Human Upgrade. Susanna Hertrich und Hannes Wiedemann
Artikel vom 08.03.2017
Die Werke von Susanna Hertrich und die Fotografien von Hannes Wiedemann konfrontieren uns mit uns selbst. Kein Bereich des Lebens betrifft uns so stark wie die eigene Leiblichkeit. Sie ist unsere Existenz, sie ist die materielle Substanz des Humanen und letztlich der Humanitas als Selbstverständnis. Von Klaus-D. Pohl
Überwindung menschlicher Grenzen
Im Zentrum der Leiblichkeit und der Humanitas steht auf der einen Seite der Wunsch nach Unversehrtheit – Grundlage des Schutzes der Gesundheit und der eigenen Zukunftsfähigkeit. Auf der anderen Seite führt seit Bestehen der Gattung Mensch die Tatsache, dass die körperlichen und geistigen Fähigkeiten beschränkt sind, zu Versuchen, diese zu optimieren. Das Gefühl der Beschränktheit ist jedoch nicht a priori vorhanden, es ist die Reaktion auf bestimmte Herausforderungen der Umwelt, die uns dazu zwingen, entsprechende Wege zur Bewältigung dieser Herausforderungen zu finden. Die „Enhancement-Gesellschaft“, wie sie auch in den Beiträgen dieses Magazins angesprochen wird, ist daher zunächst keine neue Tatsache. Die Brisanz, mit der sie heute diskutiert wird, hat ihren Grund nicht in dem eigentlichen Bestreben, Körper und Geist zu optimieren, um bisher empfundene Grenzen zu sprengen oder Hilfe zur Verbesserung der vorhandenen Fähigkeiten zu erhalten. Sie hat vor allem ihre Ursache in der Diskussion um die Zweckbestimmung des „Enhancement“.
Für die Kunst, sei es Mythos, Literatur, Poesie, Bildwerke und Film, war und ist das Thema der Überwindung menschlicher Grenzen beziehungsweise die „Aufrüstung“ der Fähigkeiten eine Quelle zahlreicher Werke. Allein die Rüstung selbst ist Ausdruck dieses Willens, leiblichen Schutz zu haben und mit ihr zugleich apparativ auf Bedrohungen zu reagieren, vielfach variiert in historischer Realität und künstlerischer Phantasie. Susanna Hertrich entwickelt in ihren Arbeiten reale und spekulative Möglichkeiten, der gefährdeten und gefährlichen Umwelt etwas entgegenzusetzen. Ihr „gerüsteter“ japanischer Samurai im radioaktiv verseuchten Umfeld des Katastrophengebiets Fukushima macht die Gefahr öffentlich und überlässt sie nicht der Informationspolitik der Experten – wo auch immer. Die am Kopf anzulegende und mit den Lippen verbundene Apparatur des „Jacobson’s Fabulous Olfactometer“ reagiert wie ein instinktiver Impuls auf den Grad der Luftverschmutzung. Mit den „Prostheses for Instincts“ versucht Susanna Hertrich sogar, Gefahren politischer und ökologischer Art vorausschau- und wahrnehmbar zu machen. Die bedrohte Autonomie des Leiblichen, die von der Umwelt ausgeht, wird fühlbar bis hin zum Versuch der experimentellen Vereinnahmung tierischer Instinktfähigkeit, von der wir wissen, dass sie der des Menschen in vieler Hinsicht weit überlegen zu sein scheint.
„Enhancement“ im digitalen Zeitalter
Ist bei Susanna Hertrich das Hilfsmittel der Prothese im weitesten Sinne aufgegriffen und über die traditionelle mechanische Erleichterung hinaus erweitert, bezieht sich die Dokumentarfotografie des Berliner Fotografen Hannes Wiedemann auf die prothetische Entwicklung im digitalen und minimalinvasiven Zeitalter: die Implantierung technischer Apparaturen im Körper. Hier öffnet sich ein weites Spektrum von der medizinischen Anwendung bis hin zu bloßer technischer Spielerei mit dem Möglichen. So sehr diese Implantierungen als medizinische Hilfsmittel akzeptiert werden, sie erwecken dann Misstrauen, wenn sie elektronisch gesteuert oder digital vernetzt sind. Die Bedenken vor einer möglicherweise nicht beherrschbaren „künstlichen Intelligenz“ ist omnipräsent. Hannes Wiedemann findet dagegen im subkulturellen Milieu der USA einen ganz unkomplizierten Umgang mit diesen Innovationen. Seine Fotografien dokumentieren in glasklarer Sachlichkeit den Lifestyle-Spaß der Menschen, die sich selbst entwickelte Apparaturen mit unterschiedlichem Nutzen unter die Haut operieren. In provisorischen Labs und mit dem kommunikativen Einsatz eines Hobby-Bastlervereins spielen sie mit diesen Implantierungen auf vermeintlich ganz unschuldige Weise. Wiedemann geht fotografisch exakt vor, bewegt sich unter diesen Menschen, beobachtet sie und fängt spontan Szenen ein, welche deutlich machen, dass die Entwicklung des „Enhancements“ in diesem Umfeld abweicht vom hochwissenschaftlichen und zielgerichteten Optimieren im Sinne einer Leistungsgesellschaft.
Hannes Wiedemann greift nicht ohne Hintergrund diese spielerische Variante auf, ist sie doch von größerer persönlicher Betroffenheit gekennzeichnet als die Dokumentation eines klinisch-technischen Verfahrens oder eine fotografische Begleitung von akademischen Diskussionen über „Enhancement-Gesellschaft“ und Transhumanismus. Es könnte der Nachbar in seiner Garage sein, der mit dieser technischen Avantgarde experimentiert. Der grelle Blitz fällt auf die versehrte Körperlichkeit – den Preis der Optimierung des Humanen.
Susanna Hertrichs Arbeiten dagegen sind teilweise in universitären Labs mit Designern, Verhaltensbiologen und Naturwissenschaftlern entwickelt. Die Nähe zur realen wissenschaftlichen Forschung ist offensichtlich. Dennoch bleibt ein Rest an phantasievoller und utopischer Spekulation, aber mit in die Gesellschaft greifender Sprengkraft als Hilfe zur Selbsthilfe in einem kritischen politischen und ökologischen Umfeld – ein kleiner, aber deutlicher Schritt zur Humanitas.
Der Autor: Dr. Klaus-D. Pohl ist Oberkustos für Malerei und Plastik des 19. bis 21. Jahrhunderts am Hessischen Landesmuseum in Darmstadt. Er ist Mitglied im Großen Konvent der Schader-Stiftung und im Beirat der Galerie der Schader-Stiftung. Seit 2014 ist er kuratorisch verantwortlich für die Ausstellungsreihe „DIALOGE - Gesellschaftswissenschaften und Kunst“ in der Galerie der Schader-Stiftung.
Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Ausstellung „Human Upgrade“, die vom 14. Oktober 2016 bis 5. März 2017 in der Galerie der Schader-Stiftung gezeigt wurde.
Zum Weiterlesen
www.susannahertrich.com
http://thecreatorsproject.vice.com/blog/wearable-prosthetic-detects-air-pollution
www.medinart.eu/works/susanna-hertrich
www.berlinartlink.com/2015/11/24/susanna-hertrich
www.hannes-wiedemann.de
FOG – Documentary Dispersed, Berlin 2016
Warren Ellis (ab 2007): Doctor Sleepless. Rantoul, Illinois (USA): Avatar Press