Die Stadt als Ort der Integration von Zuwanderern
Artikel vom 06.11.2003
„Fremdheit ist eine universale Bedingung des modernen Lebens. Die Prozesse der Individualisierung, der Ausgrenzung und der funktionalen Differenzierung machen die Vorstellung einer durch Homogenität integrierten Gesellschaft obsolet. Assimilation und Melting-Pot sind demnach keine Integrationsmodelle für moderne Gesellschaften, denn diese sind hochkomplexe, in sich sogar widersprüchliche Einheiten.“ Von Hartmut Häußermann und Walter Siebel
Die Stadt als Ort der Integration von Zuwanderern
Vortrag anlässlich der Verleihung des Schader-Preises am 06. November 2003.
In unseren Städten wachsen von Tag zu Tag die Anteile von ethnischen Minderheiten an der Wohnbevölkerung. Auch wenn kein einziger Zuwanderer aus dem Ausland mehr nach Deutschland käme, wird dieser Anteil wachsen, weil die Migrantenbevölkerung durchschnittlich jünger ist, und weil die autochthonisch Einheimischen weniger Kinder bekommen. Noch ist die deutsche Politik vor allem auf die Abwehr weiterer Zuwanderung ausgerichtet, aber dies wird sich bald ändern, denn in absehbarer Zeit werden die jungen Arbeitskräfte sehr knapp.
Migranten leben vor allem in den großen Städten – genauer: in den großen Städten Westdeutschlands. In den ostdeutschen Städten haben sich bisher keine ethnischen Minderheiten in nennenswertem Umfang gebildet. Man schätzt, daß ca. auch über 90% der künftigen Zuwanderer in die westlichen Bundesländer ziehen werden. Ein hoher Anteil von Migranten unter den Stadtbewohnern wird bald die Normalität in westdeutschen Großstädten sein. In manchen Städten werden in wenigen Jahrzehnten 40% der Einwohner einen Migrationshintergrund haben. Andere Städte werden bald dazu übergehen müssen, um Zuwanderer zu werben, um die absehbaren Folgen der demographischen Entwicklung insbesondere auf den Arbeitsmärkten etwas auszugleichen.
Das wird das soziale und kulturelle Leben in den großen Städten sehr verändern. Integration wird zu einer zentralen Zukunftsaufgabe, für die politische Konzepte erarbeitet werden müssen. Nicht erst die Debatte um das Kopftuch als Symbol von kultureller Andersartigkeit hat deutlich gemacht, dass die Vorstellungen darüber, was Integration sei und wie sie gelingen könne, bisher noch weit auseinandergehen. Wir wollen dazu im Folgenden einige grundsätzliche Überlegungen aus sozialwissenschaftlicher Sicht vortragen.
Was heißt Integration?
Wenn über Integration gesprochen wird, stehen im Hintergrund zwei ganz verschiedene Fragen und zwei ganz verschiedene Vorstellungen von Gesellschaft. Bei der Frage nach der Integration der Gesellschaft, also danach, was Gesellschaft eigentlich zusammenhält, stellt man sich Gesellschaft als ein Ganzes vor, das sich aus verschiedenen, möglicherweise sogar widersprüchlichen Teilen zusammensetzt, und deren Zusammenhalt auf irgendeine Weise gesichert werden muß. Das kann durch gemeinsame Werte, durch politische Macht oder durch unterschiedliche Beiträge von Subsystemen zum Funktionieren des Ganzen geschehen.
Von einer ganz anderen Vorstellung von Gesellschaft wird bei der Frage nach der Integration von Individuen in die Gesellschaft ausgegangen. Gesellschaft wird in diesem Fall als ein in sich geschlossenes Ganzes gedacht, in das von außen ein Individuum oder eine Gruppe gleichsam eindringen. Als Problem der Integration gilt dann, wie die Kluft zwischen Drinnen und Draußen überwunden werden kann. Diese Vorstellung bildet üblicherweise den Hintergrund der Diskussion über die Integration von Zuwanderern. Es geht um die, die ‚draußen’ sind, und um die Frage, ob und wie sie ‚hinein’ kommen können oder sollen.
Je nachdem welche Vorstellung von Gesellschaft zugrunde gelegt wird, ergeben sich dabei ganz andere Wege der Integration von Zuwanderern.
Wenn eine Gesellschaft, deren Homogenität durch die Zuwanderung in Frage gestellt wird, an der Vorstellung eines homogenen Ganzen festhält, dann gibt es zwei Wege zu diesem Ziel:
- Die Assimilation: die ‚Leitkultur’ bleibt unverändert und verlangt daher von den Zuwanderern Anpassung an diese Kultur: Die Zuwanderer sollen ihre Fremdheit ablegen und sich so unauffällig wie möglich integrieren. Die Anpassungsleistung liegt allein beim Individuum. In der deutschen Politik ist bis heute dieses Modell dominant
- Die amerikanische Vorstellung vom Melting-Pot (Schmelztiegel) unterstellt dagegen, dass sich im Prozeß der Zuwanderung auch die Aufnahmegesellschaft verändert. Sie entwickelt eine neue Identität. In der Vorstellung von einem ‚American way of life’ verschmelzen die von den Zuwanderern mitgebrachten Elemente zu etwas Neuem. Die Anpassungsleistung liegt also auf beiden Seiten: bei den Zuwanderern, die ihre partikulare Identität ablegen, und bei der Gesellschaft, die eine neue Identität durch Wandel erreicht.
In beiden Fällen ist die Vorstellung von einer homogenen Kultur die normative Grundlage. Das ist eine modellhafte, abstrakte Debatte. Über die großen Städte, in denen sich die Zuwanderer sammeln, haben die Gründer einer Soziologie der Stadt schon am Beginn des 20. Jahrhunderts ganz andere Vorstellungen entwickelt: nicht Integration durch die Aufrechterhaltung bzw. Herstellung von Homogenität, sondern ganz im Gegenteil, Integration durch das Aushalten von Differenz.
Georg Simmel ging es um die Aufrechterhaltung von Differenz in der modernen Großstadt, und diese Leistung musste nach seiner Analyse vom Individuum erbracht werden. Simmel sah es als eine Aufgabe urbaner Individuen, sich gegenseitig in ihrer Fremdheit zu respektieren, also weder sich selbst noch den Zuwanderer zur Anpassung zwingen. In der Großstadt leben die Menschen in anonymer Distanz zueinander, so formulierte er, ja sie ignorieren sich als individuelle Menschen wechselseitig, was zu der großstadttypischen Reserviertheit und Unpersönlichkeit bei alltäglichen Beziehungen führt. Dadurch entsteht ein sozialer Raum für die problemlose Koexistenz des Heterogenen. Man kann dies als den Integrationsmodus urbaner Indifferenz bezeichnen.
Auch in der amerikanischen Einwanderungsstadt, wie sie von Park, Burgess u.a. in den 1920er Jahren an der Universität von Chicago theoretisch konzipiert wurde, bleibt die Differenz zwischen den verschiedenen Kulturen erhalten. Aber Integration wird dabei ganz anders gedacht: als Möglichkeit des Fortbestehens von einander fremden Kollektiven, d.h. von ethnischen Gruppen: die Stadt wird gedacht als ein Mosaik verschiedener Lebenswelten, die räumlich voneinander geschieden sind. Das ist die segregierte Stadt, in der soziale und kulturelle Distanzen in räumliche Distanzen übersetzt sind und dadurch direkte Konflikte zwischen den verschiedenen Kulturen vermieden werden. Anpassung wird nicht verlangt und nicht erzwungen.
Welches der vier Modelle ist heute angemessen?
Wenn Gesellschaft als geschlossenes Ganzes, als eine homogene Einheit gedacht wird, in das Fremdheit durch Zuwanderung gleichsam importiert wird, dann kann Integration nur verstanden werden als ein Prozeß, in dessen Verlauf Fremdheit zum Verschwinden gebracht wird. Sie wird vergessen, vernichtet oder zu etwas Neuem umgeschmolzen. Gelingt das nicht, wird sie wieder ausgeschieden.
Diese Vorstellung hat Gültigkeit für vormoderne Gesellschaften. In Stammesgesellschaften gibt es keine Rollen für Fremde. Deshalb ist hier Fremdheit unerträglich. Sie muß vernichtet werden, sei es wortwörtlich, indem der Fremde erschlagen wird, sei es durch seine spurlose Integration, indem der Fremde beispielsweise durch Adoption zum Verwandten gemacht wird.
Mit fortschreitender Differenzierung der Gesellschaft entstehen jedoch Positionen im sozialen Gefüge, in die der Fremde einrücken und Fremder bleiben kann oder sogar muß. Das sind gesellschaftliche Funktionslücken.
- Das klassische Beispiel dafür ist der Jude, der im Mittelalter das den Christen verbotene, aber ökonomisch notwendige Ausleihen von Geld gegen Zins betreibt.
- In den 1960iger Jahren ist es der Gastarbeiter, der die untersten Positionen auf dem Arbeitsmarkt besetzt, die für Einheimische unattraktiv geworden sind - ein Modell der Unterschichtung.
Beide Male ist der Fremde als nützliches Mitglied des ökonomischen Systems integriert, im Übrigen aber ausgegrenzt als kulturell Fremder, als ‚der Jude’ oder - politisch - als ‚der Ausländer’. Der Fremde ist zugleich in der Gesellschaft und außerhalb.
In modernen Gesellschaften verwischt sich jedoch die Grenze zwischen Drinnen und Draußen. Moderne Gesellschaften sind keine nach außen abgeschlossenen Einheiten - und sie produzieren aus sich heraus Fremdheit. Die Verortung des Fremden auf der Grenze zwischen Drinnen und Draußen ist gebunden an die Existenz nationalstaatlich verfasster Gesellschaften als geschlossener, homogener Einheiten, in die der Fremde von außen eindringt. Das aber entspricht immer weniger der Realität. Die deutsche Gesellschaft ist weder ökonomisch – Stichwort ‚globale Verflechtung’ – noch politisch – Stichwort ‚Europäische Union’ – als ein nach außen abgeschlossenes Ganzes zu begreifen. Und intern differenzieren sich moderne Gesellschaften immer stärker in verschiedene Milieus und Lebensstilgruppen aus. Sie erzeugen aus sich heraus, strukturell, Fremdheit.
Gleichgültigkeit und Distanziertheit des Großstadtbewohners, die großstädtische ‚Mentalität’ lassen Raum dafür, daß jeder nach seiner Façon leben kann, ohne von anderen kontrolliert oder zur Anpassung gedrängt zu werden. Gleichzeitig zwingen kulturelle Konkurrenz und ökonomische Arbeitsteilung dazu, die eigene Besonderheit immer schärfer herauszuarbeiten. Arbeitsteilung und urbane Distanziertheit sind nach Simmel die Voraussetzungen zunehmender Individualisierung - bis hin zu Lebensstilen, die sich bewusst als alternativ stilisieren. Die Kultur der Zugewanderten ist nur ein Milieu neben anderen. Die Distanz zwischen traditionellen Industriearbeitern im suburbanen Eigenheim und den Yuppies in den Gründerzeitvierteln der Großstädte oder zur Alternativ-Szene dürfte kaum geringer sein als zum türkischen Milieu in Berlin-Kreuzberg.
In modernen Gesellschafen bleiben die meisten Kontakte zwischen Individuen auf sehr kleine Ausschnitte der Person beschränkt. Man begegnet sich in funktional definierten Kontexten, in denen die übrigen Facetten der Persönlichkeit nicht interessieren. Das klassische Beispiel dafür ist der Markt: Auf dem Markt treten Kunden und Verkäufer zueinander in Beziehung, alle übrigen persönlichen Merkmale interessieren dabei nicht. In funktional differenzierten Gesellschaften wird segmentäres Rollenverhalten alltäglich. Wenn in modernen Gesellschaften Kontakte nur partiell sind, d.h. der Andere allenfalls nur ausschnitthaft bekannt ist, dann bleibt jeder dem Anderen auch fremd. In modernen Gesellschaften ist ‚Fremdheit’ also der Normalfall. Sie muß nicht importiert werden, sie ist Alltagserfahrung auch unter den Einheimischen.
Fremdheit ist eine universale Bedingung des modernen Lebens. Die Prozesse der Individualisierung, der Ausgrenzung und der funktionalen Differenzierung machen die Vorstellung einer durch Homogenität integrierten Gesellschaft obsolet. Assimilation und Melting-Pot sind demnach keine Integrationsmodelle für moderne Gesellschaften, denn diese sind hochkomplexe, in sich sogar widersprüchliche Einheiten. Und gerade das – so unsere zentrale These - macht die Integration von Zuwanderern leichter:
In modernen Gesellschaften verschwindet die Dichotomie von Drinnen und Draußen in einem allgemeinen Integrationsprozeß der gesamten Gesellschaft. Der erst kürzlich zugewanderte Fremde ist lediglich ein Sonderfall von Fremdheit. Diese ‚Normalität von Fremdheit’ macht moderne Gesellschaften fähig, Zuwanderer zu integrieren, ohne ihre Fremdheit vernichten zu müssen oder sie dauerhaft in bestimmten Nischen auszugrenzen.
Die Binnendifferenzierung moderner Gesellschaften produziert aber nicht nur strukturell Fremdheit, sie zergliedert den Integrationsprozeß auch in Teilprozesse, die nicht direkt miteinander verbunden sind. Dadurch wird es möglich, dass sich Integration jeweils nur partiell als ökonomische, politische, kulturelle oder soziale vollzieht, ohne daß zwischen den verschiedenen Dimensionen ein notwendiger Zusammenhang bestünde.
Integration in den Arbeitsmarkt beispielsweise setzt nicht die politischen Staatsbürgerrechte voraus. Und wer nicht über Kapital verfügt, kann sich trotzdem an der Suche nach Wahrheit im wissenschaftlichen System beteiligen, der Besitz der Wahrheit wiederum ist keinesfalls notwendige Voraussetzung, um am politischen Prozess teilzunehmen. Integration kann also durchaus ein ungleichzeitiger oder sogar widersprüchlicher Prozess sein, das heißt: Integration ist kein irgendwie abschließend definierbarer Zustand und es geht nicht bei jedem ‚Integrationsproblem’ immer gleich um Alles oder Nichts
Die Differenzierung in autonome Teilsysteme steigert die Integrationsfähigkeit der modernen Gesellschaft. Weil Wirtschaft und Politik getrennte Systeme sind, kann man sich politisch völlig fremd bleiben und trotzdem gute Geschäfte miteinander machen. Märkte erlauben die Teilnahme bei aufrechterhaltener Fremdheit. Demokratie und Markt sind – theoretisch - offene Systeme. Sie ermöglichen Teilnahme ohne Ansehen der Person, und eben dadurch erweitern sich die ökonomischen und politischen Spielräume. Moderne Gesellschaften können kulturelle Fremdheit dethematisieren.
Man kann angesichts der umfangreichen Zuwanderungen seit Ende des zweiten Weltkriegs durchaus behaupten, dass die heutige deutsche Gesellschaft eine enorme Integrationsfähigkeit unter Beweis gestellt hat, sich also als moderne Gesellschaft bewährt hat. Das begründet zunächst einmal einen grundsätzlichen Optimismus auch für die Zukunft.
Grenzen des liberalen Modells gelingender Integration
Zuwanderung wirft jedoch neue und schärfere Fragen sozialer Ungleichheit auf. Bisher haben wir modelltheoretisch argumentiert und dabei das Idealbild einer liberalen Gesellschaft zugrunde gelegt. Aber man muß auch fragen, ob die Voraussetzungen dieses liberalen Modells gelingender Integration überhaupt gegeben sind.
Zwei Einwände liegen auf der Hand:
- Das liberale Modell der Integration setzt gleiche Chancen des Zugangs zu Markt, Demokratie und Bildung voraus. Diese Chancengleichheit ist jedoch keineswegs für alle gegeben. Also funktionieren das ökonomische, das politische und das Bildungssystem in der Realität nicht so, wie es sich die Theorie vorstellt.
- Die Situation der sozialen Gruppen, die in unserer Gesellschaft typischerweise mit Zuwanderern alltäglich in Kontakt kommen, macht den gelassenen Umgang mit Fremdheit zu selten möglich.
Wir haben zwei Möglichkeiten, wie in modernen Gesellschaften mit Fremdheit umgegangen werden kann, eingangs erwähnt: einmal durch soziale Distanz zwischen Individuen, also durch die von Simmel beschriebene urbane Indifferenz des Großstadtbewohners, zum anderen durch räumliche Distanz zwischen sozialen Gruppen, die sich im Bild der Stadt als einem Mosaik verschiedener Lebenswelten manifestiert.
Die Fähigkeit zu urbaner Toleranz und Distanziertheit ist aber nicht überall vorhanden. Das hat sozialstrukturelle und psychische Gründe:
- sozialstrukturell: Wer sich anderen gegenüber gleichgültig verhalten will, der darf weder ökonomisch noch psychisch auf sie angewiesen sein. Der gleichgültig-distanzierte Großstädter ist nur lebensfähig auf Basis einer gesicherten ökonomischen Existenz: als Rentier, als Besitzer eines sicheren Arbeitsplatzes oder als Bürger eines ausgebauten Sozialstaates. Diese Voraussetzung ist heute aber keineswegs selbstverständlich gegeben, weder für alle Zuwanderer noch für alle Einheimischen.
- psychisch: Distanziertheit und Gleichgültigkeit gegenüber Fremden ist um so eher möglich, je gesicherter die persönliche Identität ist, wozu psychische Autonomie und eine klare soziale Position gehören.
Die Filtermechanismen auf den Arbeits- und Wohnungsmärkten bringen die Zuwanderer in die Nähe zu den einheimischen Verlierern des Strukturwandels. Wer sozialen Abstieg erfahren hat oder in einer existentiell ungesicherter Situation lebt, wessen soziale Identität also bedroht ist, der ist jedoch am wenigsten in der Lage, in urbaner Abgeklärtheit mit Fremdheit umzugehen. Im Gegenteil: er braucht Sündenböcke, und Migranten waren immer schon besonders geeignet für diese Rolle.
Die urbane Indifferenz des gelernten Großstädters ist der idealisierte Modus der Integration in einer funktionierenden liberalen Gesellschaft – aber wie alle Ideale ist auch das ein utopisches Modell. Deshalb taugt es nicht generell für die Bewältigung von Konflikten, wie sie in unseren Städten zu erwarten sind.
Bleibt nur das letzte Modell? Die Stadt als Mosaik ethnischer Dörfer, wie es typisch für große Einwanderungsstädte ist? Wer sich in New York von der Wall Street aus nach Norden bewegt, findet sich zunächst unter lauter nach dem letzten Dress-Code gekleideten, weißen Angestellten mit Aktentaschen und Handys. Bald aber meint man, in China zu sein, etwas später in einem orthodoxen Judenviertel, dann in Russland oder weiter rechts in Südamerika. Im Norden gelangt man nach Harlem, einem Zentrum der schwarzen Amerikaner. Und dass das so ist, hat seine guten Gründe.
Die segregierte Stadt, das Mosaik ethnischer Dörfer, kann doppelt notwendig sein: einerseits, um Konflikte zu vermeiden, indem soziale und kulturelle Distanzen durch räumliche Distanz neutralisiert werden, andererseits als Voraussetzung für die Bildung informeller Hilfsnetze, die den Neuankömmlingen die ersten Schritte in der Fremde erleichtern. Wir kommen darauf zurück.
Nicht Integration in, sondern Integration der Gesellschaft
Die empirischen Einwände gegen den Optimismus des liberalen Modells verweisen zunächst einmal auf die Notwendigkeit, seine Voraussetzungen sicherzustellen. Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt oder aus dem demokratischen Prozeß und die Vererbbarkeit von Bildungschancen sind allgemeine Probleme der deutschen Gesellschaft, die nicht erst durch Zuwanderung entstehen. Also ist es die Aufgabe der Integrationspolitik, für alle Gesellschaftsmitglieder Chancengleichheit herzustellen, d.h. Diskriminierung - gleich gegen wen - zu verhindern, Vollbeschäftigung zu sichern und jedem die gleichen Bildungschancen zu bieten. Das ist keine Aufgabe einer besonderen Integrationspolitik für Ausländer, sondern Sache der ‚normalen’ Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik, deren Adressaten die einheimischen Verlierer des Strukturwandels ebenso sind wie die Zuwanderer.
So gesehen stellt erstens Integration nicht ein Problem dar, das durch Zuwanderung erst importiert worden wäre. Das eigentliche Problem sind die Tendenzen der Ausgrenzung in unserer Gesellschaft, die Einheimische wie Zugewanderte treffen. Zweitens wird der Zuwanderung ihre Bedrohlichkeit und hoffentlich auch ihre Sündenbockfunktion genommen. Wenn soziale Identitäten bedroht sind, dann durch allgemeine Tendenzen der Ausgrenzung, nicht durch Zuwanderung. Die Krise der sozialen Identität, die Gefahren der Desintegration werden durch die Konfrontation mit Fremden aktualisiert, aber nicht durch diese hervorgerufen. Und drittens wird der stigmatisierende Effekt von Politiken vermieden, die - wie wohlmeinend auch immer - als spezielle Politiken zur Integration von Zuwanderern ihre Adressaten zugleich als eine besondere Problemgruppe stigmatisieren.
Ist damit alles gesagt? Sicher nicht, denn das ‚Integrationsproblem’ kann nicht auf die Sicherung gleicher ökonomischer, politischer und Bildungschancen reduziert werden – obwohl das schon sehr viel wäre. Es geht aber auch um Fragen der sozialen Anerkennung. Diskriminierung als negative und soziale Anerkennung als positive Bedingung gelingender Identität müssen als wichtiger Teil des Integrationsprozesses erkannt werden.
Soziale Anerkennung, Achtung und Respekt sind unverzichtbare Grundlagen einer humanen Existenz. Integration gelingt oder misslingt insofern auch in jeder kleinen alltäglichen Handlung: wie man einem Bettler begegnet ist ebenso eine Integrations- oder Ausschließungshandlung wie der Umgang mit einer Kopftuch-Ausländerin, die einem im Weg steht. Das ist eine Frage des alltäglichen Umgangs miteinander, gleich ob es sich um Kontakte auf der Straße, auf dem Markt, im Rathaus, auf einem Amt oder auf einer politischen Versammlung handelt. Politisch-administratives Handeln kann hier nicht viel ausrichten - außer Antidiskriminierungsregeln durchzusetzen und Schulungen anzubieten über den Umgang mit fremden Sitten. Hier muß sich die Gesellschaft selbst als zivil erweisen.
Was folgt daraus für Integrationspolitik?
Zunächst einmal ein grundsätzlicher Optimismus. Demokratie und Markt sind prinzipiell offene Systeme, in die jeder ohne Ansehen der Person eintreten kann, sofern die Mindestbedingungen gegeben sind: Kaufkraft oder qualifizierte Arbeitskraft auf dem Markt, die Staatsbürgerrechte im politischen System. Diese Mindestbedingungen sind von den Subjekten und von der Gesellschaft zu erbringen: Seitens der Gesellschaft sind das beispielsweise Antidiskriminierungsregeln, politische und soziale Bürgerrechte und Qualifizierungsmöglichkeiten; seitens der Zuwanderer sind es Qualifikationserwerb und verfassungskonformes Verhalten. Den Rest kann man getrost den Prozessen von Markt und Demokratie überlassen.
Integration wie Ausgrenzung sind auch keine Zustände, sondern Prozesse. Zustands- Indikatoren wie Schulerfolg, Arbeitslosenquote oder Häufigkeit interethnischer Eheschließungen erlauben nicht das Urteil, Integration sei gelungen oder gescheitert. Entscheidend ist nicht die gegenwärtige Situation, sondern die Richtung des Prozesses: Verläuft die Karriere einer Gruppe oder eines Individuums abwärts oder aufwärts? Ausgrenzung und Integration sind Verlaufsmuster, die sich durch die Richtung ihrer Bewegung unterscheiden: an den Rand der Gesellschaft oder in ihre Mitte. Durchschnittlich schlechtere Schulergebnisse von Zuwandererkindern sind kein Zeichen für gescheiterte Integration, sondern Hinweise dafür, wo die Chancengleichheit vergrößert werden müsste. Meldungen aber, wonach der Schulerfolg von Migrantenkindern sich verschlechtert oder die Sprachkompetenz in der dritten Generation wieder zurückgeht, sind Alarmsignale, die auf misslingende Integration oder Ausgrenzungsprozesse hinweisen.
Auch grundsätzliche Probleme bleiben bestehen. Differenzierte Gesellschaften kennen Grenzen tolerierbarer Fremdheit. Ein fröhliches Laissez-Faire in jeder Hinsicht kann nicht die Grundlage von Integrationspolitik sein. So ist die Trennung verschiedener Teilsysteme, z. B. des politischen von der Religion, konstitutiv für moderne Gesellschaften. Das Verlangen nach Entdifferenzierung würde die gesellschaftliche Fähigkeit zur Integration von Fremden untergraben. Fundamentalistische Positionen, gleich ob christlicher oder anderer Provenienz, die die säkulare Staatsauffassung nicht akzeptieren, können nicht nur die Verfassung verletzen, sie stellen auch das Strukturmerkmal horizontal differenzierter Gesellschaften infrage. Ebenso unverhandelbar sind natürlich Menschenrechte wie die Unantastbarkeit der Würde des Menschen.
Die Hoffnung, Integrationsprobleme ließen sich in irgendeinem Sinne endgültig lösen, ist unangemessen. Integration ist ein unabschließbarer und konfliktreicher Prozess, der keinem festen Schema folgt und immer wieder von Neuem beginnt. Integrationsprobleme können sich lediglich wandeln. Es gibt daher auch keine eindeutigen und feststehenden Standards, an denen man das Erreichte messen könnte - und ebenso wenig sind verallgemeinerbare Maßnahmen zur Integration formulierbar, die man in jeder Stadt und auf jeden Fall anwenden könnte.
Vorsicht ist außerdem geboten ist vor der Vorstellung, Integration könne von Amtsstuben aus befohlen und umgesetzt werden. Denn wenn erst einmal die gröbsten Hindernisse in Form von diskriminierenden Vorschriften ausgeräumt, und wenn die Zugänge zu den Fördertöpfen fair geöffnet sind, dann liegt es immer noch an den sozialen Interaktionen zu jeder Zeit und an jedem Ort, ob Chancengleichheit gewährt, wechselseitige Anerkennung gesichert und gegenseitiger Respekt praktiziert wird. Das heißt: die Politik hat ihre Grenzen. Nicht alles lässt sich von oben steuern.
Empfehlungen für eine Integrationspolitik
Aus den bisherigen Überlegungen lassen sich aber auch einige Empfehlungen für eine Integrationspolitik ableiten. Beispielhaft seien genannt:
- Wenn Integration ein konflikthafter Prozess ist, dann müssen Mechanismen der Konfliktmoderation unterhalb der Schwelle von Polizei und Justiz entwickelt werden, die verhindern, dass Konflikte eskalieren. In Frankfurt wird das vom Amt für multikulturelle Angelegenheiten versucht.
- Ebenso wichtig ist die Einrichtung von Frühwarnsystemen, die rechtzeitig auf Konflikte aufmerksam machen, bevor es zum Rückzug in die geschlossene Gemeinschaft der Alteingesessenen bzw. der Zuwanderer oder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. Das heißt nichts anderes, als dass die Koexistenz von heterogenen Individuen oder Gruppen sozial eingebettet werden muß, wenn sie sich nicht von selbst problemlos gestaltet. Horribile dictu: in Konfliktzonen muß soziale Kontrolle etabliert werden.
- Maßnahmen, mit denen bestimmte Ziele erreicht werden sollen, müssen unter Beteiligung der konfligierenden Gruppen ausgehandelt werden, und sie müssen in genauer Kenntnis der Situation formuliert sein. Das verlangt nicht nur objektive Informationen über Arbeitslosenquoten, Qualifikationen u.ä. sondern auch „tacit knowledge“, ein qualitatives Wissen, auf dessen Hintergrund die vorliegenden Informationen überhaupt erst interpretierbar werden. Was gilt als ‚gute Arbeit’, was wirkt als eine Kränkung des Ehrgefühls, geht es wirklich um ein materielles Problem oder eher um Fragen der sozialen Anerkennung? Solches Wissen kann nur vor Ort, z.B. in den Kommunen, Schulen, Betrieben und Wohnungsverwaltungen erworben werden, d.h. in Interaktionen innerhalb ortsgebundener Milieus, und es kann auch nur von Person zu Person in alltäglichen Kontakten vermittelt werden. Dazu müssen diejenigen, die in Wohnungsbaugesellschaften, Betrieben, Kommunalverwaltungen, der Polizei und Vereinen alltäglich in Kontakt mit Zuwanderern kommen, geschult werden und sie müssen ihre Erfahrungen untereinander austauschen können. Solche Kontakte können erleichtert werden durch Stadtteilmanagement, Außenstellen der Verwaltungen oder informelle Konsultationsverfahren. Deshalb ist Integrationspolitik vor allem lokale Politik.
Wenn das Ideal der Integration durch urbane Indifferenz eine Utopie ist, dann bleibt als Möglichkeit nur die Stadt als Mosaik getrennter Lebenswelten. Aber dieses Modell der Integration ist nur zweite Wahl, und als zweite Wahl ist es mit Ambivalenzen beladen. Denn räumliche Segregation kann auch mit Abschließung und Ausgrenzung verbunden sein. In der Realität müssen alle Fragen der Integration daher im Bewußtsein der Ambivalenz jeden einzelnen Schritts angegangen werden.
Ein Beispiel ist der Umgang mit Einwanderungsquartieren (‚ethnische Kolonien’). Solche Quartiere sind eine Begleiterscheinung fast aller Einwanderungsprozesse. Sie erfüllen notwendige Funktionen als Orte vertrauter Heimat in der Fremde, wo der neu Zugewanderte Nachbarn findet, die seine Sprache sprechen, seine Gewohnheiten teilen, wo er Unterkunft, eine auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Infrastruktur, Informationen über die neue Umgebung, materielle und emotionale Unterstützung finden kann. Insofern ist Segregation funktional. Einwanderungsquartiere können aber auch zu Fallen werden. Die Quartiere der neu Zugewanderten können – in Reaktion auf gescheiterte Integrationsversuche – zu Orten des Rückzugs in die eigene Gemeinschaft und damit zur Mobilitätsfalle werden. Es können sich Klientelbeziehungen bilden - bis hin zu mafiosen Strukturen, deren Patrone wenig Interesse an der Integration ihrer Klientel in die umgebende Gesellschaft haben.
Einwanderungsquartiere sind als dauerhafte Erscheinungen in Einwanderungsstädten zu akzeptieren, zugleich muß die Stadtpolitik alles daran setzen, daß die einzelnen Zuwanderer sich nur vorübergehend darin aufhalten (müssen). Sie müssen Durchgangsstationen sein und dürfen nicht Ausdruck einer strukturellen Ausgrenzung werden. Dazu ist es notwendig, Integrationshilfen in diesen Quartieren zu konzentrieren, weil dort die Adressaten solcher Bemühungen konzentriert und daher leichter zu erreichen sind. Statt einer forcierten Politik der isolierenden Verstreuung der Zuwanderer über das ganze Stadtgebiet - die von Kommunalpolitikern häufig als die ‚eigentlich richtige’ Strategie angesehen wird - geht es darum, die Zugänge für die Neueinwanderer offen zu halten und gleichzeitig die Übergänge in die Gesellschaft der Einheimischen so leicht wie möglich zu machen.
Das bedeutet, freiwillige Segregation zuzulassen, die durch Diskriminierung und Mechanismen des Wohnungsmarkts erzwungene dagegen zu verhindern. Vorrangig geht es also darum, die Optionen der Migranten auf dem Wohnungsmarkt zu erweitern. Dazu kann die Bereitstellung von Belegrechtswohnungen in allen Quartieren einer Stadt dienen – was aber in der Regel dort auf scharfen Widerstand stößt, wo die am stärksten segregierten einheimischen Gruppen in der Stadt wohnen, und das sind die Wohlhabendsten.
Ein weiteres Beispiel für die unvermeidliche Ambivalenz einer integrationsfördernden Politik ist der Umgang mit der informellen Ökonomie. In größeren Einwanderungskolonien können sich ethnische Ökonomien entwickeln, d.h. ökonomische Aktivitäten, deren Unternehmer, Arbeitskräfte und Kunden überwiegend derselben Zuwanderergruppe angehören. Diese sind nicht nur wichtig für die Versorgung der Zuwanderer, sie bieten auch den Neuankömmlingen, die zunächst keinen Zugang zum normalen Arbeitsmarkt gefunden haben, Existenzmöglichkeiten jenseits der Abhängigkeit von der Sozialhilfe. Ethnische Ökonomien aber sind häufig nur aufgrund informeller Organisation lebensfähig. Eine allzu scharfe Durchsetzung der Bestimmungen des Arbeits- und Gewerberechts könnte ihre Existenz gefährden und damit viele Neuankömmlinge in die Abhängigkeit vom Sozialstaat treiben. Notwendig wäre eine pragmatische Handhabung der Bestimmungen, bei der nicht immer so ganz genau hingesehen wird, wer nun in einer Restaurantküche gerade arbeitet oder wer sich in einer Wohnung aufhält. Die Zweischneidigkeit einer solchen Lockerung der Kontrolldichte liegt auf der Hand: die in langen Kämpfen von der Arbeiterbewegung durchgesetzten Standards des Arbeitsrechts, der Tarifbindung, der Wohnungsversorgung etc. würden ausgehöhlt, womöglich würde der Bildung korrupter Klientelbeziehungen Vorschub geleistet.
Jenseits aller Ambivalenzen und Aushandlungsprozesse geht es darum, bestimmte Mindeststandards für alle Stadtbewohner zu sichern. Eine der wichtigsten Orte dafür ist die Schule. Das Bildungssystem ist heute der entscheidende Filter für den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt. In der Schule und nicht erst auf dem Arbeitsmarkt entscheidet sich, ob jemand ökonomisch an den Rand gerät oder auf eigenen Beinen stehen kann. Zum anderen sind die Schulen Orte, an denen eine Begegnung zwischen Einheimischen und Zugewanderten politisch beeinflußbar ist. Die ganz normale Grundschule in einer deutschen Innenstadt ist heutzutage eine internationale Schule - nur ist sie in den seltensten Fällen auf diese Aufgabe vorbereitet.
Zusammenfassung
- Integration darf nicht als der Weg einer Minderheit von draußen nach drinnen gedacht werden. Die Gesellschaft insgesamt hat ein Integrationsproblem, wenn Fremdheit zum Normalfall wird.
- Das Integrationsproblem verteilt sich in modernen Gesellschaften auf verschiedene Subsysteme. Dadurch verliert es seine Komplexität, die ansonsten nicht bewältigbar wäre.
- Politik und Gesellschaft haben dafür zu sorgen, dass die Integrationswege in die institutionalisierten Subsysteme für alle offen stehen. ‚Integration’ nur als ein Problem der Zuwanderer zu definieren, wäre ein verhängnisvoller Fehler.
- Integration ist niemals ‚fertig’ oder endgültig gelungen. Es handelt sich dabei um einen immer offenen Prozeß, der ungleich und ungleichzeitig verläuft.
- Für die Politik bleibt dabei viel zu tun, aber sie hat auch ihre Grenzen: die soziale Anerkennung von Fremden kann nicht bürokratisch organisiert oder verordnet werden. Sie bleibt eine Leistung, die wir alle in alltäglichen Interaktionen so zu erbringen haben, wie wir sie für uns selbst erwarten.
- Die Differenz zwischen institutioneller und sozialer Integration führt zu einem Dilemma der städtischen Integrationspolitik: wird sie klientelspezifisch und allzu fürsorgerisch, wirkt sie stigmatisierend und ungewollt ausgrenzend. Dennoch darf sie nicht verkennen oder ignorieren, dass es spezifische Nöte bzw. Bedürfnisse auf Seiten von Minderheiten gibt. Daraus ergibt sich eine grundsätzliche Ambivalenz kommunaler Integrationspolitik, für die nur in langwierigen und konfliktreichen Prozessen des Aushandelns eine Balance gefunden werden kann.
Integrationspolitik verlangt eine außerordentlich schwierige Gratwanderung. Wie Sigmund Freud formuliert hat: es gibt für jedes komplexe Problem auch eine einfache Lösung – nur ist die für gewöhnlich falsch.