Raus ins Freie
Artikel vom 18.06.2021
Der Sommer des Vergessens? Ein Blogbeitrag von Anna-Lisa Müller.
Ein neues, altes Leben?
Als ich Mitte April als Fellow in die Residence-Wohnung der Schader-Stiftung eingezogen bin, waren die Inzidenzwerte hoch, die Pandemie war beherrschendes Thema und die damit verbundenen Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung überall präsent. An den meisten Orten herrschte Maskenpflicht, auch der Weg durch die Fußgängerzone war Mundschutz-Zone. In der Schader-Stiftung machte ich meinen ersten beaufsichtigten Corona-Selbsttest. Im Restaurant gegenüber des Stiftungsgebäudes holte ich eine Pizza zum Mitnehmen und erinnerte mich vage an den Abend vor zwei Jahren, als ich im selben Restaurant im Rahmen des Sommercamp mit Kolleg*innen draußen gesessen hatte. An Pandemie-Auswirkungen auf das Alltagsleben in Deutschland dachte damals niemand.
Jetzt, zwei Monate später, scheint die Sonne warm auf die Darmstädter und ihre Gastronomie. In der Innenstadt ist die Maskenpflicht aufgehoben, und das Restaurant kann ich im Außenbereich inzwischen sogar ohne Nachweis eines negativen Corona-Testergebnisses besuchen.
Ist nun alles gut?
Mir schwant, dass wir den beginnenden Sommer gerade nutzen, um die Pandemie und die Maßnahmen, die unser Handeln im Alltag beschränken, zu vergessen. Wenn der Weißwein gut gekühlt vor mir steht, der Bäcker meine Pizza belegt und meine Lieblingsmenschen mit mir am Bistro-Tisch in der Abendsonne sitzen – wo sind da die Gedanken an Inzidenzwerte, Infektionen, Auslastung der Kapazitäten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser? Wo der Gedanke an neue Mutationen in vermeintlich fernen Ländern auf anderen Kontinenten? So, wie die Maske im Sommer aus dem öffentlichen Leben zu verschwinden scheint, so scheint die Pandemie in Vergessenheit zu geraten.
Hintergrund ist, dass wir – die Wissenschaft, die Politik, die Gesundheitsinstitutionen, wir alle – davon ausgehen, dass die Ansteckungsgefahr im Freien nicht so hoch ist. Die berühmten Aerosole – ein Wort, das mir inzwischen fast so leicht von den Lippen geht wie die Bestellung eines Weißweins – scheinen es draußen schwerer zu haben mit uns. Mehr Wind, mehr Abstand: so die Theorie. In der Praxis: windstille Abende, flirrende Hitze, Aneinandervorbeischieben in der Fußgängerzone, nun oft ohne Maske.
Ich selbst nehme mich davon nicht aus. Ich genieße es, von der Stiftung die Wilhelminenstraße entlang zu schlendern und am Georg-Büchner-Platz nicht hektisch die Maske vor Mund und Nase zu ziehen. Ich schätze die Abende im Restaurant und die Gesellschaft der anderen Gäste, das leise Plaudern fremder Menschen um mich herum. Ich ertappe mich dabei, daran zu denken, mal wieder durch die Einkaufsläden zu bummeln, ohne vorher genau entschieden zu haben, was ich kaufen möchte.
Aber während ich den letzten Schluck austrinke, macht sich ein Gedanke in meinem Hinterkopf breit: Was, wenn das hier wieder nur ein Moment des Durchatmens ist, der uns bald wieder vor die Füße bzw. die gerade nicht mit Masken bedeckten Gesichter fällt?
von Dr. Anna-Lisa Müller, Fellow der Schader-Residence.