Zuwanderer auf dem Land - Terra incognita in Forschung und Politik
Artikel vom 20.04.2007
Die Stadt als Ort der Zuwanderung ist verhältnismäßig gut erforscht, obgleich es an einem auf gegenseitige Lernprozesse orientierten Austausch von Wissenschaft und Praxis noch mangelt. Der ländliche Raum hingegen ist traditionell das Stiefkind der Sozialwissenschaften. Mit Ausnahmen in Sozialpädagogik und Sozialarbeit oder Volkskunde, Kulturwissenschaft und Geographie gibt es kaum Beschäftigung mit dem Thema der Zuwanderung im ländlichen Raum.
Was ist der ländliche Raum?
Als Raumordnungskategorie definiert (1. unter 100 Einwohner/qkm plus Oberzentrum über 100.000 Einwohner oder 2. unter 150 Einwohner/qkm ohne Oberzentrum über 100.000 Einwohner), im allgemeinen Sprachgebrauch gängig, fällt eine Definition dessen, was der ländliche Raum sei, dennoch schwer. Denn „ländlicher Raum“ oder „Dorf“ sind synthetische Begriffe, die sich je nach Blickwinkel aus einer Vielzahl von Merkmalen speisen. Klar scheint lediglich, dass die frühere Gleichsetzung von „ländlich“ und „agrar-/landwirtschaftlich“ überholt ist. Ebenso wie „Stadt“ sind „ländlicher Raum“ und „Dorf“ sich wandelnde Kulturbegriffe, die bestimmte Ausformungen der Vergesellschaftung beschreiben.
Henkel (2004) bündelt die gängigen Begriffsbildungen wie folgt: „Zusammengefasst ist der ländliche Raum damit ein naturnaher, von der Land- und Forstwirtschaft geprägter Siedlungs- und Landschaftsraum mit geringer Bevölkerungs- und Bebauungsdichte sowie niedriger Wirtschaftskraft und Zentralität der Orte, aber höherer Dichte der zwischenmenschlichen Bindungen.“
Abnehmende Bevölkerungszahlen im ländlichen Raum
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben aktuell immer weniger Menschen im ländlichen Raum, 2003 sind es nur noch 15 Prozent (im Schnitt 66 E/qkm). Auf Kosten des ländlichen Raums gewachsen ist der halbstädtische Raum (im Schnitt 223 E/qkm), in dem nunmehr rd. 35 Prozent der Menschen leben. Der Bevölkerungsanteil in den Städten (durchschnittlich 1.250 E/qkm) ist mit rund 48 Prozent gleich geblieben.
Dabei ist aber zu beachten, dass die kommunale Gebietsreform die Datenlage insoweit beeinflusst hat, als die Mehrheit der Dorfgemeinden ihren statistischen Eigenwert verloren hat und nurmehr als „Ortsteil“ oder „Stadtteil“ firmiert.
Die Wanderungstendenzen kennzeichnet nach Henkel (2004): „Für die Bundesrepublik zeigt sich, dass hier die kleinen Gemeinden das Hauptreservoir echter Abwanderung darstellen, wenngleich seit etwa 1970 eine deutliche Abflachung dieses Trends erkennbar ist. Die Wanderungsgewinne kommen heute nicht mehr überwiegend den Großstädten zugute, wie dies in den 50er Jahren noch der Fall war. Eine positive Wanderungsbilanz haben heute vor allem die Mittelstädte und die sog. ‚suburbanen Räume‘ im Umfeld der Ballungsgebiete, die von der Landflucht und Cityflucht in gleicher Weise profitieren. Differenziert man die Wanderungsbilanzen nach Zentralitätskategorien und Altersgruppen, ist festzustellen, dass die Stadtregionen die jungen Altersgruppen zwischen 14 und 44 Jahren (hier vor allem Frauen) ‚gewinnen‘, dafür aber die älteren Jahrgänge ‚verlieren‘. Bei den kleineren Gemeinden zeigt sich dementsprechend die entgegengesetzte Tendenz. Im Vergleich zur offensichtlich etwas nachlassenden Fernwanderung Dorf - Großstadt gewinnt seit etwa 1980 die Binnenwanderung innerhalb des ländlichen Raumes an Bedeutung. Während die zahlreichen nicht-zentralen Dörfer bzw. ‚Ortsteile noch weiter durch Wanderungen verlieren, haben die ländlichen Grund- und Mittelzentren heute in der Regel eine positive Wanderungsbilanz. Dieser Trend wurde begünstigt durch die Gebietsreform der 60er und 70er Jahre sowie nachfolgende Vorgaben der Raumordnung und Fachplanungen, welche die ländlichen Zentren eindeutig gegenüber den Siedlungen in der ‚Fläche‘ bevorteilen.“
Überalterung der Landbevölkerung
Außerdem ist im ländlichen Raum ein deutlicher Trend zur Überalterung festzustellen. In vielen Häusern leben nur noch ältere Ehepaare bzw. Verwitwete, während ihre Kinder - häufig arbeitsplatzbedingt - in die städtischen und halbstädtischen Räume abgewandert sind. Die Abwanderung erfolgt in zweifacher Hinsicht selektiv: zum einen bezogen auf die Altersgruppen, zum anderen bezogen auf das Geschlecht.
Dazu Henkel (2004): „Als weitere Folge der Abwanderung ist vielfach eine Störung des Gleichgewichtes zwischen den Geschlechtern zu beobachten. In ländlichen Abwanderungsgebieten herrscht in der Regel Mangel an jungen heiratsfähigen Frauen, da diese im Gegensatz zu den Männern kaum Arbeitsplätze in Landwirtschaft und Handwerk wahrnehmen können und daher zur beruflichen Abwanderung gezwungen sind.“
Zuzug in Dörfer des ländlichen Raums erfolgt hauptsächlich durch Rückwanderer, die nach ihrer Hauptarbeitsphase in den Heimatort zurückkehren. Daher sind Zuwanderer im ländlichen Raum durchschnittlich älter als die Abwanderer.
Angleichung der Lebensformen in Stadt und Land
Dass der ländliche Raum von agrarischen Strukturen, überkommenen Traditionen und unverrückbaren sozialen Hierarchien geprägt sei, gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Nur noch eine Minderheit in den Dörfern betreibt Landwirtschaft oder lebt gar ganz von ihr. Die meisten Landbewohner gehen Erwerbstätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft nach, pendeln in die Städte des Umkreises oder arbeiten in kleineren regionalen Betrieben.
Dörfer des verstädterten Raums haben viele Neubürger gewonnen, die aufgrund subjektiv besserer Lebensbedingungen - mehr Grün, mehr Platz, mehr Ruhe, mehr Erholung - dem verkehrsgünstig gelegenen Dorf als Wohnort den Vorzug vor der Stadt geben. Die Angleichung von Stadt und Land kann unter den Aspekten „Verstädterung“ und „Urbanisierung“ betrachtet werden. Unter Verstädterung ist die räumliche Ausdehnung der städtischen Siedlungsweise zu verstehen, wohingegen Urbanisierung einen Sozialisationsvorgang beinhaltet, der die Ausbreitung städtischer Lebensformen, Kulturgüter und Bauformen im ländlichen Raum meint.
Besonderheiten der Lebensformen in Dörfern und kleineren Städten im ländlichen Raum
- sehr hohes Potenzial an lokaler Öffentlichkeit; jeder kennt jeden
- weit zurück reichendes (kollektives) Gedächtnis
- hohe Stabilität als positiver sozialer Faktor; kann als Ausgrenzung in negativen Faktor umschlagen
- soziale Anerkennung richtet sich stark nach der Erwerbstätigkeit oder Mitarbeit an lokalen Aktivitäten
- Meinungsführerschaft von Ortsautoritäten
Neue Neubürger - Aussiedler und Ausländer
Neben den „Städtern“, die lieber auf dem Land wohnen, haben Dörfer in den letzten Jahren zwei weitere Bevölkerungsgruppen als Neubürger hinzugewonnen:
1. Aussiedler aus den ehemaligen Ostblockstaaten
Aussiedler sind zunächst den vornehmlich im ländlichen Raum angesiedelten Auffang- und Übergangswohnheimen zugewiesen worden. Viele von ihnen haben in der Nähe Arbeit gefunden und sich auch dauerhaft im Umkreis niedergelassen. Im Zuge der Kettenmigration und Familienwanderung erfolgte - auch unabhängig von der örtlichen Arbeitsmarktlage - die Ansiedlung weiterer Aussiedler, die die Nähe zu Verwandten, Bekannten und Landsleuten suchen. Sie leben zur Miete oder vielfach auch im neu erbauten Eigenheim.
2. Ausländer aus großstädtischen Quartieren
Ein neuer Trend zeigt, dass immer mehr ausländische Familien großstädtische Quartiere mit geringem Lebensstandard und beschränkten Entwicklungsmöglichkeiten verlassen und gebrauchtes Eigentum in Zentren von Kleinstädten des Umlandes erwerben. Sie erhoffen sich von diesem Umzug vor allem bessere Entwicklungschancen und Bedingungen des Aufwachsens für ihre Kinder.
Dorfentwicklung schweigt dazu
Programme zur Dorfentwicklung und Dorferneuerung sowie Strategiepapiere zur Entwicklung des ländlichen Raums, die auf Länderebene angestoßen werden, gehen auf die Aspekte der Zuwanderung von ganz neuen Bevölkerungsgruppen auf dem Land - Aussiedler und Ausländer - nicht ein. Es bleibt mithin dem örtlichen Engagement überlassen, die Integration dieser Neubürger zu befördern.
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