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Marion Eichmann und Timo Klein: Urban Views

Artikel vom 04.05.2015

Timo Klein: Cityscapes (Saigon#1111), 2011, Copyright Timo Klein

Bangkok: 12 Mio. Einwohner, laut, heiß, anstrengend. Singapur: 5 Mio. Einwohner, die Rennwagen der Formel 1 brausen durch den neuen Stadtteil Marina Bay. Tokio: 9 Mio. Einwohner, 18 Uhr, 15 000 Menschen überqueren gleichzeitig eine Kreuzung im Stadtteil Shibuya. New York City: 8 Mio. Einwohner, riesige Neonleuchtreklamen, do you feel stressed? Von Anja Gerdemann

Abenteuer Großstadt

Die Hälfte der Erdbevölkerung, etwa drei Milliarden Menschen, lebt heutzutage in Großstädten und es werden immer mehr. Hong Kong hat 6440 Einwohner pro km², Berlin nur halb so viel. Eine pulsierende Wirtschaft, kulturelles Durcheinander, verschiedene Ethnien und Bevölkerungsschichten, Umwelt-, Verkehrs- und Platzprobleme kennzeichnen die Großstädte, die Timo Klein und Marion Eichmann bereisen. Die beiden Künstler eignen sich die urbanen Räume auf unterschiedliche Art und Weise an. Während Eichmann mit Zeichenblock und Bleistift in die Häusermenge, Straßenzüge und Cafés der Metropolen eintaucht, sucht Klein für seine Fotografien die Ruhe und Einsamkeit in den obersten Stockwerken der Wolkenkratzer. Verbindendes Element der Arbeiten von Timo Klein und Mario Eichmann ist die Auseinandersetzung mit der Architektur, Ästhetik und Atmosphäre der Städte. Ihre Zeichnungen und Fotografien, farbigen Collagen und großformatigen Installationen spiegeln die urbane Verdichtung der Städte auf eine außergewöhnliche und sehr sinnliche Art und Weise wider. 

Verdichtung

Als Unternehmensberater hatte Klein oft beruflich in Asien zu tun und ist mit den Businessdistrikten der Städte vertraut. Seit einigen Jahren erkundet er als Fotograf auf eigene Faust die städtischen Ballungsräume, begeistert sich für die massenhaft auftretende und gleichförmig erscheinende Hochhausarchitektur in den Megastädten und arbeitet deren Schönheit heraus. Für seine Serie „Cityscape“ nahm Klein unter anderem Bangkok, Hong Kong, Singapur und Ho-Chi-Minh-Stadt in den Blick. Keine Straßen oder Menschen sind auf den Fotos von Bangkok zu erkennen. Klein nimmt die thailändische Hauptstadt als urbane Landschaft wahr, konzentriert sich auf die Hochhausstruktur und den weiten, smog-geschwängerten Himmel, der ein weiches Licht verbreitet. Für die Serie wählt er ein harmonisierendes quadratisches Bildformat. Die Ausschnitte sind so gewählt, dass durch die Farbigkeit mancher Gebäude oder durch Grünflächen zwischen den Häusern rhythmische Akzente gesetzt werden.

Die Stadt Hong Kong sieht sich mit einem enormen Platzproblem konfrontiert, wie Pilze sprießen die Hochhäuser aus dem Boden und erobern die Lüfte. Für seine Aufnahmen begibt sich Timo Klein selbst in die Höhe. Bis in den 88. Stock trägt er sein Equipment, manchmal sogar bis auf das Dach der Wolkenkratzer. Von den schwer zu erreichenden Ausblicken, weit entfernt von den Motorgeräuschen, Gerüchen und dem Gewimmel der Menschen, entstehen Bilder der Millionenstädte, die sich von den Prospekten in Reisebüros unterscheiden. Klein entdeckt Baustellen, Satellitenschüsseln oder einladende Dachterrassen. Durch seinen analysierenden Blick entsteht ein überraschend strukturiertes, harmonisches Bild schnell hochgezogener Viertel. Die bewusst gesuchte Distanz zwischen Fotograf und Objekt ermöglicht dem Betrachter, die Gebäude in ihrer Individualität wahrzunehmen.

Den Drang, in fremde Welten einzutauchen und sich auf das Abenteuer Großstadt einzulassen, verspürt auch Marion Eichmann. Nur schwer kann man sich der Leichtigkeit und Lebensfreude des überlebensgroßen, tanzenden iPod-Girls der Apple-Reklame entziehen, das die Künstlerin während ihres Aufenthalts in New York 2005 entdeckte. Ausschließlich mit dem Bleistift eignet sie sich die Städte an und setzt sich der Reizüberflutung voll aus, indem sie sich zwischen den Passanten einen Platz am Straßenrand sucht oder vom 11. Stock eines Hochhauses aus auf den jährlich von Millionen von Touristen frequentierten Times Square blickt. Strich für Strich, Linie für Linie füllt Eichmann ihre Zeichenblätter und analysiert so die Struktur der New Yorker Architektur.
 
Die mit Fineliner ausgeführte Fassung der vor Ort entstandenen Bleistiftzeichnung, zeigt den Platz nicht aus der Perspektive der shoppenden Touristen. Sie präsentiert eine andere Realität, das Leben hinter der schicken Konsumwelt, eine von Backsteinarchitektur geprägte Stadt mit Wohnungen, Büros, Baustellen, Schrott. Mit einem Augenzwinkern bringt die Künstlerin die Überforderung, welche die Stadt mit sich bringt, zum Ausdruck, indem sie eine Reklametafel mit dem Schriftzug „Feel stressed…?“ ins Bild integriert.

Eichmanns Arbeitsprozess ist ebenso aufwendig wie der Timo Kleins. Während der Fotograf mitunter stundenlang bei Minustemperaturen oder tropischer Hitze auf die richtigen Lichtverhältnisse für ein Foto wartet, sitzt Eichmann bis zu neun, zehn Stunden vor Ort, um jedes Detail wahrzunehmen. Ihre Arbeitsweise kommt einem Lernprozess des Sehens und Strukturierens gleich und wirkt wie eine Methode, um der Überforderung der eigenen Sinne entgegenzuwirken. Nach der Rückkehr von einer Reise ist die Arbeit an einem Bild für die Künstlerin nicht beendet. Sie vergrößert die Formate, setzt Farbakzente durch ausgeschnittenen und aufgeklebten Karton, so dass nicht zuletzt in ihrer handwerklichen Qualität faszinierende, reliefartige Eindrücke von Häuserschluchten, Straßenecken und Fassaden entstehen.

Schließlich werden die Arbeiten sogar zu dreidimensionalen Collagen. Eichmann baut Fundstücke ein, die für sie Städtisches verkörpern, Flaschendeckel, Bindfäden, kleine Plastikteile. Die Typografie von Straßenschildern, Läden und Hotels wird durch ausgeschnittene Buchstabenfolgen ins Bild aufgenommen und verweisen auf Geschäftigkeit und Verkehr, doch die Menschenmassen werden in Marion Eichmanns New-York-Arbeiten genauso wie bei Timo Klein konsequent ausgeklammert.

Die urbane Verdichtung bringt Klein durch Fotografien von genauso endlos wirkenden Fensterreihen, wie bei Eichmann zeichnerisch festgehalten, zum Ausdruck. Linien, Muster, Farbbänder füllen das komplette Bildformat aus, kein Himmel ist auf den Fotos der Serie „Compact Life“ zu sehen. Schwer zu sagen, wo ein Gebäude anfängt, wo es aufhört, so grenzenlos verschachtelt ist die Architektur, so oft wiederholt sich ein und dasselbe architektonische Element. Ein Gefühl für die Größenverhältnisse bekommt man durch einen vorbeifahrenden LKW. Der pastellfarbige Anstrich der Häuser wirkt wie ein Widerspruch zu ihrer Massivität. Einfamilienhäuser scheinen nicht nur für den sozialen Wohnungsbau in Shanghai, sondern auch für die Mittelschicht Hong Kongs unvorstellbar. So anziehend die Nachtaufnahmen der Gebäudekomplexe sind, deren beleuchtete Fenster die Neugierde auf einen Blick ins Innere wecken - wie soll man sich bei diesen beengten Wohnverhältnissen zurückziehen und zur Ruhe kommen? Das wie ein Bild eines goldenen Käfigs wirkende Foto in den Innenhof eines Wohnhauses in Hong Kong gibt keine befriedigende Antwort auf diese Frage.

Hektik

Die zu hunderten 2009 in Istanbul entstandenen Farbstiftzeichnungen Marion Eichmanns wirken im Vergleich zu den New York-Arbeiten skizzenhaft, unfertig, ohne eindeutige Perspektive. Orientierungshilfen könnten die Schriftzüge von Werbe- und Straßenschildern sein, die meisten versteht man nicht, weil man genauso wie die Künstlerin der Sprache nicht mächtig ist. Dennoch sind die Arbeiten allgemein verständlich. Dominierten in den New-York-Arbeiten die Backsteinfassaden, so gibt Eichmann in ihren Istanbuler Straßenszenen mit expressivem Strich das Durcheinander, die Hektik und das Tempo der 10-Millionen-Stadt wider. Sie zeigt Stromleitungen, den Verkehr, Märkte, Polizei und Passanten, Menschen in strömendem Regen. Die Ansichten von New York wirken im Vergleich zu diesen unkonventionellen Straßenbildern sehr aufgeräumt.
 
Erst auf den zweiten Blick erkennt man die vielen Passanten rund um den Ben Tanh Market in Ho-Chi-Minh-Stadt, den Klein nach Einbruch der Dunkelheit vom 56. Stockwerk des 2010 fertiggestellten Bitexco Financial Towers, damals das höchste Gebäude Vietnams, fotografiert hat. Es ist eine der wenigen Arbeiten Kleins, die eine von Menschen belebte Straßenszene zeigen. Wenn es einem gelingt, die riesige Kreuzung zu überqueren, kann man sich hier nach langen Arbeitstagen direkt ins Nachtleben stürzen. Es heißt, in Singapur sei der Fahrstil disziplinierter als in Vietnam, doch als ob es auch hier nicht schon genug Verkehr in der Stadt gäbe, wurde für den Großen Preis von Singapur die temporäre Rennstrecke direkt durch Marina Bay, einen neu geschaffenen Stadtteil am Hafen, gebaut.
 
Direkt nach dem Ende ihres Design-Studiums besuchte Marion Eichmann das erste Mal Asien. Damit reiht sie sich in die lange Tradition von Akademieabsolventen ein, die nach ihrem Studium in München oder Düsseldorf nach Rom und Paris gingen. Marion Eichmann suchte im Jahr 2004 Inspiration außerhalb Europas und ging nach Japan. Ihre erste Begegnung mit Tokyo brachte sie in verschiedenen Medien zum Ausdruck. Sie kam gar nicht dazu, sich mit der japanischen Kunst auseinanderzusetzen, denn der alltägliche Wahnsinn auf Tokyos Straßen bot bereits genug Anregung für ihre Arbeit. Ihre Eindrücke flossen in eine Rauminstallation ein, die aus 50 Plastikhockern aus japanischen Badehäusern besteht, mit denen sie das sich auf mehreren Ebenen abspielende Straßengewirr der gigantischen Shibuya Station aufgreift. Jeder einzelne Hocker stellt eine Momentaufnahme dar. Dafür baut Eichmann Fast Food aus Pappe, einen sich ins Dreidimensionale auflösenden Stadtplan aus Plastikdrähten, darunter Schiffsverkehr, darüber Züge und Fahrräder, und ergänzt sie um 400 kleine Spielzeugautos, die zwischen den Hockern umherfahren. Die 25 Quadratmeter große Arbeit Tokyo Mono ist ein Sinnbild für die totale Reizüberflutung. Für ihre Tokyo-Collagen beobachtete Eichmann Menschen in Cafés beim Zeitunglesen und Teetrinken und wunderte sich darüber, dass man auf der Straße kein Brot essen, aber in der Suppenbar den Lockenstab benutzen darf.

Erschöpfung

Seit 2014 fotografiert Timo Klein Passagiere in den U-Bahnen Hong Kongs. Die Fotos zeigen Männer und Frauen verschiedenen Alters, Berufstätige mit umgehängter Tasche, die von der Arbeit kommen, zur Arbeit fahren. Keiner der U-Bahnnutzer liest, spielt mit dem Handy oder unterhält sich mit seinem Sitznachbarn. Die Fotos zeigen vielmehr Schlafende, die sich für ein paar Minuten der Großstadthektik entziehen. Die Aufnahmen kamen zustande, indem Timo Klein seine Kamera mit drehbarem Monitor im Schoß hielt, so dass er die ihm gegenübersitzende Person, ohne bemerkt zu werden, fotografieren konnte. So entstanden ungestellte, nicht inszenierte Porträts von anonymen Großstadtbewohnern. Indem Timo Klein die Passagiere von ihren Sitznachbarn isoliert, betont er den kurzen Moment des Rückzugs des Einzelnen ins Private.

Timo Kleins Blick ist westlich geprägt, einem asiatischen Künstler könnte der Anblick von Schlafenden in der Öffentlichkeit so vertraut sein, dass er aufgrund der Alltäglichkeit über sie hinwegsieht. Der öffentliche Schlaf ist in der asiatischen Kultur nicht verpönt, sondern ein sozial anerkanntes Ritual, das keine Rückschlüsse auf Faulenzertum ziehen lässt, sondern auf die hohen Anforderungen im Arbeitsalltag verweist. Man schläft öffentlich, um zu demonstrieren, dass man viel arbeitet. Dabei scheinen feste Regeln zu gelten. Unordentlich oder alkoholisiert wirkt auf den Fotos Timo Kleins keine der Personen. Keiner droht Gefahr zu laufen, auf den Nachbarn zu kippen, alle sind konditioniert. Die Megastädte ringen ihren Bewohnern die Fähigkeit ab, auf engstem Raum zu leben, mobil zu sein, sich flexible Schlafgewohnheiten anzugewöhnen. Vertrauen muss vorhanden sein, um sich so schutzlos zu zeigen wie die Schlafenden in „Hong Kong Seconds“. Hong Kong ist eine der sichersten Städte der Welt und macht das möglich. Hut ab vor den Passagieren, die die Kunst des rechtzeigen Aufwachens an der Zielstation genauso beherrschen wie das sekundenschnelle Einschlafen bei Fahrtbeginn.

Timo Klein und Marion Eichmann tauchen mit allen Sinnen in die Lebenswelten der Großstädte ein und greifen mit ihren Arbeiten die Atmosphäre im urbanen Raum auf. Ihre Ziele, die sie als Künstlertouristen bereisen, sind in vieler Hinsicht Gegenwelten zu dem, was sie und die Betrachter sonst umgibt. Ihre „Urban Views“ erweitern unsere Wahrnehmung fremder Länder, Menschen und Gewohnheiten. Trotz Überforderung, Irritation und aller Ambivalenzen sind die Arbeiten von Marion Eichmann und Timo Klein aber vor allem Ausdruck ihrer Begeisterung für das Abenteuer Großstadt.

Die Autorin: Dr. Anja Gerdemann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hessischen Landesmuseum in Darmstadt. Sie ist Mitglied im Großen Konvent der Schader-Stiftung und im Beirat der Galerie der Schader-Stiftung.

Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Ausstellung „Künstlertourist: Urban Views", die vom 17. April bis 6. September 2015 in der Galerie der Schader-Stiftung gezeigt wurde.

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