Laudatio für Nicole Deitelhoff
Artikel vom 11.05.2017
Professor Dr. Dr. h.c. Klaus von Beyme hielt am 11. Mai 2017 anlässlich der Verleihung des Schader-Preises 2017 die Laudatio für die Preisträgerin Professor Dr. Nicole Deitelhoff.
Die Selbst- und Fremdeinordnung der Preisträgerin
Das Lob einer vielseitigen Professorin für Politik, wie Nicole Deitelhoff, gibt Anlass über die Selbstzerfleischung unseres Faches nachzudenken – die vermutlich nicht zufällig sich mit wachsender Selbstkritik gegenüber unserem politischen System eignet. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, Carlo Massala (2017, Nr. 7: 60), sah in der Zeit vom 9. Februar unser Fach als inhaltsleer und irrelevant an. Seine konservative Gegengründung gegen die Hauptvereinigung DVPW (Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft), die in der Zeit der Studentenrevolte aus nichtigem Anlass entstand, hat immer gern gemosert und maßlos übertrieben. Politikwissenschaft schien sich den Kunsttheoretikern zu nähern, die sich am Eigenwert des Ästhetischen festklammern. Hauptsache Kunst ist schön, politisch muss sie nicht sein (Hartung 2017: 1). Vorwürfe gegen das Fach waren vor allem:
- esoterischer Rückzug in Theorie- und Methodendebatten und
- seltene Einwirkung auf die Öffentlichkeit.
Der erste Vorwurf bedarf der Einschränkung, dass unser Fach lange als narrativ und medienartig galt und wir uns mühsam dem Niveau anderer Fächer angenähert haben. Vor allem in Amerika gab es immer Theoretiker, die das politische Engagement forderten: Engagement war für Rorty (1992: 111ff) ein wichtiges Argument der Verteidigung gegen Vorwürfe ein distanzierter Ironiker zu sein.
Der zweite Vorwurf ist schlicht falsch: von Butterwegge über Falter bis zu Leggewie und anderen tauchen pausenlos Politikprofessoren in den Medien auf. Richtig in der Ausweitung des Vorwurfes von Zeit-Autor Manuel Hartung ist, dass in Zeiten der Krise die Universitäten politischer werden müssen. Genau das passiert im Augenblick in ganz Europa aufgrund des geistigen Zweifrontenkrieges gegen die beiden größten Supermächte und aufgrund der Massen-Migration aus Afrika und dem Nahen Orient.
Trotz Nicole Deitelhoffs großer Begabung für theoretische Themen, war sie just der Typ von Politikwissenschaftlerin, welche die „Selbstzerfleischer“ unseres Faches vermissten.
In ihrer vorsichtigen Selbstdarstellung, die ihr nach eigenem Bekenntnis nicht liegt, war sie stolz aus bescheidenen sozialen Verhältnissen zu stammen und in einer Gaststätte an der Ostsee aufgewachsen zu sein. Dieser Praxisbezug hatte bei ihr den gegenteiligen Effekt wie bei anderen: sie hob sich über die Genesis hinaus mit der Arbeit an überwiegend theoretischen Themen. Deskription und Typologie des Bestehenden scheint bei ihr zweitranging.
Im akademischen Leben hatte sie gelegentlich Schwierigkeiten, da sie sich selbst „laut und unbekümmert“ fand. Just das warf man mir in meinen Anfängen als Professor in Tübingen und Heidelberg auch vor. Ich erklärte es aus der Vergangenheit in der Landwirtschaft, die eigentlich meine erste Aufgabe war. Sie hätte vielleicht die Kneipe übernehmen sollen, die sicher nicht immer leise war. Ungewöhnlich in der Zunft sind etliche Auseinandersetzungen mit anderen Kollegen in speziellen Artikeln und nicht nur in braven Fußnoten, wie bei der Mehrheit von uns.
Verbunden fühle ich mich mit ihr auch durch das bemerkenswerte Familienleben: drei Kinder neben der Wissenschaft, absolut beachtlich und ein Vorbild für feministische Bewegungen und Gesinnungen. Ihre Vorbildlichkeit für Feministen konnte sie anfangs behindern, aber spätestens bei der Mobilisierung der Stimmen für die Preisträgerin der Schader-Stiftung begann sie eine erfreulich positive Rolle zu spielen. Meine Frau hatte als DDR-Emigrantin auch einige Schwierigkeiten, und mancher fand es degoutant, dass sie in der Stadtverwaltung Heidelberg arbeitete, als die Kinder noch klein waren. Da ging es Nicole doch wesentlich besser.
Noch stärker verbunden fühlt sich der Laudator mit der Gelobten durch ihre zahlreichen Auslandsstudien, von Hawaii, Jerusalem an der Hebrew University oder Buffalo. Sie erleichtern das Gebot der Stunde, die Enge der deutschen Tradition zu verlassen und Englisch zu schreiben, wie in der Hälfte der wichtigsten Beiträg
Werke der Autorin im Lichte ihrer Studienfächer
Macht und Interessen werden als Begriffe bei Deitelhoff nicht abstrahiert benutzt. Sie existieren für sie „nicht losgelöst von normativen Ordnungen, sondern sind gleichsam in die eingeschrieben“ (Rechtfertigungsnarrative: Zur Begründung normativer Ordnung durch Erzählungen 2013: 111).
Einige Autoren, wie u.a. Engelkampf, übernahmen die Perspektive der Ausgeschlossenen und Marginalisierten. Dieses kritische Konzept der Entlarvung hat für die Autorin kein differenziertes Konzept des Lokalen vorzuweisen. (Aus dem Herzen der Finsternis. (Zs. für Internationale Beziehungen 2013: 71ff). Das Gerade über die Dritte Welt leidet daran generell.
Ein Paradigma ist heute nicht mehr, wie bei Thomas Kuhn, ein vorherrschendes Verständnis über die wichtigsten Gegenstände und Forschungsfragen, sondern nur ein zusammenhängendes, von vielen Wissenschaftlern geteiltes Bündel von Fragestellungen und Methoden, das einigermaßen nachhaltig ist. Daher kommt es auch zu fragilen Friedensschlüssen, wie einen „middle ground“ zwischen moderaten Konstruktivisten und moderaten Rationalisten zu finden.
Bis in die 60er Jahre war das dominante Thema „Krieg und Frieden“. Ab den 70er Jahren kam es zur Behandlung von Kooperation und governance, als inhaltliche Möglichkeit der Kooperation, die durch viele Mitwirkungen anderer Wissenschaften gefördert werden, nicht zuletzt durch die Ökonomie.
Mit der Dekolonisation kam es zur Behandlung des Nord-Süd-Konflikts. Eine strukturalistische Erklärung der Ungleichheit und Unterentwicklung in der Welt, wie bei den Skandinaviern Immanuel Wallerstein und Johan Galtung, wurde einflussreich. Nachholende Entwicklung wurde mit Senghaas ein Grundbegriff, der zeigte, dass man den Markt sich nicht selbst überlassen darf, sondern staatliches Handeln nötig ist. Inzwischen wird diese Einsicht wieder gegen den Neo-Liberalismus in der Ökonomie eingesetzt. Gegen den marxistischen Eifer wurde klar gestellt:
- dass nicht nur die Produktionssphäre zählt, welche die Marxisten verabsolutierten, sondern
- dass die Distributionssphäre viele Eigenheiten der Ungleichheit zwischen Nord und Süd erklärt.
Vielfach wird auch in der Innenpolitik die Stärkung der Exekutive gegenüber der Legislative gerügt. In der internationalen Politik wurde vor allem den USA vorgeworfen, dass sie durch fortgesetzte Privatisierung demokratische Partizipations- und Kontrollrechte umgehen. Somit kommt es zur Lockerung der demokratischen Bindung des Gewaltmonopols, demokratische Kontrolle wird an die Wand gedrängt und wirtschaftliche Effektivität ins Zentrum gerückt (Entkernt sich der Leviathan? Leviathan 2010, Nr. 3, 405).
In der internationalen Politik sind die Folgen schwerer abzuschätzen als in der nationalen Politik. In ihr zeigte sich vielfach, dass das Gegenteil von mehr Effizienz eintrat, angesichts des Geldstrebens der privaten beauftragten Akteure. Hier liegt der Fokus allerdings auf den Gefahren einer Privatisierung und Internationalisierung, die militärisches Eingreifen erleichtert und das internationale Gewaltverbot aushöhl
Der Wandel des Faches und seiner Unterdisziplinen
Die Amerikanisierung spricht – trotz ihrer Distanz zu diesem Trend im Allgemeinen - aus Nicole Deitelhoffs Bibliographie, in der sie Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften mit Begutachtungsverfahren und Aufsätze ohne externes Begutachtungsverfahren unterschied.
Hier zeichnen sich grundsätzliche Unterschiede zwischen den wissenschaftlichen Generationen ab, die etwas mit der Sozialisation zu tun haben, auch bei ähnlichen persönlichen Approaches an die Wissenschaft, wie ich sie oben erwähnt habe: Es gab damals nur im angelsächsischen Bereich Begutachtungen, und später ereigneten sie sich gelegentlich, wenn man zu einem Aufsatz eingeladen wurde.
Man schrieb damals Bücher, und wirkte nur gelegentlich an Sammelbänden mit. Ich habe das selten gemacht und war unlängst mit Viel-Editoren des Faches wie Eckhardt Jesse einig, dass Edieren viel Zeit kostet, fast so viel, wie wenn man ein Buch schreibt. Das kann einen Teil der Vielschreiberei des Laudators erklären, für die ich um Milde bitte. Ein Aufsatz in einer führenden Zeitschrift gilt manchmal mehr als ein Buch. Autoren beginnen nach dem „Social Science Citation Index“ bei Publikationsplanungen zu schielen. Das ist sicher übertrieben, sonst wäre ein altmodischer Sozialwissenschaftler, wie dieser Redner, dort nicht häufig vertreten. Aber richtig ist: Spitzenerwähnungen finden nicht notwendiger Weise die interessantesten Einzelkämpfer, sondern Wissenschaftler mit Institutionen, Mitarbeitermassen und Netzwerken hinter sich. Einziger Nachteil, sie müssen sich die zahlreichen Nennungen mit vielen Koautoren teilen und werden auch gelegentlich für eine Publikation erwähnt, die überwiegend von jüngeren Mitarbeitern geschaffen wurde.
Die Anglisierung der internationalen Debatte führt dazu, dass die Politische Vierteljahresschrift PVS, unsere wichtigste Zeitschrift, wie andere klagt, nicht mehr genügend gute Manuskripte zu bekommen. Die Mischung von englisch und deutsch geschriebenen Manuskripten in unseren Zeitschriften wächst.
Verbundforschung und Großprojekte breiten sich auch in Deutschland aus. Nach ihrer Darstellung gibt es kaum noch individuelle Dissertationsprojekte. Der Großteil der Promovierenden arbeitet in Forschungsverbünden. Nicole Deitelhoff ist supermodern. Außer Dissertation und Habilitationsschrift sind die meisten größeren Schriften mit einem Koautor geschrieben. In dem für meine Begriffe besten „Lehrbuch der Internationalen Beziehungen“ von 2016 war Michael Zürn – einer unserer interessantesten Kollegen in dem Bereich – der zweite Autor, wie auch bei etlichen Aufsätzen. Der Untertitel „Per Anhalter durch die IB-Galaxis“ muss nicht mehr wörtlich genommen werden. Seit meinen Tramptouren als Pennäler Anfang der 50er Jahre bis Rom, Istanbul, oder Lappland in Skandinavien, lohnt sich das Per Anhalter-Fahren nicht mehr. Der Untertitel spielt auch eine interessante Publikation von Douglas Adams (1981) an, die man aber nicht kennen muss, um Deitelhoffs Buch mit Gewinn lesen zu können. Immerhin ist dieser Titel im Prolog eine gute Hinführung auf Deitelhoffs intellektuelle, manchmal ironische und immer spannend zu lesende Darstellungsweise.
Die „Internationalen Beziehungen“, als Teildisziplin unseres Faches, haben sich professionalisiert. Deitelhoffs Beitrag zur Weiterentwicklung der Unterdisziplin war nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Anwendung auf Themen gewichtig.
Die Internationale Politik fand die Eigenständigkeit des Gebiets von der amerikanischen „Übermutter“ erfreulich, die nicht nur wie in Frankreich, durch Betonung der eigenen Philosophie-Traditionen erreicht wurde. Sogar auf der Ebene der Fachverbände versucht die Internationale Politik in der ECPR in eigenen englischsprachigen Zeitschriften international konkurrenzfähig zu machen.
Aber auch die Nachteile der internationalen Anbindung verkennt Nicole Deitelhoff nicht. Befürchtet wird:
Eine postkritische Sozialingenieurstätigkeit (Humrich 2006: 73-75) in thematischer Verödung durch die Anlehnung an die amerikanische Entwicklung, die international dominierte. Gleichförmigkeit, Innovationsscheu und Selbstbezogenheit drohen sich zu verbreiten. Die deutsche Wissenschaft schwankt zwischen protoamerikanischer, postkritischer oder auch nur profilneurotischer Haltung. Aber die Randdisziplin ist zunehmend in die Mitte des Faches Politikwissenschaft hineingewachsen. Diese Spätentwicklung wurde auch dadurch erklärt, dass im Besatzungsregime der Nachkriegszeit das amerikanische Modell prägend wirkte und die Demokratieforschung in den Vordergrund gedrängt wurde. Erst mit der Ausdifferenzierung von Unterdisziplinen wie Integrations- und Ostpolitik, Friedens- und Entwicklungsforschung hat sich die Disziplin wieder ausdifferenziert. Die Sektion Internationale Politik wurde zur am schnellsten wachsenden Unterdisziplin der Vereinigung für Politische Wissenschaft mit 268 Mitgliedern schon 2009. Wilhelm Bleek (2001) hat in seiner „Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland“ die IB noch als Sorgenkind wahrgenommen, das anders als der „normale Rest des Faches“ sich entwickelte.
Der Erfolg wurde auch nicht nur positiv wahrgenommen, weil sich die IB zu einer unabhängigen Disziplin zu entwickeln drohen. In den USA gibt es das schon in einigen Universitäten. Es trat jedoch eher das Gegenteil ein: die Internationale Politik gewann eine integrierende Rolle, schon da die Studenten vielfach diese Disziplin bevorzugen, die einen engeren Bezug zum eigenen Leben und Reisen entwickelt als „Comparative Politics“ und „Geschichte der politischen Theorien“, auch wenn das Fach zwischen rein narrativer „politikkundlicher Oberflächenforschung“ und „Entweichung in theoretische Höhen im akademischen Elfenbeinturm“ hin und her schwankte. Aber sie wurde inzwischen zu einer groß angelegten Verbundforschung, schon durch die Organisation der Förderung von sozialwissenschaftlichen Projekten durch die Geldgeber.
Ein wichtiger Grundbegriff für diese Integration war die Governance-Forschung, die keine Erfindung der IP ist. Die Genesis eher in Comparative Politics hatte den Vorteil, dass die Unterdisziplin IP anderen Bereichen der Politikwissenschaft näher kam – mit Ausnahme der engeren deskriptiv-historischen Außenpolitik-Forschung.
Mit der Governance-Forschung wurde die Hinwendung zu Spezialthemen möglich, die früher kaum beachtet wurden, wie der Internationale Strafgerichtshof, den Deitelhoff in origineller Weise behandelte (2005). Dabei entging ihr nicht, dass es demokratische Bindungsängste gab, die zur Ambivalenz führten. Bei Deitelhoff war es etwa die „EU-Außenpolitik der nationaler Demokratien gegenüber dem Internationalen Recht“ (2007). Kooperationen zwischen Staaten konnten so eine neue Offenheit als grenzüberschreitendes Regieren demonstrieren. Im Unterschied zur innerstaatlichen Hierarchie vollziehen sich diese Aktionen in der „internationalen Anarchie“, die aber mit zunehmender Verflechtung internationaler Organisationen keine wirkliche Anarchie mehr ist.
Deitelhoff stellte bei der erfolgreichen Aufholjagd der internationalen Politik eine „Agnostik innerhalb der Teildisziplin gegenüber methodogischen und epistomologischen Fragen“ fest. Das ist richtig, wenn man die essenziellen Debatten zwischen Idealisten und Realisten der 30er Jahre, Traditionalisten und Szientisten der 60er Jahre betrachtet. Aber die Auseinandersetzung zwischen Rationalisten und Konstruktivisten ist keineswegs überwunden – jedenfalls außerhalb der IP, auch wenn der Gegensatz zwischen sozial- oder geisteswissenschaftlichen Ansätzen keine Rolle mehr spielt. Deitelhoff stellt mit Recht die Vorherrschaft eines hermeneutisch informierten „weichen Positivismus“ fest, sinnvoller als „empirisch-analytisch“ charakterisiert, ein Ansatz, der auf die „Entdeckung und Rekonstruktion von kausalen Mechanismen“ ausgerichtet ist.
Eine große Importfreude wurde entdeckt. Problematisch erscheint der jungen Wissenschaftlerin die spielerische Leichtigkeit der Adaption von Versatzstücken und Theorie-Bruchstücken von Habermas bis Luhmann und Bourdieu. Der Habermas-lastige Typus der Diskurs-Forschung ist vielfach den Ansätzen von Foucault oder Derrida gewichen – wie mir scheint – keine ergiebigen Ansätze für empirische Sozialwissenschaften. Aber die Preisträgerin verkennt nicht, dass die Moden – bei ihr „wissenschaftliche Aufmerksamkeitspannen“ genannt – meist nur kurz wirken, zu Lasten einer Kontinuität der Forschungen.
Nicole Deitelhoff hat nicht nur Lehrbücher in ungewöhnlicher Sophistikation, wie das „Lehrbuch der internationalen Beziehungen“ (2016) geschrieben, sondern sich just in der geforderten Diskursorientierung engagiert mit „Überzeugung in der Politik“ (2006), oder sie hat politische Gerichtskämpfe analysiert wie in „Europa vor Gericht“ (2005). Für die Europa-Forschung wichtig war „Demokratische Bindungsängste? Die ambivalente Beziehung zwischen nationaler Demokratie und internationalem Recht“ (2007) kam öfters zur Sprache. Sie hat in „Recht regiert die Welt“ (2009) die Entwicklung zum Weltbürger und zu den Menschenrechten aufs Korn genommen.
Das Verhältnis von Nationalstaat und transnationalen Institutionen, die sie in „Was bleibt vom Staat?“ (2009) kritisch unter die Lupe nahm, spielt seit dem Brexit und der Krise der europäischen Organisationen eine bedeutende Rolle.
Deitelhoffs Werke sind meist stark theoretisch, aber gelegentlich lässt sie sich kritisch auf konkrete Typologien ein, wie die Unternehmenspolitik in Ruanda oder im Kongo (Corporate Security Responsibility, 2010: 19).
In wichtigen Aufsätzen hat sie die Beziehungen zwischen Politik und Militär als stark vernachlässigtes Thema in unserem Fach behandelt, und hat die Konflikte zwischen Wirtschaft und Politik mehrfach kritisch analysiert.
Schon ihr Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften erwies sich als wegweisende Kombination, die zu kritischen Verarbeitungen der Sentenzen von Nachbarwissenschaften führte, wie in der Schrift „Wirtschaftsunternehmen in Konflikten“ (2013) oder „Business and Human Rights“ (2013).
Recht und Politik spielen in ihrem Werk eine ungewöhnliche Rolle. Dabei spielen Vergleiche zwischen den USA und Europa eine wichtige Rolle. Schwer verständlich für Europäer scheint, dass die USA großes Gewicht auf Gerichte legen, aber keine internationale Strafgerichtsbarkeit fördern.
Die Betonung der eigenen demokratischen Verfassung führte nach Deitelhoff zu einem Misstrauen gegenüber der internationalen Umwelt, die von der eigenen Verfassung abfällt. Konzepte wie Grande Nation oder Empire zeigten aber auch in Europa einst ähnliche Besonderheiten. Das Misstrauen gegen undemokratische Staaten führte zur Annahme, diese seien grundsätzlich feindlich gesonnen. Das Misstrauen ist vor allem bei den amerikanischen Eliten ausgeprägt. Es ist von „militanter Demokratie“ die Rede. Gemeinsamen Einrichtungen wird misstraut, und gerade für diese setzt sich Frau Deitelhoff in erfreulicher Weise ein.
Verrechtlichung und Demokratiesicherung müssen Hand in Hand gehen, anders als vielfach in Amerika. Die Autorin entwickelte die Hypothese, dass Widerstand sich radikalisieren und Opposition in Dissidenz umschlagen kann, wenn Strukturen der Über- und Unterordnung institutionalisiert und die Möglichkeiten internationaler Teilhabe zunehmend eingeschränkt werden (Widerstand und Herrschaft im internationalen System, PVS 312). Dem Wechselverhältnis von Herrschaft und Widerstand schenkt die Autorin mehr Aufmerksamkeit als die meisten amerikanischen Kollegen, die sich in Selbstsicherheit über ihr System nicht erst seit Trump wiegen.
Recht und Politik wurden anhand der Verhandlungen zum Internationalen Gerichtshof analysiert. Es zeigte sich, dass von einer gemeinsamen Außenpolitik der EU nicht gesprochen werden kann. Aber das heißt nicht, dass die EU erfolglos war. Es gelang ihr, dem Druck der USA 2005 (In: Europa vor Gericht, S. 27) zu widerstehen, trotz potentieller Militarisierung. Das wird die Autorin inzwischen anders sehen, seit Trump Europa zwingen will, seine militärischen Budgets zu verdoppel
Der Policy-Ansatz und die Reintegration der Unterdisziplinen des Faches
Der Policy-Ansatz ermöglichte auch die Entstehung eines Aspektes, der Deitelhoff gewogen scheint: das Regieren jenseits des Staates und die Public-private Partnerships. Private Selbstregulierung schien nicht Teil einer IP. Mit der Vorherrschaft des Neo-Liberalismus bekam dieser Aspekt einen wichtigen Platz, auch in der transnationalen Forschung. Wirtschaft wird wichtig - und Deitelhoff hat in ihrer Fächerkombination die besten Voraussetzungen für die Berücksichtigung dieses Bereiches entwickelt.
Eine Folge ist die Denationalisierung, die seltsamen Koalitionen, die von der Linken bis zur AfD reichen, ein Dorn im Auge ist, und zu populistischen Gegen-Mobilisierungen führen, die in den Werken der Preisträgerin, trotz der modischen Überrepräsentation in der Publizistik, noch kaum eine Rolle spielen. Die lockere Redeweise vom postdemokratischen Zeitalter seit Crouch wird nebenbei behandelt.
In diesem Bereich habe ich versucht eine Entwicklung „von der Post- zur Neo-Demokratie“ (2013) zu prognostizieren, mit vergleichsweise geringem Echo. Das zeigt, dass der Einfluss einer auf Sensationen ausgerichteten Medienlandschaft, handfeste Thesen braucht. Die sind meist nach kurzer Zeit überholt. Anhand der Kunstgeschichte versuchte ich zu zeigen, dass die Entwicklung vom Post-Impressionismus einen Neo-Impressionismus und einen Post-Surrealismus einen Neo-Surrealismus nicht unmöglich machte.
In dem Aufsatz „Aus dem Herzen der Finsternis. Kritisches Lesen und wirkliches Zuhören der konstruktivistischen Normenforschung“ in der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (2013 H. 1: 70) wurde ihre Haltung zur normativen Theorie deutlich. Mit ihren Kontrahenten verband sie immerhin der Satz, dass „kritische Normenforschung dringend benötigt wird und glauben, dass die Integration von feministischen und postkolonialen Ansätzen... wichtige Einsichten bereit hält.“ Die Hinwendung zur Normenforschung heißt jedoch bei der Autorin nicht, dass es um moralisierende Darstellungen geht. Sie geht davon aus, dass Theorien und Methoden in diesem Fachgebiet aus historischen Umständen entstehen. Die Kubakrise 1962 brachte etwa die ersten Kooperationstheorien hervor. So rückt heute in der IB-Galaxis der Charakter der Ordnung des globalen Regierens in Zentrum.
Nicole Deitelhoff ist solchen Fehlschlüssen wie „Das Ende der Geschichte“ oder „Postdemokratie“ von Crouch geschickt ausgewichen. Die internationalen Beziehungen sind für sie weniger theorie- als themengesteuert. Wenn sich die weltpolitische Situation ändert, kommt es in der Wissenschaft zu großen Umbrüchen. Ein solches Ereignis scheint sich dank Trump, Putin und Erdoğan gerade wieder abzuspielen und man darf gespannt sein, wie es die Politikwissenschaft umkrempelt.
Gemildert werden solche Einbrüche durch den Umstand, dass die Theoriedebatte sich weiter aufgefächert hat. Dies führt zu einer Annäherung von IP und Comparative Politics, da Internationale Politik nicht mehr als ein kategorial andersartiger Raum des politischen Handelns wahrgenommen wird, sondern zu einer Ebene des politischen Handelns unter anderen.
„Corporate Governance“ (2017) als wichtiger Sammelband führt die Autorin in zahlreiche Fallstudien, die gut abgestimmt mit anderen Autoren behandelt werden, vor allem im Bereich Afrika.
Neu an Deitelhoff ist die gemäßigte ironische Kritik an anderen Autoren – verbunden mit einer ungewöhnlichen Bescheidenheit, denn ihr Buch schließt mit den 42 Theorien, die nicht behandelt wurden. Ich kenne keinen Autor, der jemals so etwas zugegeben hat. Für ein Lehrbuch war diese Nichtbehandlung ein Glück, denn die Übersichtlichkeit bei Behandlung vieler Theorien hätte leiden können, trotz der geschickten Einbauten von Graphiken über Theoriemodelle. Für Lehrbücher gibt es keine Preise, aber die Preiswürdigkeit einer Autorin kann man nicht zuletzt an der Darstellung so komplexer Materien feststellen, welche die Studenten nicht frustrieren sollen.
Durch Nicole Deitelhoffs große Begabung für theoretische Themen, war sie just der Typ von Politikwissenschaftlerin, welchen die „Selbstzerfleischer“ unseres Faches lange vermisst haben und die den Schader-Preis verdient ha
Literatur
Adams, Douglas: Per Anhalter durch die Galaxis.(1981) München, 1998.
Hartung, Manuel J. Krise der Klugen. Wenn die Demokratie gefährdet ist, müssen die Universitäten viel politischer werden. Die Zeit, 23.2.2017:1.
Masala, Carlo: Auf dem Rückzug. Die Politikwissenschaft ist inhaltsleer und irrelevant sagt Politikwissenschaftler Carlo Massala. Die Zeit 9. 2. 2017: 60.
Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt, Suhrkamp, 1989.