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Fünf Fragen – Zehn Antworten: Larissa Fassler und Mirko Martin

Artikel vom 05.08.2016

Zeichnung, Grafik, Plastik und Film - vier unterschiedliche künstlerische Gattungen und Beobachtungsmittel der Wirklichkeit. Eine Künstlerin und ein Künstler mit vergleichbaren Motiven und inhaltlichen Interessen - wie antworten beide auf die jeweils gleiche Frage? Das Interview führte Klaus-D. Pohl.

Die Ausstellung beschäftigt sich mit Strömen, den urbanen Bewegungen von Menschen, Waren, Bildern. Was war der Auslöser für Ihre künstlerische Beobachtung dieser Ströme?

Larissa Fassler (LF): Ich bin 1996 aus meiner Heimatstadt weggezogen und habe seither in einer Reihe von verschiedenen Städten im Ausland gewohnt. In jeder dieser neuen Städte musste ich die neuen Regeln lernen, mich mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten, den kulturellen Normen und historischen Besonderheiten vertraut machen. Eine geschärfte Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit waren daher für mein Alltagsleben und meine künstlerische Arbeit sehr wichtig.

Mirko Martin (MM): Auslöser war, soweit ich das beurteilen kann, mein generelles Interesse an menschlichem Verhalten, also ein soziologisches, mitunter auch psychologisches Interesse. In Menschenströmen ist immer eine Menge los, und wo viel passiert, kann man auch gut beobachten. Gleichzeitig ist man als Einzelner im Strom anonym. Ich habe mich an Transitorten stets wohl gefühlt, da kann man seine eigene Geschichte hinter sich lassen und in Bewegung eintauchen.

Welche konkreten Bewegungen oder Ströme stehen im Zentrum Ihrer Arbeit und warum?

LF: In meiner Arbeit befasse ich mich mit ganz unterschiedlichen Formen von Strömen und Bewegungen. So habe ich zum Beispiel die verschiedenen Wege nachverfolgt, die Touristen wählen, um einen Platz zu überqueren. Ich habe Menschen beobachtet, wie sie durch einen Bahnhof gehen, oder die Bewegungen der Polizei auf dem Taksim-Platz in Istanbul, der Punks auf der Warschauer Brücke in Berlin und der Obdachlosen vor dem Gare du Nord in Paris. Neben den Bewegungsmustern von Menschen dokumentiere ich aber auch andere Ströme wie zum Beispiel Informationen aus Werbung, Verkehrszeichen, Plakatwänden, Plakaten, Graffiti und Stickern oder die Konzentration touristischer Aufnahmen, das heißt, was an einem bestimmten Ort fotografiert wird. Diese eingehende Betrachtung liefert Erkenntnisse, durch genaues Hinschauen können Annahmen und Vorurteile über einen Ort, seine Umgebung und Einwohner korrigiert werden. Dieser Prozess des Aufzeichnens ist eine Form des intensiven Hinschauens, eine sehr präzise Erfassung eines Ortes. Er ermöglicht ein tieferes Verständnis und eine gewisse Verblendung. Realitätsleugnung kann damit überwunden werden. Beobachten, beschreiben und benennen sind für mich Strategien, um verschiedene Realitäten sichtbar zu machen.

MM: Im Zentrum stehen Bewegungen und Ströme von Menschen, es interessieren mich Sachen wie: Was geschieht an dem jeweiligen Ort? Wie verhält sich die Masse? Was herrscht für eine Stimmung? Passiert etwas Außergewöhnliches? Gibt es eine generelle Art, wie sich die Personen verhalten? Wenn ja, warum? Gibt es einzelne Personen, die aus der Masse hervorstechen? Sind die Leute „sich selbst“, oder welche Funktion kommt ihnen zu? Solche Fragen interessieren mich auch „in echt“, insofern gehe ich einfach persönlichen Vorlieben nach und versuche dann, den Beobachtungen eine Form zu geben, um sie auch für andere Zuschauer reizvoll erscheinen zu lassen.

Welche Rolle spielt die Auswahl des Ortes, an dem die Ströme wahrgenommen werden?

LF: Es sind vor allem die unspektakulären, alltäglichen Durchgangsorte in einer Stadt, die mich interessieren: U-Bahnhöfe, unterirdische Durchgänge, Verkehrskreisel und Plätze. Nicht eindeutig zugeordnete, häufig auch problematische Orte, die verfehlten Vorstellungen der Moderne oder bürokratischem Pragmatismus entspringen, faszinieren mich besonders, diese chaotischen, etwas abgründigen Plätze mit einer schwierigen Geschichte, wo es häufiger zu Zusammenstößen kommt und die voller Gegensätze sind.

MM: Da menschliches Verhalten ortsabhängig ist, kommt der Ort quasi von selbst ins Spiel, wenn man draußen unterwegs ist und Aufnahmen von Menschen macht. Na ja, ein bisschen Action sollte schon auch dabei sein, sonst wird es langweilig. Beim Beobachten taucht für mich schnell die Frage von Selbst- und Fremdbestimmung der Leute auf, welche Aspekte des Handelns also gleichsam vorgegeben erscheinen und wo Raum für individuelles Handeln besteht. Gibt es Inkongruenzen zwischen Ort und Handlung? Daran schließt sich auch die Frage an, was eigenmächtiges Handeln überhaupt bedeutet. Da ist der Ort vielleicht nur ein Katalysator für mich. Letztlich sehe ich oft die Rollen, welche von Leuten in einer bestimmten Situation eingenommen werden und das Bild, das sie dadurch, wie bewusst auch immer, von sich zu vermitteln trachten.

Welche Bedeutung und welchen Einfluss hat der Standpunkt des Beobachters für die künstlerische Wahrnehmung der Bewegungen in einem urbanen Raum?

LF: Beobachtungen sind subjektiv, meine Arbeit beruht auf unmittelbaren Erfahrungen. Im Gegensatz zu Stadtplanern und Architekten vermesse ich den öffentlichen Raum nach meinem eigenen anatomischen Messverfahren: Ich nehme meinen eigenen Körper als Bezugspunkt, meine Größe, die Spannweite meiner Arme und die Länge meiner Schritte. Ich laufe das Perimeter von Mauern ab und zähle meine Schritte, um kleine, aber fragmentierte Vermessungen von Grundrissen zu erstellen, nämlich von jeder Ecke, jeder Ebene, von Tunnels, Durchgängen, Treppenhäusern, Rolltreppen, Aufzügen, Eingängen und Ausgängen meines ausgewählten Ortes. Sobald ich fertig bin, wiederhole ich diesen Akt des Abgehens, Zählens und Aufzeichnens. Häufig erfasse ich den gleichen Bereich mehrmals auf diese Weise. Durch diesen Prozess ergibt sich eine Reihe von Interpretationen (oder Übertragungen) desselben Ortes, die sich hinsichtlich Genauigkeit, Abmessungen und Proportionen unterscheiden.

MM: Der Beobachterstandpunkt ist natürlich immer von ästhetischer Wichtigkeit, bezüglich Motiv, Ausschnitt, Licht und so weiter. Man weiß ja, wie wichtig diese Dinge sind; ist das Bild nicht interessant, schaut eh keiner hin. (Ich hoffe doch, dass wenigstens ein paar Besucher bei meinen Videos hinschauen...) Bei dichten, vielfältigen Bewegungen im Stadtgebiet muss man auch aufpassen, dass man das Objekt der Begierde überhaupt gut erwischt, man kann sich ja auch nicht überall hinstellen. Man muss oft schnell reagieren. Außerdem bestimmt man durch Standort und Bildausschnitt, was der Zuschauer letztlich sieht und was nicht. Bei einigen meiner Arbeiten spielt Exklusion eine Rolle – der Bezug auf etwas, was nicht im Bild zu sehen ist, was aber trotzdem maßgeblich zur Aktion im Bild beiträgt. Durch diese Leerstellen entstehen dann eben auch bildreflexive Fragestellungen. Ein wenig zum Nachdenken sollte Kunst ja schon anregen. Sonst könnte man auch Til Schweiger gucken.

In welcher Weise prägt das Fließende des Stroms die künstlerische Form beziehungsweise Gestaltung in Ihrem künstlerischen Medium – ob Zeichnung, Plastik oder Film?

LF: Meine künstlerische Methode beruht auf zwei Arbeitsweisen. Ich fertige kartografische Hybriden und auch Objekte an, eine Mischform aus Modell und Skulptur. Obwohl sich die Endergebnisse stark voneinander unterscheiden, entspringen beide doch der Beobachtung urbaner Orte und dem Versuch zu ergründen, wie bestimmte Plätze funktionieren. Aus der Kartografierung der „Ströme“ entstehen Zeichnungen, die menschliche Aktivitäten abbilden und beschreiben, aber auch auf Schrift basieren und verschiedene Informationsschichten einschließen. Dieser Fokus auf die menschliche Bewegung hat bei der Arbeit an meinen Objekten ein verstärktes Interesse an städtebaulichen Zwischen- oder Innenräumen geweckt. Der Platz, der Tunnel oder die Lücken zwischen Mauern und Fassaden sind die Orte, wo sich das Leben, die Aktivitäten und die Interaktionen von Menschen abspielen.

MM: Allgemein kann ich das nicht sagen. Es hängt ja immer davon ab, was an einem Ort geschieht. Bei „Traffic“, dem ersten in der Ausstellung zu sehenden Film, habe ich versucht, die hektische Atmosphäre, die auf dem LKW-Verladeplatz herrschte, im Schnitt durch eine schnelle Rhythmisierung zu spiegeln sowie den Aspekt des Orchestrierens und Dirigierens hervorzuheben. Die Arbeiter sind die Dirigenten und die LKWs machen die Musik. Gleichzeitig drücken die Gesten auch aus, wie sich jemand in einem Gebiet behauptet: dominant, zurückhaltend, selbstbewusst, pflichtbewusst, entspannt, genervt und so weiter. Das sind also die Untertöne der Melodie. Beim Schneiden hatte ich auch die Idee, die Fahrzeuge als Wischblenden zu benutzen. Daraus ergab sich dann eine Art Leitlinie, aus der heraus sich der Schnitt folgerichtig anfühlte. „5th Street“, die andere Arbeit in der Ausstellung, greift vorüberfahrende Autos und Busse als Blenden an einigen Stellen wieder auf, allerdings nicht so dominant. Das Video hat nur wenige Schnitte, dazu ist die Kamera unbewegt. Hier geht es nicht um fließende Bewegungen, sondern im Gegenteil um ein Stocken, um eine Gruppe von Menschen, die sich, gerade in ihrer Statik – die Leute warten ostentativ an einer Fußgängerampel, überqueren trotz Grünphase aber nicht die Straße – rätselhaft verhält. Die Kamera hält im Prinzip einfach auf die Situation drauf, so dass man über ein paar Minuten hinweg beobachten und sich Gedanken zur Zusammensetzung der Gruppe und zum möglichen Grund für ihr Verweilen machen kann.


Die Antworten von Larissa Fassler wurden von Petra Gaines vom Englischen ins Deutsche übersetzt.

Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Ausstellung „Transit: Ströme“, die vom 15. April bis 4. September 2016 in der Galerie der Schader-Stiftung gezeigt wurde.

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