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Steht ein Soziologe an einer Straßenecke

Artikel vom 16.04.2015

Marion Eichmann: NEW YORK (iPod) 2005 (Ausschnitt). Copyright: Marion Eichmann

… und beobachtet und notiert und beobachtet und notiert und beobachtet und notiert. Welche Menschen kommen vorbei? Was tun oder reden sie, was haben sie an? Welche Busse fahren entlang und wer steigt um wie viel Uhr ein oder aus? Welche Läden gibt es? Was passiert am Zeitungskiosk? Welche Plakate sind zu sehen? Der soziologische Blick versucht, alles zu erfassen. Alles wird minutiös aufgeschrieben und interpretiert. Was ist das für eine Straße und was ist das eigentlich für eine Stadt? Von Dagmar Danko

Telling about Society

Nicht nur Soziologen geben sich dieser Aufgabe hin. Künstler machen das auch, so wie Marion Eichmann und Timo Klein, die beiden Künstler der Ausstellung „Urban Views“. Sie beobachten Straßen, Verkehrskreuzungen, Autos, die U-Bahn, die Hochhäuser und die Großstadtbevölkerung, die immer in Bewegung ist, die läuft, wuselt, fährt, macht und tut. Damit stehen sie in der Tradition einer Form von Stadtkunst, wie man sagen möchte, die in der bildenden Kunst wie in der Literatur viele Vorgänger kennt: Die Großstadtbilder einer Epoche, als sich Großstädte erstmals ausbreiten, sind Ikonen der Urbanisierung und halten Flaneure, Bahnhöfe, Cafés und das Nachtleben fest. Nicht zufällig gründet sich zur selben Zeit auch die Soziologie, und der soziologische Blick erhält in der Folge Einzug in die Kunst: Schriftsteller wie Georges Perec geben den Künstler-Soziologen, nehmen sich eine Straßenecke vor und beobachten und notieren und beobachten und notieren und beobachten und notieren.

Doch wie diese Künstler-Soziologen (oder Soziologen-Künstler?) ihr Material interpretieren, unterscheidet sich dann wesentlich vom Material, das Soziologen von derselben Straßenecke mitbringen. Howard S. Becker setzt sich mit dieser Frage in seinem 2007 erschienenen Buch „Telling About Society“ auseinander – gerade in Bezug auf Perec. Einerseits kommt er zu dem erwartbaren Schluss, dass die Werke Perecs und anderer nicht danach beurteilt werden, ob sie die Wahrheit wiedergeben. So ist auch bei den Werken der beiden „Urban Views“-Künstler nicht entscheidend, ob sie die Wirklichkeit abbilden. Die Kriterien in Kunstwelten sind andere. Andererseits, so Becker, erzählen sie doch etwas von der Gesellschaft, davon, wie sie sie sehen. Telling About Society ist nichts, was nur den Soziologen vorbehalten wäre – im Gegenteil. Soziologen reihen sich unter die bildenden Künstler, Fotografen, Schriftsteller, Filmemacher, Historiker, Reporter und viele mehr, die alle auf ihre Art Interpretationen bieten. Ethnografische Studien, Statistiken, Tabellen, Grafiken und Diagramme sind in diesem Sinne auch nur eine solche Interpretation der Wirklichkeit. Perecs Blick auf den Platz Saint-Sulpice ist daher vielleicht sogar näher an dieser Wirklichkeit als es eine soziologische Untersuchung desselben Platzes wäre. Der Künstler lässt seine subjektive Sicht zu.

Urban Views – Urban Studies

An der Chicago School of Sociology, wo sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Stadtsoziologie herausbildet (und aus der später auch Becker hervorgeht), entstehen zahlreiche empirische Untersuchungen von Stadtvierteln und Stadtbewohnern – urban studies, statt urban views. In Chicago promoviert auch William F. Whyte, der 1943 mit Street Corner Society die wahrscheinlich bekannteste Studie eines Stadtviertels vorlegt. Vier Jahre lang lebt er in einem Italienerviertel Bostons und beobachtet und beschreibt das Leben der dortigen corner boys, indem er an ihrem Alltag teilnimmt. Die Resonanz, die die Studie erfährt, beruht auf dem späteren Anhang: Dort diskutiert Whyte ausführlich, wie Street Corner Society entstanden ist, welche Methoden er wählte und vor allem welche Schwierigkeiten er dabei hatte, Zugang zu den corner boys zu finden und sein Leben mit ihnen zu teilen. Wie beobachtet, notiert und interpretiert man „richtig“? Auch hier stellt sich die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Beobachteten und Dargestellten. Die Künstler der Ausstellung „Urban Views“ haben ebenfalls ihre ganz eigenen Methoden: Ob Zeichnung, Fotografie oder Installation, diese urban views sind auch urban studies.

Man kommt nicht umhin, Soziologisches zu entdecken. „Die geistige Haltung der Großstädter zueinander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen.“ Was Georg Simmel 1903 in seinem berühmten Essay über „Die Großstädte und das Geistesleben“ schreibt, ist aktueller denn je: All die Menschen, die Formen, Farben und Geräusche, all der Trubel stellen eine Form von Reizüberflutung dar, auf die viele Stadtbewohner mit einem inneren Rückzug reagieren. Mit Kopfhörern im Ohr und dem Blick auf das Handy schottet sich der Großstädter ab – bestenfalls gelingt es ihm, im Bus oder in der U-Bahn ganz bei sich zu sein und zur Ruhe zu kommen. Gleichzeitig, so räumt Simmel ein, bietet die Großstadt ein ungeahntes Maß an individueller Freiheit. Man muss also nicht, aber man kann. Die Stadt kann erkundet, kann erobert werden. Man kann sich ihr aussetzen, man kann sie sich zu eigen machen, als Stadtbewohner, als Künstler, als Soziologe. Beobachten und notieren. Zeichnen und Fotografien. Sehen und interpretieren. An der Straßenecke stehen und schauen, was passiert. Telling about society.  

Die Autorin: Dr. Dagmar Danko ist Mitbegründerin und Sprecherin des Arbeitskreises „Soziologie der Künste“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Sie ist Mitglied im Beirat der Galerie der Schader-Stiftung.

Der Beitrag erschien zuerst im Katalog der Ausstellung „Künstlertourist: Urban Views", die vom 17. April bis 6. September 2015 in der Galerie der Schader-Stiftung gezeigt wurde.

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