Sommercamp 2011. Nachbarschaften in kleinen Städten und Kreisen
Artikel vom 02.09.2011
Wie können ländliche Nachbarschaften geplant und gesteuert werden? Welche Infrastruktur und Daseinsvorsorge ist dafür notwendig? Wie können Stabilisierungs- und Integrationsprozesse gefördert sowie Identität und Wertschöpfung erhalten oder generiert werden? Zu diesem Fragenkatalog des Sommercamps 2011 erarbeiteten junge Wissenschaftler verschiedener Disziplinen - Studierende und Berufseinsteiger - innovative und plausible Konzepte. Von Kirsten Mensch
Interdisziplinäre Konzepte für ländliche Nachbarschaften
In den vergangenen Jahren fokussierte sich die Forschung der planenden und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen auf die Entwicklungen in städtischen Agglomerationen. Die kleineren Städte und ländlich geprägten Räume wurden dabei kaum berücksichtigt. Das Sommercamp 2011 bot Studierenden und jungen Berufstätigen während vier Tagen die Gelegenheit, in interdisziplinären Teams aus Architekten, Soziologen, Stadtplanern, Geographen, Philosophen und Politikwissenschaftlern für die Entwicklung und Beständigkeit ländlicher Nachbarschaften Mehrwertdefinitionen und Problemlösungsansätze zu konzipieren. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer orientierten sich an Fragen wie:
- Was ist speziell an Nachbarschaften in kleinen Städten und Kreisen?
- Welche Auswirkungen haben sie auf gesellschaftliche Prozesse?
- Worin bestehen ihre Vorzüge, wo liegen ihre Defizite?
- Wie planen und bauen wir sie?
Ausgelobt wurde das Sommercamp im Jahr 2010 durch den Deutschen Werkbund Baden-Württemberg, die IKEA-Stiftung, die gastgebende Schader-Stiftung sowie die SRL – Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung. Eine Jury aus Vertretern der Auslober wählte aus den eingereichten Wettbewerbsbeiträgen 19 Gewinner aus. Aufgabe der Jury war es auch, vier interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen zu bilden.
Fachexperten begleiteten und betreuten die Gruppen auf gleicher Augenhöhe. Die Sozialwissenschaftlerin Christiane Droste vom Büro UrbanPlus, Jan Liesegang vom raumlaborberlin, Prof. Günter Pfeifer vom Fachbereich Architektur der Technischen Universität Darmstadt und Michael Stein, Stadtplaner aus Berlin, setzten sich an dieser Stelle kompetent und engagiert ein. Als besonderer Gast besuchte Frau Prof. Dr. Dr. Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance, das Sommercamp und hielt einen spannenden politikwissenschaftlichen Vortrag im Bezug zum zentralen Thema der ländlichen Nachbarschaften. Auch sie schloss sich anschließend rege den Gruppendiskussionen an.
Die Jury gab jeder Gruppe einen inhaltlichen Ausgangspunkt für die gemeinsame Arbeit mit:
- Identität und Wertschöpfung durch Nachbarschaften
- Planbarkeit und Steuerung von Nachbarschaften
- Infrastruktur und Nachbarschaften in ländlichen Räumen
- Stabilisieren und integrieren in Nachbarschaften
Mit einem Blick in die Werkstatt stellten die Teilnehmenden des Sommercamps ihre Ergebnisse in einer öffentlichen Abschlusspräsentation vor.
Identität und Wertschöpfung durch Nachbarschaften
Nachbarschaften, so ein Ergebnis der Arbeitsgruppe, stellen spezielle Formen der Vergesellschaftung unter unterschiedlichen Siedlungsstrukturen dar. Sie lassen sich nicht nur durch eine räumliche Dimension beschreiben, vielmehr durch demographische, soziale und ökonomische Dimensionen. Dabei unterscheiden sich Nachbarschaften in Kleinstädten von jenen in Großstädten schon allein durch die baulichen und Eigentumsstrukturen, aber auch durch die geringere Bevölkerungsdichte sowie die geringere Anonymität, die einhergeht mit einer höheren sozialen Kontrolle. Allerdings lässt sich beobachten, dass die als krisenfeste Struktur eingeschätzte Nachbarschaft in kleinen Städten durch den gesellschaftlichen Wandel ins Wanken gerät. Auch die Identität von Nachbarschaften ist gefährdet.
Den Begriff der Wertschöpfung, ebenso wie der der Identität als Thema vorgegeben, verortet die Gruppe im ideellen, ökonomischen oder materiellen Bereich. Nachbarschaftshilfe, Car-Sharing, Schaffung von Arbeitsstrukturen und verbesserter Infrastruktur, etwa Barrierefreiheit, aber auch Aspekte wie Lebensqualität, Kommunikation, Vielfalt an Lebensstilen fallen unter den Begriff der Wertschöpfung.
Das zentrale Ergebnis der Gruppe ist, dass nicht Identität und Wertschöpfung durch Nachbarschaften erzielt wird, sondern dass sich Wertschöpfung durch die Stärkung der Identität in der Nachbarschaft erwirken lässt. Folglich ist zu fragen, wie man die Identität einer Nachbarschaft stärken kann.
Anhand einer „Identitätsmaschine“ zeigte die Gruppe, wo und wie sich ansetzen ließe: Die Identität einer Nachbarschaft wird beeinflusst durch Elemente wie soziale Einrichtungen, die Siedlungsstruktur, den Arbeitsmarkt, die Bevölkerungsstruktur, die Geschichte, Grünflächen, Wohnformen, Einzelhandel sowie die kulturellen Infrastrukturen. Verändert man diese Elemente, wirkt sich das auf die Identität aus und könnte im besten Falle zu Wertschöpfung führen. Am Beispiel der Wohnformen führt die Gruppe aus: Mit der Intervention einer „Wohnraumrallye“ kann den Bewohnern zum einen gezeigt werden, ob und welche alternativen Wohnformen es bereits im Ort gibt, beziehungsweise über welche Wohnformen sich ein Nachdenken lohnt. Durch eine solche Rallye könnte die Realisierung neuer Wohnformen gefördert werden. Insbesondere für die ältere Bevölkerung wirkt sich eine Vielfalt von Wohnformen als positiv, somit wertschöpfend aus.
Planbarkeit und Steuerung von Nachbarschaften
Eine gelungene Nachbarschaft, so begann die Präsentation der zweiten Arbeitsgruppe, ist wie ein Fahrrad mit zwei Rädern: Das Hinterrad steht für Infrastruktur, wobei die Speichen unter anderem Nahversorgung, die Verbindung zur Außenwelt und „wilde Orte“ sicherstellen. Das Vorderrad steht für soziale Beziehungen. Dessen Speichen setzten sich aus gemeinschaftlichem Handeln, Kommunikation sowie Privatsphäre und Toleranz zusammen. Auch wenn man mit einem Fahrrad fährt, das über zwei Räder verfügt, wird man nicht immer gleich schnell vorankommen. Es kann Pannen geben, es kann auch einmal bergauf gehen. Die Idealvorstellung einer Nachbarschaft lässt sich also nicht immer erreichen. Zudem liegen unter den Bewohnern je nach Lebensphase unterschiedliche Ansprüche an eine gelungene Nachbarschaft vor.
Welche Werkzeuge können helfen, um der Idealvorstellung einer Nachbarschaft näher zu kommen? Anhand eines Planspiels in einer fiktiven Gemeinde stellt die Gruppe Werkzeuge vor, die als Steuerungsmechanismen für Nachbarschaften dienen können.
Der Werkzeugkoffer enthält: Einzugsfeste für Hinzugezogene, Zukunftswerkstätten etwa zum Thema Leerstand, Mediationsverfahren bei Konflikten, Schaffung einer Anlaufstelle zum Beispiel für die Belange von Senioren in der Gemeinde, Erstellung von Gemeinschaftsräumen, Verschönerungsaktionen etwa für Sitzbänke, Projektwochen in der Schule zum Thema Nachbarschaften und vieles mehr. Auch das Spiel selbst könnte man zu einem Werkzeug weiter entwickeln und es einer interessierten Gruppe vor Ort zur Verfügung stellen. Mit dem Planspiel können die Bewohner vor Ort Ideen entwickeln und durchspielen.
Bei der Anwendung dieser Werkzeuge ist Sensibilität wichtig. Nicht jedes Werkzeug passt zu jedem Fall. Und immer gilt es, die Strukturen vor Ort zu beachten und mit Feingefühl vorzugehen.
Infrastruktur und Daseinsvorsorge in ländlichen Nachbarschaften
Nachbarschaften in kleinen Städten stellen Räume großer Verbundenheit, sozialer Kontrolle, praktischer Verlässlichkeit, aber auch einer großen Portion „engstirniger Trägheit“ dar. Es verbergen sich große Chancen in der in Kleinstädten existierenden Verbundenheit, die jedoch durch die Schwäche der Trägheit gleichsam überdeckt werden. Die vorhandene Hilfsbereitschaft der Menschen findet daher nicht ihren Weg dorthin, wo sie benötigt wird. Auch Wissen und Informationen, im bestehenden sozialen Netzwerk eigentlich verfügbar, erreichen nicht unbedingt jene, die diese Informationen benötigen. Welches Mittel der Stimulanz eignet sich, um die Trägheit aufzubrechen? Wie lassen sich statt ihrer Selbstbewusstsein und Autonomie erreichen?
Diese Fragen beantwortete die Gruppe anhand eines Beispiels, ausgehend von der kleinsten Einheit in einer Stadt: dem einzelnen Haus. Das Beispiel bezieht sich auf einen Ort mit schrumpfender Bevölkerung. Hauseigentümerin Erna ist davon insofern betroffen, dass ihr Haus in der Ortsmitte leer steht. Sie selbst hat einiges versucht, ist nun aber „mit ihrem Latein am Ende“. Zu ihrem Glück erscheint eines Tages Visionär Victor in ihrer Stammkneipe und kommt mit ihr ins Gespräch. Er hat Ideen, kennt sinnvolle Vorgehensweisen und entwickelt gemeinsam mit Eigentümerin Erna die Strategie, das Haus in einem großen Gemeinschaftsbauprojekt umzubauen. Den Auftakt bildet eine Schulprojektwoche, die nicht nur die jugendliche Fantasie als Ressource nutzt, sondern auch ein Netzwerk zu den Eltern der Jugendlichen knüpft. Das gemeinsame Bauprojekt schließt letztlich nicht nur die Schüler, sondern auch deren Eltern, das ohnehin bestehende lokale Netzwerk aus Nachbarn, aber auch Partner benachbarter Orte ein.
Die in einer Kleinstadt vorhandenen nachbarschaftlichen Elemente der Verbundenheit, der Hilfsbereitschaft, der Verlässlichkeit hat der Impulsgeber Victor aufgegriffen, um sie in einem beispielhaften Projekt zu bündeln. Vorhandene Strukturen bleiben daher nicht nur erhalten, sondern werden zudem gestärkt. Aber es muss auch Platz sein zum Wachsen neuer Strukturen, die das Zusammenleben vor Ort verbessern. Ein erster, durch einen Visionär gesetzter Impuls, der von den Menschen vor Ort aufgegriffen und umgesetzt wird, kann eine Eigendynamik erzeugen, die weitere Kreise zieht, zu innovativen Projekten führt – Projekten, die auch überregional vorzeigbar sind und entsprechend gewürdigt werden. Dies wiederum wird zum Selbstbewusstsein der Nachbarschaft beitragen.
Stabilisieren und integrieren in Nachbarschaften
Mit einer flammenden Rede des Bürgermeisters von Waxhausen beginnt die Präsentation der vierten Gruppe. Sie entführt die Zuhörer in eine fiktive Gemeinde, genauer deren Ortsteil Waxhausen-West. Für den Ort, der geplagt ist von kommunalen Finanzproblemen, Schulschließung und zu wenigen Arbeitsplätzen vor Ort entwickelte die Gruppe ein Projekt, das die Selbsthilfe und Solidarität der Mitbürger stärkt. Nur so lässt sich die Lebensfähigkeit des Gemeinwesens aufrechterhalten, wie der Bürgermeister in seiner Rede erläuterte.
Die Nachbarschaftsinitiative „AndaCare“, bestehend aus externen Experten und Bürgerinnen und Bürgern der Stadt, will bestehende Nachbarschaften stabilisieren und als „freundliche Stadt“ auf die zugehen, die hinzuziehen. In einer Podiumsdiskussion stellen sich die zwei Experten der Initiative und zwei von mehreren Multiplikatoren vor, eine Wirtin und ein Bäckermeister. Zuvor hatten die Multiplikatoren an einem Coaching teilgenommen. Ziel von „AndaCare“ ist es, den immateriellen Gütern des täglichen Bedarfs mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die Multiplikatoren in der Nachbarschaft können Wissen weitergeben, Kontakte vermitteln oder auch den Austausch in der Nachbarschaft initiieren.
Die Besitzerin der Kneipe „Zur Toni“ sowie der vor zwanzig Jahren aus Wien zugezogene Bäckermeister sprachen von ihren ersten Erfahrungen. So denkt die Wirtin darüber nach, den Zeitpunkt ihres Bingo-Angebots von Mittwochabend auf Sonntag Nachmittag zu legen, um auch für Familien mit Kindern interessant zu sein. Außerdem überlegt sie, eine Teestube in einem noch ungenutzten Raum ihres Hauses einzurichten, die den Bedürfnissen der türkischen Mitbewohner entspricht. Der Bäckermeister hat bereits gemerkt, dass kleine Mittel, nämlich Hinhören und Fragen stellen, bereits eine neue Offenheit erzeugen, so dass sich leichter Informationen verbreiten. Durch das Coaching ist er dafür sensibel geworden, dass seine Aufgabe als letzter Nahversorger in Waxhausen-West über das schlichte Verkaufen von Brötchen hinausreicht. Mit wenig Aufwand kann viel erreicht und verbessert werden, auch wenn – wie die Wirtin betont – nicht jedes Problem durch Nachbarschaft gelöst werden kann.
Das allerdings ist auch nicht der Anspruch von „AndaCare“. Der Flyer der Initiative betont: „Nachbarschaften können grundlegende staatliche Defizite nicht ersetzen, aber Solidarität und Selbsthilfe anregen.“
Die Autorin: Dr. Kirsten Mensch ist Politikwissenschaftlerin und seit 2000 Wissenschaftliche Referentin der Schader-Stiftung.