Orte der Erinnerung. Rebecca Wilton und Florian Albrecht-Schoeck
Artikel vom 07.03.2016
„In den leeren Straßen. Ich frage mich, was Architektur ist, was Blumenkübel sind, was ist ein Parkplatz. Es ist kalt, und es ist kalter Abend. Menschen keine; Stille ist nicht zu erfinden. Vor einem Schaufenster stehend zähle ich 47 brennende Lampen.“ Jürgen Becker, Kalter Abend, 1977. Von Klaus-D. Pohl
Transit-Orte und „Nicht-Orte“
Als der Schriftsteller und Lyriker Jürgen Becker 1977 das Gedicht „Kalter Abend“ schrieb, lag die „Bleierne Zeit“ über Deutschland. Fotos von Tatorten wurden auf den Titelseiten der Zeitungen platziert: unauffällige Straßenkreuzungen, anonyme Kellerräume, Flugzeuge auf Rollfeldern. Transit-Orte und „Nicht-Orte“ zugleich, definiert durch ihre Eigenschaften als vorübergehend gebrauchte, alltägliche Orte ohne besondere, geschweige denn identitätsstiftende Bedeutung. Diese Orte erhielten nun durch ihre kriminelle Nutzung und ihre Zuordnung in den Medien eine zeitgenössisch außergewöhnliche und im Nachhinein historisch herausragende Relevanz. Sie wurden bedeutend.
Was macht eine Garageneinfahrt, einen verlassenen Parkplatz, eine menschenleere Straße zu besonderen Orten? Eigentlich zunächst nichts. Der französische Ethnologe und Anthropologe Marc Augé beschreibt sie in seinem grundlegenden Buch „Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit“ (Frankfurt 1994). Wir benutzen und sehen diese Orte, Plätze, Räume als das, was sie sind: als Transit-Orte ohne nachhaltige individuelle Bindung. Es liegt etwas Unbestimmtes über diesen Orten. Florian Albrecht-Schoeck fotografiert sie und wir wissen nicht, ob es beispielsweise Tatorte sein könnten. Ob irgendetwas passiert ist oder passieren wird, ist nicht zu erkennen. Sie könnten unheimliche Orte sein, es könnte aber auch im nächsten Augenblick eine fröhliche Kinderschar kommen und die leeren Strandrutschen mit Freudekreischen bevölkern. Diese Orte werden durchschritten, genutzt, bespielt, dann wieder verlassen, vergessen, ignoriert, als ob sie nicht mehr existieren würden. Der Transit ist doppeldeutig: im räumlich-physischen und im geistigen Sinne. Nutzung und Abnutzung gehen Hand in Hand, der physische Zustand ändert sich entsprechend, Bedeutung und Sinnhaftigkeit sind flüchtig, je nach Gebrauch und Nutzen.
Albrecht-Schoeck betitelt eine der ausgestellten Serien als „Heimat“. Er reiste durch verschiedene europäische Länder. Die Fotos stammen aus unterschiedlichen Gegenden und Orten. Sie sind topografisch nicht zugeordnet. Sie stehen für mehr als einen Ort. Heimat ist nicht heimelig, sondern sie ist so, wie sie ist. Eine Garageneinfahrt ist nötig, eine Feuerwehrzufahrt sogar überlebenswichtig. Bauruinen sind nicht schön, doch Zeugen eines Wandels, wer weiß wohin. Merkwürdige Ecken an Bauzäunen, abgestellte Autowracks, versperrte Fenster an billigen Einfamilienhäusern sagen viel über die Veränderung des Lebens aus, doch nur in unserer Vorstellung. Kennen wir den ehemaligen Besitzer des Autos und seine Gründe? Was geschieht hinter den Jalousien? Lohnt es sich überhaupt, darüber nachzudenken? In einer Heimat eventuell schon, als vorbeifahrender Reisender sicherlich nicht. Im Transit bleibt nichts haften.
Erinnerung an eine bessere (?) Vergangenheit
Orte können mit Geschichte und Erinnerungen verbunden sein. Rebecca Wilton durchstreifte in den Jahren nach der Wende Leipzig und andere Ortschaften, Transit-Orte größtmöglicher Belebung und Nutzung wie Kaufhäuser, Bahnhöfe, Wohnsiedlungen. Sie fand sie verlassen, teilweise dem Verfall preisgegeben, nun wiederum größtmöglicher physischer Veränderung ausgeliefert. Auch hier ist Transit doppeldeutig wie in den Schwarz-Weiß-Fotos von Albrecht-Schoeck. Doch wird dem Bild mit der Figur einer Frau, der Künstlerin, ein besonderer Aspekt hinzugefügt. Sie wird zu einem ganz persönlichen, individuellen Bestandteil dieser Orte. Manchmal kaum zu erkennen, wirkt die Figur wie eine stille Wächterin über diese Veränderung oder wie eine Person, die eher hilflos und verloren an einem Ort steht, auf den sie keinen Einfluss mehr hat. Hier wirken mittlerweile andere Kräfte, die wiederum nicht auszumachen sind. Es ist auch hier unserer Vorstellung überlassen, uns die ehemalig heilen Welten oder ihre mögliche Zukunft vorzustellen.
Vermittelt Albrecht-Schoeck nahe am Dokumentarischen, am „Ausschnitt“ der Welt, setzt Rebecca Wilton mit ihren großformatigen, farbigen Fotografien das Verhältnis von Ort und Individuum in Szene. Der Untertitel des Buches von Marc Augé – „Ethnologie der Einsamkeit“ – greift hier unmittelbar. „Nicht-Orte“ können zu Orten der Enttäuschungen werden. Die bessere (?) Vergangenheit scheint in der Verlassenheit auf. Das „einsame“ Individuum in den Fotografien von Rebecca Wilton, „der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet“, setzt seine Identität in den Raum, in das Bild. Es versucht, diese Orte wieder zu „Orten der Erinnerung“ zu erheben, zu „anthropologischen Orten“ jenseits aller Vergessenheit und Nutzlosigkeit. „Die Rückkehr zum Ort ist die Rückkehr dessen, der die Nicht-Orte frequentiert“ (Augé).
Der Titel der Ausstellung „Transit: Orte“ könnte den Betrachter auf eine andere Fährte führen – zu Orten des Lebens, des quirligen Transfers im Verkehr und den bevölkerten Fußgängerzonen unserer Städte. Die Werke von Florian Albrecht-Schoeck und Rebecca Wilton führen aber geradewegs ins Gegenteil, in die Leere und Stille, in das Verharren statt in die Bewegung. Der „Nicht-Ort“ wird zur Herausforderung der eigenen Belebung. Marc Augé: „So stellen wir fest, dass die Erfahrung des Nicht-Orts (…) den Betrachter auf sich selbst verweist.“
Der Autor: Dr. Klaus-D. Pohl ist Oberkustos für Malerei und Plastik des 19. bis 21. Jahrhunderts am Hessischen Landesmuseum in Darmstadt. Er ist Mitglied im Großen Konvent der Schader-Stiftung und im Beirat der Galerie der Schader-Stiftung. Seit 2014 ist er kuratorisch verantwortlich für die Ausstellungsreihe „Dialoge - Gesellschaftswissenschaften und Kunst“ in der Galerie der Schader-Stiftung.
Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Ausstellung „Transit: Orte", die vom 16. Oktober 2015 bis 28. Februar 2016 in der Galerie der Schader-Stiftung gezeigt wurde.
Zum Weiterlesen
Augé, Marc, 1994: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Deutsche Erstausgabe. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Augé, Marc, 2014: Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort Marc Augés zur Neuausgabe. München: Beck.