Demokratische Identität. Die Konstitution demokratischer politischer Identität in nachdiktatorischen Gesellschaften
Artikel vom 04.05.2006
Die Chance der kulturellen Demokratisierung, die von der Gegenüberstellung unterschiedlicher und gegensätzlicher Erinnerungen lebt, braucht Zeit, um sich zu verwirklichen. Und sie braucht Bürger, die über den Tag hinaus denken und sich für die Achtung derjenigen Erinnerungen engagieren, die verloren zu gehen drohen, weil sie nicht über machtvolle Repräsentanten verfügen. Denn sie sind das Unterpfand für eine lebendige, widerstandsfähige Demokratie. Von Gesine Schwan
Einleitung
Vortrag anlässlich der Verleihung des Schader-Preises 2006
Eine persönliche Bemerkung vorab: 1943 wurde ich in Berlin in einer ziemlich politischen Familie geboren, die dem Widerstand angehörte. Seit meiner frühesten Kindheit spielte die Politik in unseren zahlreichen, lebhaften Familiengesprächen eine hervorragende Rolle. Es ging um die NS-Zeit und ihre schlimme Erbschaft und um die Rolle, die ehemalige Nazis ungeachtet ihrer diskreditierten Vergangenheit in der Bundesrepublik der 1950er Jahre wieder spielten. Der Auftrag unserer Eltern an meinen älteren Bruder und mich war klar: Wir sollten uns in der neuen Demokratie und für sie engagieren und für die Wiedergutmachung des Unheils, das Nazi-Deutschland insbesondere bei seinen Nachbarn in Europa angerichtet hatte. Darüber, dass wir ohne sinnstiftende Aufgabe in die Welt geschickt worden wären, konnten mein Bruder und ich uns also nicht beklagen.
Ein polnischer Spielfilm über Auschwitz – „Die letzte Etappe“ –, dessen Regisseurin Wanda Jakubowska dort Häftling gewesen war, gab dem 1956 noch einmal einen starken emotionalen Schub. Er führte die systematische Entwürdigung der Häftlinge vor. Die ganze Nacht danach war mir schlecht.
So wurde die Demokratie zu meinem Lebensthema. Zunächst als politisches System, dessen Funktionsweise: Legislative, Exekutive, Jurisdiktion es zu verstehen galt. „Demokratie als Lebensform“ war mir als Begriff lange fremd. Erst in der Auseinandersetzung mit und später um 1968 kam die politische Kultur – neben den traditionellen Institutionen – in meinen Blick. Die studentische Opposition gegen das politische System der Bundesrepublik prangerte den Verbleib der alten Eliten an den gesellschaftlichen Schaltstellen an. Das war richtig. Aber viele verhielten sich aggressiv, unfair, ohne Rücksicht auf menschliche Verluste. Das fand ich nicht richtig. Aber die NS-Eliten wirkten sich in der Tat, z.B. in der Rechtsprechung, sehr unerfreulich aus. So weckte die „subjektive“ Seite der Demokratie immer mehr mein Interesse. Aber nicht so sehr die quantitativen Umfragen darüber. Ich wollte die tieferen Schichten der Einstellungen zur Demokratie erkunden. Das war methodisch sehr schwer, wurde aber als Problem in der deutschen Politikwissenschaft in den achtziger Jahren immer offenkundiger. Schließlich zeigten mir lange Gespräche mit ehemaligen Gegnern aus der Zeit von 1968 wie viele von ihnen aus Familien der nationalsozialistisch diskreditierten deutschen Eliten stammten, wie viel sie abarbeiteten am Versagen, ja an der Schuld ihrer Eltern, vornehmlich ihrer Väter. Wie sie sich selbst oft unbewusst schuldig und als Opfer ihrer Eltern fühlten. Damit und aus Gründen meiner privaten Biographie, im Zusammenhang mit der langen Krebskrankheit meines verstorbenen Mannes Alexander Schwan, wurde „Schuld“ zu meinem Thema. Kein typisch politikwissenschaftliches, eher gehört es in die Philosophie, die Psychologie oder die Theologie. Ich meine aber, es gehört ganz zentral auch in die Politikwissenschaft, in die Forschung zur politischen Kultur, weil Schuldgefühle das Zentrum der mentalen Voraussetzung von Demokratie, nämlich ein solides Selbstvertrauen und Kompetenzgefühl der Bürger, schädigen.
Damit bin ich bei meinem heutigen Thema, der demokratischen politischen Identität in nachdiktatorischen Gesellschaften. Ich möchte Ihnen über die Ergebnisse eines langjährigen Forschungsprojektes berichten, die gerade veröffentlicht worden sind. Vor fast 10 Jahren habe ich deutsche, französische und polnische Wissenschaftler zum ersten Mal eingeladen, um über meine Idee zu sprechen. Daraus ist eine vergleichende Forschung darüber entstanden, ob und wie sich in den drei Ländern in den nachdiktatorischen Gesellschaften nach 1945 eine demokratische politische Identität konstituiert hat. Zur näheren Bestimmung und zu den Unterschieden dieser drei Gesellschaften nach 1945 später. Das Ergebnis unserer Untersuchungen ist, wie nicht anders zu erwarten, äußerst komplex, und ich will versuchen, es in wenigen Grundzügen darzustellen.
Grundlegende Begriffe und methodisches Vorgehen des Projekts
Allein mit der Darstellung der grundlegenden Begriffe und des methodischen Vorgehens könnte man Tage verbringen. Mir bleibt also nur die radikale Vereinfachung. Die Geschichte der politischen Systeme, eben auch der Demokratie, verweist seit der Antike darauf, dass das Institutionengefüge politischer Systeme auf eine entsprechende subjektive, mentale Einstellung und Handlungsmotivation der Menschen angewiesen ist, um seiner Grundabsicht nach zu funktionieren. Montesquieu etwa unterscheidet bekanntlich zwischen der „Natur“ und dem „Prinzip“ der Regierunen. Die Despotie braucht die Furcht der Menschen, die Monarchie ein besonderes Ehrgefühl, sich vor dem Monarchen und den Gleichgestellten hervorzutun, die Republik die Liebe zur Gleichheit. Dieses Grundschema ist von den Heroen der Politischen Kulturforschung Gabriel Almond und Sidney Verba ideengeschichtlich hergeleitet und ungemein differenziert worden und viele andere, vorwiegend amerikanische, aus Europa in der Nazizeit geflohene Wissenschaftler haben das weiter ausdifferenziert. Daraus ist eine umfangreiche quantitative Forschung entstanden, die aber die tiefer liegenden Schichten der Einstellungen und Motive eingestandenermaßen nicht erreichte. Einig war man sich aber in dieser Tradition zum einen darüber, dass Systemwechsel in der Geschichte der politischen Ideen nicht von den Institutionen, sondern von den mentalen Einstellungen der Menschen herrührten. Dabei dachte man immer an den Niedergang von Systemen, die von moralischer Verderbtheit ausgelöst wurden. Umgekehrt thematisierte die umfangreiche Transformationsforschung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorrangig die institutionellen Erfordernisse der Transformation, nicht zuletzt deswegen, weil die mentalen Veränderungen schwer zu erfassen sind und sehr lange dauern. Unser Forschungsteam hat dennoch gerade diese Frage interessiert:
Wie konstituiert sich nach dem Ende einer Diktatur eine demokratische politische Identität? Wie und aufgrund welcher Einflussfaktoren entsteht sie empirisch nach dem Ende diktatorischer Regime? Zu welchen Alternativen Konsequenzen führt es, wenn Diktaturen institutionell Demokratien oder erneut Diktaturen folgen? Wie unterscheiden sich also nachdiktatorische Gesellschaften je nachdem, ob sie institutionell pluralistisch-demokratisch oder erneut hierarchisch-diktatorisch organisiert sind? Welche Rolle spielt dabei die Abfolge der Generationen?
Diese Fragen und die in ihnen enthaltenen Begriffe haben es in sich. Deshalb zunächst einige Erläuterungen zum Begriff „demokratische politische Identität“. Die vielfältigen Definitionen von demokratischer politischer Kultur fasse ich in diesem Begriff zusammen, weil ich sie nicht nur normativ gleichsam abstrakt von den funktionalen Erfordernisse des politischen Systems der Demokratie ableiten, sondern zugleich die langfristigen historisch-kulturellen Komponenten und mentalen Bestände menschlicher Eintellungen einfangen will. „Identität“ verstehe ich dabei als individuelle und als kollektive. Beide sind miteinander verschränkt.
Individuelle und kollektive Identität
Individuelle wie kollektive Identität sind nicht einfach gegeben, sondern das Ergebnis von Leistungen, die geschaffen werden. Sie entstehen aus der individuellen wie der kollektiven Erinnerung, und zwar in dem Maße, wie der individuelle bzw. der soziale biographische Zeitablauf als „diachronische Kontinuität“ und als „synchrone Konsistenz“ (vgl. Nunner-Winkler 1987) gestaltet wird. Das heißt: Ich gelange zu meiner persönlichen Identität in dem Maße, wie es mir gelingt, meine unterschiedlichen Erfahrungen, Erlebnisse, Tätigkeiten, Rollen in immer erneutem Bemühen zu einem kohärenten Ganzen zu machen, das Konflikte und Widersprüche nicht ausblendet, sondern, soweit sie bewusst werden, integriert, und sei es als ungelöste Widersprüche. Dies ist das Werk meiner Erinnerung. Sie ist der „Stoff“, aus dem Identität entsteht. Sie ist immer schon sozial geprägt und hat zugleich Teil an der Gestaltung der kollektiven Identität einer Gruppe bzw. einer Nation. In den Worten Jan Assmanns: „Was einzelne Individuen zu einem (...) Wir zusammenbindet, ist die konnektive Struktur eines gemeinsamen Wissens und Selbstbildes, das sich zum einen auf die Bindung an gemeinsame Regeln und Werte, zum anderen auf die Erinnerung an eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit stützt.“ (Assman 1997:16f.)
Ebenso wie die individuelle Identität eingebettet ist in die kollektive, entsteht diese nur aus der Identifikation der Individuen mit einer gemeinsamen Interpretation der Vergangenheit. Kollektive Identität existiert nicht „an sich“, sondern „immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Bewusstsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag.“ (ebd. 312) Die Gemeinsamkeit oder der Grundkonsens der Deutschen – um hier einen weiteren Begriff einzuführen - zeigt sich nicht in einem verbalen Bekenntnis zu den Grundwerten des Grundgesetzes, sondern darin, wie sie sich gemeinsam in entscheidenden Punkten ihrer Vergangenheit erinnern. Deshalb ist diese Erinnerung aussagekräftig für die Tiefenschichten der politischen Kultur einer Gesellschaft.
Dabei ist für Individuen wie für die Gruppe zu beachten, dass Erinnerung nicht einfach als neutrale Registratur von Vergangenem funktioniert, sondern immer zusammengeht mit einer oft unbewussten Abgleichung in Bezug auf das eigene Selbstbild. Man möchte in seiner Erinnerung nicht schlecht dastehen, jedenfalls möglichst besser als die anderen. Instinktiv zielt Erinnerung deshalb auf die Bekräftigung des Selbstwertgefühls von Individuum oder Gruppe und ist zu diesem Zweck in Versuchung, Abträgliches auszublenden. Dazu gehören „sperrige“ Erfahrungen wie Demütigung, Unterdrückung oder Schuld. Gerade sie aber sind für die Konstitution demokratischer politischer Identität von herausragender Bedeutung, weil sie die Verletzung moralischer und /oder demokratischer Normen enthalten können.
Demokratische politische Identität
Im Kontext unserer Fragestellung definiere ich Demokratie als ein gewaltenteiliges, auf der Volkssouveränität beruhendes Institutionengefüge der politischen Willensbildung und Entscheidung, das seine Legitimation aus der formal-rechtlichen und der auch faktisch möglichst gleichen Selbstbestimmung aller Bürger bezieht. Dem liegt ein skeptisches Menschenbild zugrunde, das ihnen zutraut, ihre gemeinsamen Angelegenheiten freiheitlich und kooperativ zu regeln, das aber auch ihre Korrumpierbarkeit durch Macht und insgesamt ihre antisozialen Potenziale im Blick behält. Generell gilt die Annahme, dass die repräsentativ-demokratischen Institutionen, die auf dem System der checks and balances beruhen, dann gedeihliche politische Entscheidungen begünstigen, wenn die Bürger sie im Sinne der freiheitlichen, verantwortlichen und kontrollierten Kooperation handhaben. Die unterschiedlichen (partei-)politischen Optionen müssen dabei von einem demokratisch-normativen Grundkonsens und einem gemeinsamen Bürgerethos getragen sein.
Zum Bürgerethos gehören insbesondere die der Freiheit entsprechende Bereitschaft und Fähigkeit zur Verantwortung, zur toleranten Anerkennung der aus der Freiheit der Mitbürger resultierenden Pluralität, das positive Einstehen für die Würde der Mitbürger, Gerechtigkeitssinn, Mäßigung, Offenheit, Vertrauens- und Kooperationsfähigkeit sowie Empathie, aber auch Skepsis und Kontrollbereitschaft im Unterschied zu blinder Treue bzw. Loyalität (vgl. Berg-Schlosser 1990; Schwan, A. 1992; Schwan, G. 1993, 1995; Dahl 1971, 1992; Fraenkel 1964; Münkler 1992; Lasswell 1951; Inkeles 1972; Maslow 1957; Allport 1958, 1970; Lane 1962). Sie gründen in psychischen Dispositionen, deren Kern die Politische Psychologie in einem gesicherten Selbstwertgefühl (self-esteem, vgl. Sniderman 1975) ausmacht.
Das Gegenstück dazu, eine diktatorische politische Identität, lässt sich komplementär zu den zentralen institutionellen Merkmalen von Diktaturen formulieren: der Konzentration staatlicher Macht ohne rechtlich gesicherte Kontrolle der Politik und ohne pluralistisch organisierte und in der Volkssouveränität begründete politische Willensbildung. Subjektiv, also politisch-kulturell, entspricht dem politischen System der Diktatur die Bereitschaft der Menschen, sich den Forderungen der staatlichen, nicht kontrollierten Macht zu unterwerfen und sich an sie anzupassen, d.h. auf die Wahrnehmung persönlicher und politischer Verantwortung, der persönlichen Autonomie und Freiheit auch dort zu verzichten, wo staatliche Macht die Würde und Integrität der Person missachtet, unterdrückt oder auslöscht. Das Selbstbild, das Menschen in solchen Verhaltensweisen von sich haben bzw. sich vorhalten, ist das der Nicht-Zuständigkeit, der Nicht-Verantwortlichkeit, der Schwäche, des Mangels an Selbst- und Fremdvertrauen, der Inkompetenz. Einher gehen damit in der Regel die Selbstdefinition als Opfer (der Umstände oder von Feinden) sowie Kompromittierungen und Schulderfahrungen, Gefühllosigkeiten, die Zerstörung der Fähigkeit zur Empathie und der Rückzug in die Privatsphäre (vgl. Schwan, G. 1990, 1995). Das diesem Selbstbild komplementäre Bild des Anderen bringt in der Regel die Nichtanerkennung oder Nicht-Beachtung der gleichen Freiheit und Würde aller Menschen zum Ausdruck.
Demokratische politische Identität, d.h. das Ineinander von Bürgerethos und dazu erforderlichen psychischen Dispositionen als Merkmal der individuellen Identität einerseits und der lebendigen Identifikation der Bürger mit ihrem normativen Grundkonsens andererseits (vgl. Schwan, G. 1997) findet sich allerdings weder in den Individuen noch in der Gesellschaft als ganzer in der beschrieben kristallinen Abstraktion. Vielmehr ist sie eingebettet in biographische und historisch gewachsene gesamtgesellschaftliche Erfahrungen und Sedimente, die sich als Mentalitätsbestände und Erinnerungen bekunden und deren einzelne Elemente durchaus in einem Spannungs- und Gegensatzverhältnis zu diesem Kernbestand stehen können.
3. Verläufe und Faktoren der Konstitution demokratischer politischer Identität: Pluralistische Institutionen und Generationenabfolge
Was uns nun in dem Forschungsprojekt interessiert hat, war, Verläufe und Faktoren der Konstitution demokratischer politischer Identität zu ermitteln.
Während Hermann Lübbe in seiner berühmten Rede im Reichstag 1983 behauptet hatte, dass das „kommunikative Beschweigen der braunen Biographieanteile“ die Bedingung dafür war, dass aus den Anhängern und Mitläufern des Nationalsozialismus in Westdeutschland Bürger der Demokratie wurden, und dass die „Binnenbefindlichkeiten“ der Menschen für die Demokratie irrelevant seien, haben uns gerade diese „Binnenbefindlichkeiten“ interessiert. Denn der Lübbe’sche Weg mag de facto verfolgt werden, aber er hat erhebliche Kosten. Er propagiert im Grunde ein erneutes Mitläufertum, das zur Demokratie nicht passt und sie nicht solide begründen kann.
Wie und wodurch wandeln sich aber Untertanen in ihren „Binnenbefindlichkeiten“ zu Demokraten im Medium der individuellen und kollektiven Erinnerung? Wie sähe eine „demokratische Erinnerung“ aus? Offenbar kann sie nicht als von Unannehmlichkeiten „gereinigte“ gedacht werden. Vielmehr müsste - ausgehend von der gleichen Würde aller Menschen - zum einen Raum sein für unterschiedliche Erinnerungen, namentlich derjenigen von Tätern und Opfern. Zudem müsste die spontane individuelle (wenn auch immer sozial beeinflusste!) Erinnerung z. B. an die Verfolgung von Juden begleitet sein von der demokratischen Verurteilung dieses Geschehens. Wer sich an die Verfolgung von Minderheiten erinnert und dies de facto rechtfertigt oder auch nur bagatellisiert, hat eine demokratische politische Kultur nicht wirklich verinnerlicht, wie immer sein rhetorisches Bekenntnis zu den Grundwerten ausfallen mag. Die demokratische Einschätzung, nicht die Fälschung der Erinnerung bildet also den Lackmustest. Dasselbe gilt für die kollektive Erinnerung. Wenn wir Assmanns Unterscheidung zwischen dem kommunikativen, gleichsam im alltäglichen Umgang praktizierten und dem kulturellen Gedächtnis folgen, das die repräsentativ-ritualisierte Form des Gedächtnisses darstellt, dann kann man an letzterem die Qualität der politischen Kultur ablesen, weil es die Quintessenz der angenommenen Werte erkennen lässt.
Um Verläufe und Faktoren des Wandels von einer diktatorischen in eine demokratische politische Identität nach 1945 empirisch herauszufinden, gingen wir im Forschungsprojekt von zwei Annahmen aus: Wir vermuteten, dass pluralistische Institutionen und die Generationenabfolge eine wichtige Rolle spielen würden. Die Pluralität von Institutionen erlaubt und fördert eine Vielheit unterschiedlicher Interpretationen, weil die unterschiedlichen nachdiktatorischen politischen und gesellschaftlichen Rollen unterschiedliche Perspektiven, mit Vergangenheit umzugehen, nahe legen. Infolge dieser Rollendivergenz wird auch die Konfrontation der Vergangenheitsinterpretation befördert, wodurch die Möglichkeit unterschiedlicher Handlungsoptionen in der Vergangenheit, also ihre Nicht-Determiniertheit zutage tritt. Die Unterschiedlichkeit von Handlungsoptionen eröffnet die Chance der Selbstkritik und legt die Einsicht nahe, dass Verantwortlichkeit auch in der Vergangenheit bestand, weil eine Wahl zwischen verschiedenen Optionen de facto stattgefunden hat, also möglich war. Die Einsicht in die eigene Verantwortlichkeit aber gehört zum Kern der zuvor beschriebenen demokratischen politischen Kultur. Sie setzt auch den Prozess der Veränderung von kollektiver Erinnerung in Gang, der diese von möglichen homogenen Ausgangspunkten fortführt.
Wenn politische Identität in unserem Verständnis in der Interaktion von individueller und kollektiver Identität entsteht, so erscheint die Generationenabfolge als ein aufschlussreicher „Schauplatz“, an dem Veränderungen und Wandel beobachtet werden können. Denn in ihr und insbesondere in potentiellen familiären Generationenkonflikten treffen sich Einflussfaktoren, die sich sowohl auf die Ausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen auswirken als auch auf die Veränderung von Vergangenheitsinterpretationen und von individuellen wie kollektiven Selbstbildern. Sie ergeben sich aus unterschiedlichen Sozialisationen und Wirklichkeitswahrnehmungen und nicht zuletzt aus dem Wandel der Erinnerungskultur. In diesem Sinne kommt der U.S.-amerikanische Demokratietheoretiker Harry Eckstein zu dem Schluss, dass der Demokratisierungsschritt, der über rituelle, äußerliche Anpassung an neue Institutionen hinausgeht, wohl am ehesten durch neue Generationen und Dissidentengruppen getan wird. Diese Gruppen, „that occupy the fluid interstices of established cultures“, bieten die beste Chance für einen politisch-kulturellen Wandel (Eckstein 1988: 798).
Ich habe Ihnen einige schwierige begriffliche Distinktionen zugemutet und bin noch nicht ganz am Ende. Denn wir haben unsere Untersuchung als Drei-Länder Vergleich angelegt. Zu diesem Vergleich zwischen Frankreich, Deutschland und Polen allerdings nur so viel, als angekündigte Differenzierung: Es war wichtig, den jeweils spezifischen historischen Kontext genau zu beachten, namentlich die unterschiedlichen Qualitäten der politischen Systeme, die wir dem Sammelbegriff „Diktaturen“ untergeordnet, aber doch auch ausdrücklich spezifiziert haben in autochthone und nicht autochthone, in totalitäre oder autoritäre, und dies zu unterschiedlichen Zeiten. Überdies haben Grundbegriffe unserer Untersuchungen in den drei Ländern nicht dieselben Assoziationshöfe, so etwa wenn das französische Wort für Täter bourreau, also Henker, heißt oder das französische Verständnis von Republik und Demokratie nicht dem deutschen oder polnischen gleicht.
Schließlich haben wir in unserem interdiziplinären Zugang, in dem historische, geistes- und sozialwissenschaftliche Zugänge miteinander verbunden wurden, die Identität auf drei Ebenen untersucht: der Makro-, der Meso- und der Mikro-Ebene. Die Makro-Ebene bezieht sich auf. repräsentative Institutionen und Akteure im öffentlichen Raum (Regierung, Parlament, Verwaltung), die Mikro-Ebene auf private, nicht von vornherein politische Institutionen bzw. Akteure (Familie, Individuen), und die Meso-Ebene umfasst freiwillige institutionelle Zusammenschlüsse in der Öffentlichkeit, die von der Mikro-Ebene her „alimentiert“ werden und auf die Beeinflussung der Makro-Ebene zielen. Wir folgen dabei zunächst der traditionellen, z. B. von Jürgen Habermas in seiner grundlegenden Studie zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ explizierten Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Die private umfasst die „informellen persönlichen, nicht-öffentlichen Meinungen“, die öffentliche die „formellen, institutionell autorisierten“ (Habermas 1968: 266). In der privaten – insbesondere der Familie – finden sich „die nicht diskutierten kulturellen Selbstverständlichkeiten“, „eine Art Bodensatz der Geschichte“ (ebd.). Sie entspricht unserer Mikro-Ebene. Die öffentliche haben wir in zwei Ebenen unterteilt, um zwischen den in freien Initiativen vorgebrachten Meinungen und den „institutionell autorisierten“ zu unterscheiden und die Dynamik einzufangen, die sich zwischen ihnen abspielt. Wieweit die öffentliche auf die private Sphäre einwirkt, war für uns eine besonders wichtige Frage, weil hierüber bisher kaum Forschungsergebnisse vorliegen.
Auf allen drei Ebenen geht es uns um die erinnernde Einschätzung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges, der Zäsur von 1945 sowie solcher Ereignisse und Zäsuren in den darauf folgenden Jahren, die in der jeweiligen Geschichte und in der Abfolge der politischen Systeme eine prägende Rolle gespielt haben. Jede der drei Ebenen ist mit jeweils einem auf Polen, Frankreich und Deutschland bezogenen Projekt vertreten, das um der Vergleichbarkeit willen einerseits schwerpunktmäßig die gemeinsamen Ereignisse und Zäsuren thematisiert, andererseits aber auch jeweils spezifische historische Erfahrungen einbezieht, ohne die das jeweilige nationale Profil unklar und unverständlich bliebe. Auf jeder einzelnen Ebene werden auch Einflüsse der jeweils anderen Ebenen und Nationen auf die Identitätsbildung wahrgenommen, aber eben aus den je eingenommenen spezifischen Blickwinkeln. Auf diese Weise geraten mögliche Koinzidenzen oder Parallelen von Konstitutionsverläufen oder –faktoren, die wir auf den unterschiedlichen Ebenen erkennen können, in den Blick.
Ergebnis: Was ist nun das Ergebnis unserer Untersuchung?
Konkret haben wir in den drei Ländern auf jeder Ebene je eine empirische Untersuchung durchgeführt, also insgesamt neun. Auf der Meso-Ebene wurde in Deutschland der sog. „Grünwalder Kreis“ analysiert, der es sich in den 1950er Jahren zur Aufgabe gemacht hat, in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen gegen eine Renaissance von nationalsozialistischem Gedankengut anzugehen. In Polen stand die katholische Laiengruppe „ZNAK“ für die Aktivität in einem autoritären Regime mit pluralistischen Öffnungen. Beide Gruppen haben sich insbesondere mit den jeweiligen „Gründungsmythen“ ihrer politischen Systeme und der perspektivischen Verengung ihres Blick auf die Vergangenheit auseinandergesetzt. Für Frankreich richtete sich die Analyse auf eine Initiative, die das Verdienst von jüdischen und nicht-jüdischen Franzosen bei der Rettung jüdischer Kinder vor den Nationalsozialisten in die französische Erinnerung integrieren wollen. Auf der Makro-Ebene ging es um den Vergleich der repräsentativen Erinnerung in den drei Ländern an den 8. Mai bzw. an das Ende des Zweiten Weltkrieges. Auf der Mikro-Ebene wurden schließlich jeweils zwei bzw. drei Familien in drei Generationen untersucht (für Deutschland gesondert nach Ost und West), um Zusammenhänge zwischen der innerfamiliären Kommunikation und der öffentlichen Thematisierung der Vergangenheit zu ermitteln.
Der Vergleich wurde unter fünf Gesichtspunkten vorgenommen:
1. Die unterschiedlichen historischen Situationen in den drei Ländern
2. Der institutionelle Rahmen und seine Auswirkungen auf die jeweils betrachtete Ebene
3. Die Generationenabfolge
4. Auseinandersetzungen mit Gründungsmythen
5. Anerkennung von Schuld.
Insgesamt hat sich die Meso-Ebene als der Ausgangspunkt der Veränderungsdynamik herausgestellt. Als Fazit für diese Ebene lässt sich Folgendes festhalten:
In allen drei Ländern haben Initiativen auf der Meso-Ebene vor allem dadurch zur Demokratisierung der politischen Identität in ihren Ländern beigetragen, dass sie in öffentlicher Auseinandersetzung über die Vergangenheitsdeutungen zur Delegitimierung vorangegangener undemokratischer Regime und Bewusstseinsanteile in der Gesellschaft beitrugen. Wie weit ihnen dies gelang, hing vom Grad des institutionellen Pluralismus und von der zeitlichen Distanz zum vorangegangenen Regime ab. Je mehr die Gesellschaft in das vorangegangene Regime involviert und je kürzer die Zeit seit dem Regimeende war, desto stärker regten sich die Widerstände gegen die Delegitimierung. Deshalb hatte es der Grünwalder Kreis im West-Deutschland der fünfziger Jahre schwerer als das „Comité Francais pour Yad Vashem“ in Frankreich in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Makro-Ebene wird von der Meso-Ebene aus erst und nur dann wirksam zu einer Modifikation der repräsentativen Erinnerung als Teil des kulturellen Gedächtnisses gebracht, wenn in einer freien öffentlichen Auseinandersetzung nicht mehr vornehmlich involvierte und /oder dominante, sondern (etwa durch den Generationenabstand) distanzfähige plurale Erinnerungen einander gegenübergestellt und Einseitigkeiten überwunden werden können, so dass es zu einer Integration unterschiedlicher Erinnerungen kommen kann. Insbesondere mit dem Einbezug von Minderheiten weitet sich die Legitimationsbasis von einer nationalen zu einer menschenrechtlichen.
Mindestens eine Generation ist offenbar erforderlich, um Distanz gegenüber der vorangegangenen Identifikation zu gewinnen. Umgekehrt kann der Einbezug der Opfererinnerung durch die Loyalität der nachfolgenden Generation einen erheblichen Schub bekommen. Der systematische Zusammenhang von Freiheit und Verantwortungsfähigkeit einerseits und der Bereitschaft, Schuld anzuerkennen andererseits und deren Stellenwert für eine demokratische politische Identität wurde implizit im deutschen Fall deutlich. Mit ihrer vehementen Schuldabwehr und ihrer Selbstdefinition als Opfer sowie mit Anwandlungen von Ressentiments gegen die Alliierten blieben die „Grünwalder“ hinter einer entfalteten demokratischen Identität zurück. In Frankreich demonstrierte die öffentlich anerkannte Figur des „Gerechten“, der unter Risiken Juden gerettet hat, den Freiheits- und Verantwortungsspielraum unter diktatorischen Bedingungen und bekräftigte damit diese zentrale kulturelle Komponente von Demokratie für die französische politische Identität. Die diesbezügliche empirische Diskussion steckt in Polen, in dem erst eine halbe Generationszeit seit dem Regimewechsel verstrichen ist, noch in den Anfängen. Dies verweist auf die Bedeutung des Zeitpunkts, zu dem eine Initiative tätig wird, für deren Wirkung in der Gesellschaft und damit für den Verlauf der Demokratisierung.
Was die repräsentative Deutung des 8. Mai auf der Makro-Ebene in den drei Ländern angeht, so kommt der Vergleich der drei empirischen Untersuchungen zu folgendem Schluss:
In keinem der drei Länder war der 8. Mai ein Anlass zu ungetrübter Freude oder Genugtuung. Überall zwang seine Deutung zur Einschätzung des vorangegangenen, durch das Kriegsende definitiv abgelösten und des neu eingeführten Regimes. Das Datum gab den unterschiedlichen innenpolitischen Positionen Anlass, dazu Stellung zu nehmen, über die Vergangenheitsinterpretation das aktuelle politische System einzuschätzen und seine politische Identität damit zu bestimmen. In dem Maße, wie eine pluralistische politische Struktur die Konfrontation unterschiedlicher Deutungen erlaubte, vollzog sich auf der Makro-Ebene in allen drei Ländern eine schrittweise Integration unterschiedlicher privater und kollektiver Erinnerungen. Sie wurde auch von der Abfolge der Generationen in der zeitlichen Distanz, von den konkreten historischen Aktivitäten auf der Meso-Ebene und von der individuellen Persönlichkeit der jeweiligen Repräsentanten beeinflusst. Mindestens eine Generation ist offenbar erforderlich, um Distanz gegenüber der vorangegangenen Identifikation zu gewinnen. Umgekehrt kann der Einbezug der Opfererinnerung durch die Loyalität der nachfolgenden Generation einen erheblichen Schub bekommen. Die Abfolge der Generationen wirkt zum einen über die Anerkennung der Täterschaft bei gleichzeitiger Deidentifizierung von den Tätern und ihren Taten und zum anderen über Loyalitätsbindungen der den Opfern nachfolgenden Generationen. Sie bieten die Chance dafür, dass das kommunikative Gedächtnis komplexer wird, sich verwandelt und mit einem demokratischen kulturellen Gedächtnis vermittelt
Diese Verwandlung des kulturellen Gedächtnisses versteht sich nicht von selbst und geschieht nicht automatisch, aber sie wird dort möglich, wo das kulturelle Gedächtnis, anders als in Diktaturen, in lebendigem Zusammenhang mit dem kommunikativen Gedächtnis bleibt. Prinzipiell stellt sich diese Frage auch für Demokratien, wenn ihre Gedenkkultur zu Riten erstarrt, die sich von der Meso- und der Mikro-Ebene ablösen. Dies wirft die Frage nach dem Wesen eines demokratischen öffentlichen Gedächtnisses auf: Einerseits darf es sich nicht vom kommunikativen Gedächtnis der Bürger lösen, weil es sonst – so beim offiziellen „antifaschistischen Gedächtnis“ der DDR geschehen – zu einer unlebendigen Hülle verkommt. Andererseits kann es nicht einfach die subjektiven Erinnerungen ohne Rücksicht auf ihr Verhältnis zur Demokratie addieren. De facto legt die Konfrontation gegensätzlicher Täter- und Opferrollen, die häufig mit ethnischen Gruppenidentitäten einhergeht, die Erweiterung von der rein nationalen zur menschenrechtlichen Norm nahe, was die neue politische Identität demokratisiert. Diese Entwicklung hat sich z.B. in Frankreich mit der seit den 1990er Jahren öffentlich geehrten Figur des „Gerechten“ abgespielt, die an die Rettung jüdischer Kinder unter dem Vichy-Regime erinnert und damit die menschenrechtliche Komponente als unverzichtbare in die nationale französische Identität integriert hat.
Für eine derartige Demokratisierung politischer Identität spielt neben der Voraussetzung eines institutionellen Pluralismus und dem Prozess der Generationenabfolge im inhaltlichen öffentlichen Diskurs die Anerkennung von Schuld eine entscheidende Rolle. Sie ist systematisch das Korrelat der Verantwortungsbereitschaft und begünstigt empirisch die Möglichkeit, dass sich im öffentlichen Raum unterschiedliche Erinnerungen, insbesondere die von Opfern und Tätern treffen, mit einander austauschen können und eine neue gemeinsame Basis menschenrechtlich orientierter Werte finden. Komplementär zur Schuld der Täter demonstriert in Frankreich die öffentlich anerkannte Figur des „Gerechten“, der als Retter von französischen Juden nun offiziell geehrt wird, den Freiheits- und Verantwortungsspielraum unter diktatorischen Bedingungen und bekräftigt damit diese zentrale kulturelle Komponente von Demokratie für die französische politische Identität.
Die Einwirkungen der Makro- und der Meso-Ebene auf die Mikro-Ebene werden durch die Eigendynamik der innerfamiliären Kommunikation nachhaltig gefiltert. Demgegenüber ist der institutionelle Rahmen von geringerer Bedeutung. Plurale Institutionen wirken allerdings indirekt und langfristig auf die Identität der Individuen ein. Vorrang in Bezug auf die Aufnahme von Informationen und Auseinandersetzungen hat für die Familienmitglieder der innerfamiliäre Zusammenhalt, der dort, wo eine tolerante und selbstkritische Kommunikation besteht, durch schwierige Erfahrungen und Erinnerungen nicht zerrissen wird. Die offene Kommunikation begünstigt den Einbezug auch belastender Vergangenheitsanteile und damit eine demokratisierende Verarbeitung der öffentlichen Auseinandersetzungen. Wo über belastende Erinnerungen geschwiegen wird, mag es viele Familiengespräche geben, aber eher als Wiederholungen von Familiengeschichten, die nicht in Frage gestellt werden. Wo die erste Generation weitgehend schweigt, ergeben sich häufig Brüche mit der nachfolgenden Generation.
Der Einfluss des öffentlichen Raumes ist auch abhängig von der demokratiepolitischen Ausgangsposition der ersten Generation. Die Auseinandersetzungen auf der Makro- und Meso-Ebene finden dann Widerhall, wenn bereits ein Interesse an Politik und Demokratie in den Familien besteht. Das ist in Frankreich eher in den Familien mit linker Ausgangstradition der Fall, in Polen dagegen interessiert sich die moderate katholische Rechte, auch aus Opposition gegen das kommunistische Regime, durchaus für Politik und Geschichte und birgt daher ein erhebliches Potential an politischer Entwicklung. Dies ist die Basis für eine weitere Demokratisierung der politischen Identität. In Deutschland gibt es für eine solche Zuordnung kein Indiz.
Einerseits kann man in allen drei Ländern eine Liberalisierung des Kommunikationsstils in der Abfolge der drei Generationen beobachten. Andererseits hat dies nicht einen einlinigen Demokratisierungsfortschritt zur Folge. Es gibt auch Depolitisierungen nach intensivem politischem Engagement der ersten Generation. Die dritte Generation in Polen entfernt sich von der existenziellen Bedeutung, die die Demokratie für die zweite hatte und legt vor allem Wert auf die privaten Vorzüge der Freiheit. Sie identifiziert sich nicht mehr mit dem Verhalten der ersten Generation, was einerseits eine Distanzierung von möglichem Täterverhalten begünstigt, andererseits aber auch eine zunehmende Indifferenz gegenüber den großen politischen „Schlachten“ des 20. Jahrhunderts mit sich bringen kann. Die Auseinandersetzungen um die „Gründungsmythen“ auf der Meso-Ebene finden auf der Mikro-Ebene nur indirekten Widerhall.
Persönliche Schuld wird selten und nur dann angesprochen, wenn in der Familie ein Diskussionsklima herrscht, das dies begünstigt. Andererseits zeigt sich der systematische Zusammenhang von Schuldprüfung, Verantwortungsbereitschaft und Demokratisierung der politischen Identität auch dort, wo Schuld beschwiegen oder wegen eines ungetrübten Unschuldsgefühls nicht mehr geprüft wird.
Diese Ergebnisse führen mich zu unseren Grundfragen zurück:
Wie konstituiert sich demokratische politische Identität? Wie und aufgrund welcher Einflussfaktoren entsteht sie empirisch nach dem Ende diktatorischer Regime? Zu welchen alternativen Konsequenzen führt es, wenn solchem Ende institutionell Demokratien oder Diktaturen folgen? Wie wirken sich der Pluralismus demokratischer politischer Institutionen und der Generationenwechsel auf den Wandel von Vergangenheitsinterpretationen als Faktor und Indikator für den Wandel von Erinnerung aus, die wir als Medium individueller und kollektiver Identität begreifen? Auf welche Weise und aus welchen Gründen kommt eine Dynamik des Wandels zustande?
Die komplizierte Interaktion von Faktoren, die in Frankreich, Polen und Deutschland zum Wandel von individueller und kollektiver Erinnerung und damit von politischer Identität geführt haben, konnten wir auf drei Ebenen verfolgen: den beiden öffentlichen der repräsentativen Interpretationen auf der Makro-Ebene und der gesellschaftlichen Initiativen auf der Meso-Ebene sowie der nichtöffentlichen der intergenerativen Weitergabe auf der Mikro-Ebene der Familien. Als zentrale Faktoren haben sich in Wechselwirkung einerseits die Voraussetzung des institutionellen Pluralismus und die Abfolge der Generationen und andererseits die aus freier Entscheidung geborenen Initiativen von Individuen und Gruppen vor allem auf der Meso-Ebene herausgestellt. Der Unterschied zwischen der Entwicklung unter demokratisch-pluralistischen einerseits und unter diktatorischen Bedingungen andererseits ist vor allem auf der Makro- und der Meso-Ebene erkennbar. Die individuelle Erinnerung wird vom institutionellen Rahmen nur indirekt beeinflusst, sie hängt vorrangig vom Kommunikationsstil in der Familie ab, der die Individuen für die Demokratisierung der öffentlichen Erinnerung öffnet oder diese gar nicht in die persönliche Sphäre eindringen lässt.
Im öffentlichen Raum dagegen ist es die durch plurale Institutionen ermöglichte Gegenüberstellung unterschiedlicher Erinnerungen, die als wesentlicher Motor einer Demokratisierung der politischen Identität wirkt. Sie löst eine Dynamik aus, die – in der Abfolge der Generationen – die Distanzierung von undemokratischen Verhaltensweisen der Täter und die Vergegenwärtigung der Opfererfahrungen begünstigt und die offiziellen Repräsentanten der Gesellschaft dazu herausfordert, angesichts ihrer Repräsentations-Aufgabe und um einer möglichst breiten demokratischen Legitimation willen einen gemeinsamen Maßstab für die Würdigung der unterschiedlichen Erinnerungen zu formulieren. Dies bringt die Gedanken von Gleichheit, Gegenseitigkeit und Gerechtigkeit zum Tragen. Allerdings vollzieht sich diese Dynamik nicht „automatisch“ oder von allein, sondern in Abhängigkeit von individuellen Initiativen auf allen Ebenen, insbesondere auf den beiden öffentlichen, und von der Einstellung der Repräsentanten. Die Konstitution demokratischer politischer Identität folgt also nicht einfach aus einer guten demokratischen Verfassung. Bürger müssen die Initiative ergreifen und sie voranbringen. Deshalb verläuft sie auch nicht geradlinig oder notwendig in einer Richtung, sondern mit Rückschritten und Umwegen, und sie ist durchaus umkehrbar, zumal die öffentliche Demokratisierung die Individuen nur in sehr unterschiedlichem Grade erreicht. Wenn dennoch von einer Demokratisierung politischer Identität die Rede sein kann – dies suggeriert ja doch eine insgesamt fortschreitende Entwicklung in Richtung „mehr Demokratie“ -, dann in dem Sinne, dass sich in der Öffentlichkeit die Gewichte der demokratischen Positionen und Interpretationen verstärken.
Den Prozess der Vermittlung zwischen öffentlicher - repräsentativer wie nicht-repräsentativer - und privater Erinnerung kann man als „Homogenisierung“ begreifen. Beispiele in Frankreich zeigen sich bei Vertretern der Großelterngeneration auf der Rechten wie auf der Linken. Beiden kommt die komplexe Persönlichkeit de Gaulles zustatten. Auf der Rechten ersetzt de Gaulle als militärische Autorität Pétain, der als Repräsentant von Vichy diskreditiert ist, auf der Linken durch seine résistance Stalin, auf den sich auch die Kommunisten nicht mehr berufen wollen. Die Individuen distanzieren sich, nicht immer bewusst, von eigenen Erinnerungen, wenn diese im öffentlichen Raum weitgehend diskreditiert sind, und nähern sich den offiziellen an. Der Unterschied zu einer opportunistischen Anpassung bzw. zu einer „politisch korrekten“ Rede ist nicht immer präzise zu bestimmen. Die Distanzierung ist in dem Maße nicht nur als Anpassung, sondern als Demokratisierung der Erinnerung und damit der politischen Identität zu bezeichnen, wie die öffentliche Auseinandersetzung das Beschweigen abgelöst hat und die Deutung der Vergangenheit im gesellschaftlichen Maßstab argumentativ und bewusst geschieht. Die Erinnerungen werden dann nicht unbewusst verändert, sondern als authentische im Nachhinein demokratisch bewertet. Dadurch transportieren die nachfolgenden Generationen nicht einfach die Familienclichés weiter, sondern haben Anlass oder zumindest die Chance, sich ihre eigenen, aus der Öffentlichkeit gespeisten Vorstellungen über die Vergangenheit zu bilden.
Der Übergang zu einer substanziellen Demokratisierung der politischen Identität, der eben empirisch bisher wenig, und schon gar nicht Länder vergleichend untersucht worden ist, vollzieht sich nicht einfach als Gewöhnung an neue Regeln, Institutionen oder Gesetze, sondern über intensive, auch schmerzliche Auseinandersetzungen, in denen sich langsam gemeinsame Beurteilungsmaßstäbe für die Vergangenheit und damit zugleich für das demokratische Zusammenleben in der Gegenwart herausbilden. Deshalb sind diese immer erneuten Auseinandersetzungen, an der nicht jeder Bürger der neuen Demokratie beteiligt sein muss, keineswegs überflüssig, sondern funktional überaus wichtig. Als ihr Ergebnis geht im „besten“ demokratischen Fall die Inklusion unterschiedlicher Erinnerungen an die Vergangenheit mit der Inklusion unterschiedlicher sozialer Gruppen und Subkulturen und der Herausbildung eines universalistischen Maßstabes in der Gegenwart einher.
Soziologisch betrachtet geschieht diese Demokratisierung, von Ausnahmen abgesehen (die dann allerdings oft die notwendigen Initiativen auf der Meso- oder Makro-Ebene in Gang setzen), nicht als ein solcher idealtypischer Rekonstruktionsprozess, sondern als äußere Abstandnahme der Täter- (oder Mitläufer-)Generation und als graduelle Deidentifikation der nachfolgenden Generationen von der möglichen Täterschaft der ersten unter dem Einfluss der öffentlichen Diskussionen (weshalb diese eben sehr wichtig sind). Dann kann es dazu kommen, dass sich in der Meinung der Individuen unmerklich auch ihre Erinnerung als eigene Erfahrung ändert, obwohl normativ der eigentliche Demokratisierungsvorgang in der nachträglichen demokratischen Bewertung der erinnerten Erfahrung liegen würde.
Erinnerung als Medium demokratischer politischer Identität entsteht zwar aus der Konfrontation unterschiedlicher Erinnerungen und hat sie also zur Voraussetzung, sie ist aber nicht schon mit dem empirischen Vorgang der Auseinandersetzung zwischen ihnen identisch. Wesentlicher Bestandteil sind vielmehr die in der Auseinandersetzung erwachsenden demokratischen Werte, anhand derer die persönlichen wie die öffentlichen Erinnerungen beurteilt werden. Die Versuchung besteht, sie in einer kanonisierten Vergangenheitsdeutung als kulturelles Gedächtnis in Zeremonien zu sichern, aber dadurch verlieren sie ihren Bezug zum Alltagsgedächtnis damit ihre Lebendigkeit und letztlich ihre Prägekraft. Die Alternative dazu liegt in der immer erneuten Vergegenwärtigung der Vergangenheit unter dem Aspekt, die prinzipielle Legitimität, ja Notwendigkeit unterschiedlicher Erinnerungen, damit auch unterschiedlicher aktueller Identitäten anzuerkennen und insbesondere die der Opfer oder von benachteiligten Minderheiten einzubeziehen. Dabei geht es zum einen um die konkreten Personen, aber – da sie auch zugleich Täter gewesen sein können – prinzipiell um ihre ihnen normativ zugesprochene, „vor-empirische“ Würde, die in ihrer Situation als Opfer auf herausgehoben exemplarische Weise verletzt worden ist. Der Opfer zu gedenken und sie im kulturellen Gedächtnis präsent zu halten, bedeutet, die normative Basis der Demokratie, d.h. die gegenseitige Anerkennung und Sicherung der gleichen Freiheit und Würde aller Menschen, besonders prägnant und eindringlich zu erfahren und immer erneut zu befestigen. Aus der Konfrontation empirischer Erinnerungen entwickelt sich die Akzeptanz überempirischer Normen.
Dieser Abgleich der privaten wie der öffentlichen Erinnerung nicht nur mit dem eigenen Selbstwertgefühl, sondern mit der Anerkennung der Opfer ist das Vehikel, das im öffentlichen Raum die menschenrechtliche Orientierung befördert und vor dem Rückzug in ethnozentrische Borniertheit bewahrt. Sie ist für die Mehrheit der Gesellschaft offenbar im Nachvollzug öffentlicher Debatten leichter zu realisieren als in der Form eines „inneren Gerichtshofs“, vor dem wir selbst unser Verhalten mit unserem Gewissen konfrontieren.
So kann die öffentliche Auseinandersetzung und Deutung als Geburtshelferin die individuelle Konfrontation erleichtern. In vielen Fällen wird sie sie allerdings auch ersetzen. Freilich ist das nicht ohne Folgen, denn die Solidität der Demokratisierung hängt von ihrer sozialen Verbreitung und ihrer mentalen Tiefe ab. Die Idee, dass eine kleine Elite sie für den Rest der Gesellschaft „erledigen“ könnte, übersieht, dass die Qualität von Demokratie von ihrer normativen, politisch-kulturellen Verankerung abhängt. Theoretisch lässt sie sich in einem Entweder-Oder definieren, empirisch findet sie sich immer in qualitativen Abstufungen. Große Schwankungen z. B. hinsichtlich antisemitischer Einstellungen in der Gesellschaft erklären sich aus der relativen Unabhängigkeit der Mikro-Ebene von der Meso- und Makro-Ebene und bleiben so lange ein durch Demagogen realisierbares Gefährdungspotenzial, wie die normative Demokratisierung in den Individuen und im privaten Gedächtnis nicht wirklich verankert ist.
Die in unserem Forschungsprojekt analysierte Konstitution demokratischer politischer Identität beschreibt einen Fall von Wertewandel. Dieser wird in der aktuellen Diskussion vielfach als Werteverfall oder -verlust präsentiert. Zum Hintergrund hat dies die diffuse Vorstellung von einem goldenen Zeitalter oder einfach von früheren „besseren“ Zeiten . Das 20. Jahrhundert eignet sich nicht als Modell eines goldenen Zeitalters. Aber seine zweite Hälfte war Schauplatz vieler achtunggebietender Bemühungen, aus den Trümmern der Verbrechen neue Gemeinden demokratischen Zusammenlebens zu bauen. Der materielle Aufbau gelang in den ersten Nachkriegsjahrzehnten schneller als der mentale. Er hat die Einrichtung neuer Demokratien begünstigt, aber die Krisen der letzten Jahre lassen erwarten, dass sie angesichts bevorstehender erheblicher sozialer und ökonomischer Herausforderungen gefährdet bleiben. Dies gilt nicht nur für die Transformationsländer in Mittel- und Osteuropa. Die Einrichtung demokratischer Institutionen und die Verabschiedung von Verfassungen ist ein unersetzbarer Schritt demokratischer Transformation. Die kulturelle Demokratisierung braucht Zeit und einen langen Atem. Aber ihr kommt komplementär zur institutionellen eine hohe Bedeutung zu, um die politischen Systeme auch unter Krisenbedingungen funktionsfähig und lebendig zu erhalten. Überdies aber haben, jenseits von akuten Krisen, auf Flexibilitätserfordernisse antwortende permanente Reformen, denen wir uns vermutlich in immer schnelleren Abständen stellen müssen und die uns die Bereitschaft zum Risiko abverlangen, dann bessere Aussichten auf Erfolg, wenn wir sie in einer politischen Kultur des demokratischen Vertrauens angehen können. Sie speist sich aus einer solide verankerten demokratischen politischen Identität.
Zum Erstaunen vieler Zeitgenossen hat sich das Interesse der westeuropäischen Demokratien an ihren schwierigen Vergangenheiten in den letzten Jahrzehnten eher gesteigert, als dass es versiegt wäre. Unsere Untersuchung gibt eine Deutung dafür, warum das so ist: Die Chance der kulturellen Demokratisierung, die von der Gegenüberstellung unterschiedlicher und gegensätzlicher Erinnerungen lebt, braucht Zeit, um sich zu verwirklichen. Und sie braucht Bürger, die über den Tag hinaus denken und sich für die Achtung derjenigen Erinnerungen engagieren, die verloren zu gehen drohen, weil sie nicht über machtvolle Repräsentanten verfügen. Denn sie sind das Unterpfand für eine lebendige, widerstandsfähige Demokratie.
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Die Autorin: Gesine Schwan war von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und erhielt 2006 den Schader-Preis.