Verstellte Moderne – Architektur und Kunst der Nachkriegszeit
Artikel vom 05.04.2008
Im Jahr 1947 erschien ein erster kollektiver „Nachkriegsaufruf”: „Das zerstörte Erbe darf nicht rekonstruiert werden, es kann nur für neue Aufgaben in neuer Form entstehen.” Dieser Appell ermöglichte der Architektur und dem Städtebau neue Formen der Planung sowie der Gestaltung. Aber auch die bildende Kunst knüpfte an der sich etablierenden Neuen Sachlichkeit an und verlieh den Freiräumen zwischen den Bauten eine neue Qualität. Von Werner Durth
Verstellte Moderne – Architektur und Kunst der Nachkriegszeit
„Wiederaufbau? Technisch, geldlich nicht möglich, sage ich Ihnen; was sage ich? – seelisch unmöglich!” In einem fiktiven Dialog äußert der Architekt Otto Bartning „Ketzerische Gedanken am Rande der Trümmerhaufen”, veröffentlicht im ersten der „Frankfurter Hefte”, die ab April 1946 als „Zeitschrift für Kultur und Politik” von Walter Dirks und Eugen Kogon herausgegeben wurden. Wiederaufbau – seelisch unmöglich. Dennoch gab Bartning eine Antwort, in der sich unschwer der künftige Aufbau der Städte als Ausdruck einen neuen, demokratischen Gesellschaft erkennen lässt: „Aber schlichte Räume lassen sich auf den bestehenden Grundmauern und aus den brauchbaren Trümmerstoffen errichten, schlichte, helle Räume, in denen ein schlichtes, für jedermann gleiches und durchsichtiges Recht verhandelt und entschieden wird, ohne Hinterklauseln und Stuckornamente.”
Mit dem Verdikt gegen „Stuckornamente” ist im Blick auf die künftige Architektur sowohl die Abkehr vom Historismus der Kaiserzeit als auch von der monumentalen „Baukunst im Dritten Reich” gefordert, doch ist offenbar mehr gemeint: Kulturell wie politisch sei an die im Nationalsozialismus abgebrochenen Traditionen der ersten deutschen Republik und damit an jene Kultur der Neuen Sachlichkeit anzuknüpfen, die in der Zwischenkriegszeit namentlich vom Deutschen Werkbund aus entfaltet worden war, so Bartning weiter.
Im folgenden Jahr 1947 erschien ein erster kollektiver „Nachkriegsaufruf”, in dem ebenfalls einem Wiederaufbau als bloßer Wiederherstellung von Zerstörtem entgegengetreten und gefordert wurde: „Das zerstörte Erbe darf nicht rekonstruiert werden, es kann nur für neue Aufgaben in neuer Form entstehen.” Zum Städtebau heißt es: „Die großen Städte müssen beim Aufbau zu einem gegliederten Verband in sich lebensfähiger, überschaubarer Ortsteile werden.” Unterzeichnet war dieser Aufruf von prominenten Vertretern der Avantgarde des Neuen Bauens der 20er Jahre, darunter Otto Bartning, Richard Döcker, Rudolf Schwarz, Otto Ernst Schweizer, Hans Schwippert und Max Taut, sowie von bildenden Künstlern wie Willi Baumeister, Gerhard Marcks und Ewald Mataré.
Einig waren sich die Architekten und Künstler darin, dass beim Neubau der Städte an Reformkonzepte wie das der Gartenstadt und das der in überschaubare Siedlungen gegliederten Stadtstruktur anzuschließen sei, um die Zerstörung der Städte auch als Chance zur radikalen Erneuerung nutzen zu können: Unter dem Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt wurde im Begriff der Stadtlandschaft eine Symbiose von Stadt und Natur suggeriert mit dem Ziel, gemäß der Idee des „fließenden“ Raums durch „freirhythmische Komposition” von Zeilen- und Solitärbauten als Steigerung der natürlichen Qualitäten im Landschaftsrelief ein völlig neues Stadtgefüge jenseits der herkömmlichen Blockstrukturen und Straßenraster gestalten zu können.
An diesem Spiel der Objekte im Raum sollten auch Werke der bildenden Kunst beteiligt sein, um den Freiräumen zwischen den Bauten eine neue Qualität zu verleihen - aus der Einsicht, „dass Volumen Raum ausströmen, genau wie eine umschließende Hülle den Innenraum formt.” In seinem erstmals 1941 erschienen Buch „Raum, Zeit, Architektur” verweist Siegfried Giedion als einflussreicher Theoretiker moderner Kunst und Architektur am Beispiel des Werks von Alberto Giacometti auf das „Wechselspiel der Kräfte einfacher Formen”, in dem Raum nicht durch äußere Begrenzung, sondern durch die Spannung zwischen den Objekten entsteht. Dabei geht es ihm um die „Bewußtwerdung des Beziehungsspieles”, um auch in der Öffentlichkeit für moderne Kunst und Architektur zunehmend Verständnis und Akzeptanz zu sichern; manche Ensembles aus der Nachkriegszeit lassen sich noch heute als Versuchsanordnung in solchem Sinne deuten, als Entfaltung eines sinnlich erfahrbaren Beziehungsspiels zwischen Kunstwerken, benachbarten Bauten und offenem Stadtraum jenseits der Steinernen Stadt des Industriezeitalters.
In gleicher Absicht einer Aufklärung über die Potentiale moderner Kunst und Architektur wurden – nicht zuletzt unter der Regie von Otto Bartning – namentlich in Darmstadt einige bemerkenswerte Initiativen ergriffen, deren Spuren noch heute im Stadtbild sichtbar sind, da sie sich einer übergreifenden politischen Programmatik verdanken. Die makabre Voraussetzung dafür war die verheerende Zerstörung Darmstadts im September 1944, die weit reichende Folgen für die Zukunft der Stadt nach sich gezogen hatte. Von 1806 bis 1918 Residenzstadt der hessischen Großherzöge, von 1918 bis 1945 Hauptstadt des Volksstaates Hessen, verlor Darmstadt die Hauptstadtfunktion durch die Entscheidung der amerikanischen Militärbehörde, Wiesbaden als Hauptstadt des Landes Hessen vorzusehen. Schon früh begann daher der Oberbürgermeister Ludwig Metzger, die kulturellen Traditionen Darmstadts und die internationale Anerkennung jener Impulse zur Lebensreform in Erinnerung zu rufen, die von hieraus seit 1900 in der Kunst und Literatur Europas wirksam geworden waren: „Ich will Darmstadt wieder zu einem geistigen und kulturellen Mittelpunkt machen, der die Fenster in die Welt weit offen hält”, versprach Metzger 1946.
Ein halbes Jahrhundert nach der Gründung der Künstlerkolonie 1899 wurde im Oktober 1949 vom Magistrat eine Jubiläumsausstellung beschlossen, die im Rückblick auf die epochale Schau „Ein Dokument deutscher Kunst” 1901 im Jahr 1951 unter Leitung von Otto Bartning einerseits Entwicklungslinien moderner Architektur seit 1900 nachzeichnen, andererseits durch eine Reihe von „Meisterbauten” aktuelle Positionen der Baukunst präsentierten sollte. Wie ein Vorspiel zu diesem Projekt erscheint im Nachhinein ein anderes Vorhaben, das ebenfalls 1949 vorbereitet wurde. In Verbindung mit der Sommerausstellung der Neuen Darmstädter Sezession, die mit Werken von Willi Baumeister, Werner Gilles, Karl Hartung, Johannes Itten und anderen Vertretern der damals so genannten Abstrakten Kunst den Anschluss an internationale Tendenzen dokumentierte, wurde unter dem Thema „Das Menschenbild in unserer Zeit” 1950 die Reihe der „Darmstädter Gespräche” eröffnet, die bis heute als Forum der Selbstverständigung über aktuelle Fragen in Kunst und Gesellschaft gelten.
Noch im selben Jahr wurde nach gleichem Konzept kontroverser Diskussion das zweite Gespräch unter dem Titel „Mensch und Raum” 1951 geplant, während dem in einer Ausstellung über den Zeitraum von 1901 bis 1951 mit Werken von Behrens über Gropius und Le Corbusier bis zu Rudolf Schwarz der Heroen der Moderne gedacht wurde: Die Aufbruchsbewegungen aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts sollten 1951 wieder aufgenommen, doch aus neuen Herausforderungen weiterentwickelt werden. In seiner programmatischen Rede setzte der Karlsruher Architekt Otto Ernst Schweizer diesen Neubeginn sowohl von den Traditionen des 19. Jahrhunderts als auch von den im Nationalsozialismus weiter wirksamen ab: „Wir sind heute nicht mehr die Menschen der Steinstadt, deshalb können für uns auch die Formen der Steinstadt nicht mehr verbindlich sein. Wir wollen heute, dass Innen- und Freiraum sich durchdringen, dass die Weite, ja die Unendlichkeit in unsere Gestaltung einbezogen wird.”
Tatsächlich entstanden mit den Schulen von Hans Schwippert und Max Taut, dem Krankenhaus von Otto Bartning und dem Ledigenheim von Ernst Neufert in Darmstadt bald einige „Meisterbauten”, in denen die stadt-landschaftliche Komposition noch heute unmittelbar zu spüren ist. Allein die Schule von Taut, das Ludwig-Georg-Gymnasium, lässt zudem noch die Idee einer konzeptionellen Verbindung von Kunst und Architektur ahnen: Die Aufstellung der Skulpturen „Zwei Figuren in Beziehung” des Berliner Bildhauers Bernhard Heiliger an exponiertem Ort in der Stadtmitte war integraler Bestandteil des Projekts und wirkte doch als Provokation, da die abstrahierten Figuren, im Volksmund als „Kranke Neger” bezeichnet, die eingeschliffenen Reflexe gegen „entartete Kunst” evozierten.
Ein Ausnahmefall und doch ein Lehrstück, da den Werken der bildenden Kunst im öffentlichen Raum als Zeichen kultureller Entnazifizierung in mehrfacher Hinsicht auch politische Bedeutung zukam. Im deutlichen Kontrast zum Baudekor und Skulpturenschmuck, wie er in der Zeit des Nationalsozialismus und ab 1950 nach der Doktrin des Sozialistischen Realismus in der DDR üblich war, traten im Westen zunehmend Werke gegenstandsloser Kunst und figurativer Abstraktion in und zwischen den Neubauten auf, um kulturellen Neubeginn und Einbindung in internationale Tendenzen moderner Kunst der westlichen Welt zu demonstrieren. Gleichzeitig sollten aber auch hier Aufbruchstimmung und Zuversicht vermittelt werden: Die absichtsvolle Heiterkeit farbenfroher Kompositionen, raumgreifend beschwingter Skulpturen, stilisierten Kinderspiels und Familienglücks signalisierten die Abkehrt vom Grauen des Krieges – und wurden bald als Teil einer „Verdrängungskultur” kritisiert, die mit dem als Wirtschafts-„Wunder” erfahrenen Aufstieg der Bundesrepublik einherging.
Wie in der Wirklichkeit des Wiederaufbaus der Städte, der nur selten den nach 1945 erhobenen Forderungen radikalen Neubeginns folgte, glitt auch die „Kunst am Bau“ in der Praxis allzu oft ins Banale und herkömmlich Vertraute ab. Zur weiteren Entwertung der – auch der künstlerisch herausragenden – Ensembles moderner Kunst und Architektur im öffentlichen Bewusstsein trug ab Ende der 1950er Jahre ein neuerlicher Leitbildwechsel im Städtebau bei, mit dem unter dem Motto „Urbanität durch Dichte” in rigidem Funktionalismus die ökonomische Verwertung städtischer Raume rücksichtslos vorangetrieben wurde.
Die einst sorgsam komponierten und miteinander verbundenen Freiräume der Stadtlandschaft wurden den vermeintlichen Sachzwängen der „autogerechten” Stadt geopfert, Blickbezüge und Wegenetze aufgelöst oder von Neubauten verstellt. Ohne Kenntnis der Intentionen und Konzepte zur Kultur der Nachkriegszeit wirken viele der aus jenen Jahren noch überkommenen Kunstwerke in den zumeist verwahrlosten Resträumen der Städte auf die Betrachter heute wie überflüssige Relikte einer längst vergangenen Zeit, folgenlos abgestellt in den nutzlosen Nischen einer nicht von Menschen für Menschen, sondern von Verwertungsinteressen und merkantilen Geltungsansprüchen gestalteten Umwelt.
Der Autor: Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. Werner Durth lehrt seit 1998 Geschichte und Theorie der Architektur an der Technischen Universität Darmstadt. Von 2001 bis 2009 gehörte er dem Kuratorium der Schader-Stiftung an.
Der Beitrag erschien zuerst im Katalog zur 3. gemeinsamen Ausstellung „Skulptur Raum Darmstadt“ des Hessischen Landesmuseums Darmstadt und der Schader-Stiftung in der Reihe „Bilder gesellschaftlichen Wandels“.