen Ensembles und Architekturen weichen musste. Am Dresdner Neumarkt ist um die Kopie der Frauenkirche ein pseudo-historisches Viertel wie aus einem schlechten Kinderbuch entstanden. Hier wird erfolgreich ein barockes Dresden beworben, das es vor der Zerstörung nicht gegeben hat. Ein retrospektiver Städtebau, von geschönten Sehnsuchtsbildern befeuert, droht städtische Identität zu homogenisieren und zu verflachen. Die Flut der jüngsten Dresdner Stadtansichten veranschaulicht einen unterschätzten Aspekt der Macht der Bilder: Vergessen zu machen.
Der Autor: Prof. Dr. Gerhard Vinken hat den Lehrstuhl für Denkmalpflege am Institut für Archäologie, Bauforschung und Denkmalpflege der Universität Bamberg inne. Von 2009 bis 2012 war er Professor für interdisziplinäre Stadtforschung an der Technischen Universität Darmstadt.
Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Ausstellung „Stadt - Bild - Konstruktion. Bilder gesellschaftlichen Wandels 5“, die 2009 gemeinsam vom Hessischen Landesmuseum Darmstadt und der Schader-Stiftung konzipiert wurde.
1 Zit. nach Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen (1857), zit. nach: Charles Baudelaire: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von Friedhelm Kemp u.a., Stuttgart 2003, S. 229.
2 Augustus Welby Northmore Pugin: Contrasts, or a Parallel Between the Noble Edifices of the Fourteenth and Fifteenth Centuries and similar buildings of the Present Day, Salisbury 1836 (2. Auflage Leicester 1841).