Qualität der Medien – zwischen Ideologie und Relativität
Artikel vom 07.02.2014
Auf Fragen nach der Qualität der Medien fällt es oft schwer, schlüssige Antworten zu geben. Hatte zum Beispiel der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki Recht, als er 2008 spontan die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises für sein Lebenswerk ablehnte, nachdem er während der Preisverleihung einen äußerst negativen Eindruck vom heimischen Fernsehschaffen gewonnen hatte? Damit löste Reich-Ranicki eine große Debatte über die Qualität des deutschen Fernsehens aus. Von Christoph Neuberger
Klagen über das sinkende Qualitätsniveau
Hätten TV-Moderator Stefan Raab und das Dschungelcamp von RTL den renommierten Grimme-Preis für vorbildliche Programmpraxis verdient gehabt, für den sie 2014 beziehungsweise 2013 nominiert wurden? Beide Entscheidungen waren umstritten. Ist die Dauerklage der Fernsehkritiker über das sinkende Niveau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks berechtigt, der angeblich seinen Auftrag verfehlt und stattdessen lieber auf die Quote schielt? Oder kommen ARD und ZDF vielleicht deshalb auf den Medienseiten so schlecht weg, weil Zeitungen sie als Konkurrenten wahrnehmen, die ihnen in schwierigen Zeiten das Feld streitig machen, vor allem im Internet? Noch ein Beispiel aus dem Pressebereich: Verstößt der Zeitungsjournalismus, weil er – angesichts sinkender Anzeigenerlöse und Publikumsreichweite – ums Überleben kämpft, immer bereitwilliger gegen Normen? Fehlt es in den Redaktionen immer mehr an Zeit und Personal für guten Journalismus? Oder zeigt der Journalismus heute mehr Reformgeist als viele Jahrzehnte zuvor, in denen er sich weniger um seine Leser bemühen musste?
Bisher konnten diese Fragen nicht eindeutig beantwortet werden, und es entsteht oft der Eindruck, als würden sich Qualitätsdiskussionen im Kreis drehen und ohne greifbares Ergebnis bleiben. Wo liegen die Schwierigkeiten, wenn Qualitätsmaßstäbe im Medienbereich bestimmt und angewendet werden? Darauf sollen im Folgenden einige Hinweise gegeben werden.
Plädoyer für einen offenen Qualitätsbegriff
Zuerst sollte man sich von der verbreiteten Vorstellung verabschieden, dass sich Qualität ein für alle Mal klären ließe. Der viel zitierte Satz des Journalismusforschers Stephan Ruß-Mohl (1992: 85), dass es schwerer sei, die Qualität des Journalismus zu definieren, als einen Pudding an die Wand zu nageln, führt zu der falschen Erwartung, dass sich Qualität fixieren lassen müsste. Das liefe auf Maßstäbe hinaus, die objektiv oder zumindest unbestritten von allen anerkannt sein müssten. Ein solches Verständnis scheitert daran, dass verschiedene Wertungssubjekte ihre eigenen Maßstäbe anlegen. In Wertfragen gibt es jedoch keine endgültigen Antworten – jedenfalls nicht außerhalb von Glaubenssystemen und Ideologien. Was „gut“ oder „schlecht“ ist, hängt stets davon ab, wer Qualität definiert. Es gibt hier nur subjektive Antworten (vgl. Mackie 1983: 11-59). In einer pluralen Gesellschaft ist mit einer großen Vielfalt an unterschiedlichen Erwartungen an die Medien zu rechnen. Darum ist – jedenfalls in einer werturteilsfreien wissenschaftlichen Analyse – ein offenes Konzept von Qualität vorzuziehen, weil es nicht im Vorhinein bestimmte Wertmaßstäbe als allein gültig unterstellt, und seien sie gesellschaftlich noch so konsentiert.
Die Folgen einer Ideologisierung des Qualitätsbegriffs hat Tobias Kniebe (2011) in der „Süddeutschen Zeitung“ gut auf den Punkt gebracht, als er in eine Themenseite zur Frage „Warum ist öffentlich-rechtliches TV nicht besser?“ mit den folgenden Sätzen einführte:
„Auch diese Themenseite wird wieder ganz sinnlos sein. Wie alle Debatten über die ‚Qualität‘ des deutschen Fernsehens. Sie laufen schon, solange wir denken können, und ebenso lange warten wir darauf, dass mal eine einzige neue Erkenntnis dabei herauskommt. Das ganze Dilemma beginnt schon damit, dass der Begriff der ‚Qualität‘ ideologisch komplett verseucht ist. Man kann ihn immer gut gegen das Fernsehen in Anschlag bringen, er hat dort auch durchaus seine Wirkung – nur leider keinesfalls die erwünschte.“
Das deutsche Bildungsbürgertum habe, so Kniebe weiter, die „gute“ E-Kultur strikt von der „schlechten“ U-Kultur abgegrenzt, während die Achtundsechziger unter „gut“ nicht mehr „handwerklich gut gemacht“ verstanden hätten, sondern nur noch das zählen ließen, was gesellschaftlichen Fortschritt verspricht. Beide Positionen seien sich jedoch einig in der Verachtung des Unterhaltungsfernsehens.
Um solchen ideologischen Standpunkten zu entgehen, sollte man Qualität als etwas Relatives und Dynamisches begreifen. Unterschiedliche Wertungssubjekte haben jeweils eigene Vorstellungen von Qualität. Dazu zählen das Publikum, Journalisten, Medienkritiker, Manager, Wissenschaftler, Politiker, Juristen, Werbetreibende und Lobbyisten. Auch innerhalb dieser Gruppen bestehen unterschiedliche Auffassungen von Qualität. Die Vielzahl der Perspektiven bedeutet jedoch nicht, dass Qualitätsmessung grundsätzlich daran scheitern müsste, dass es keine Einigung auf gemeinsame Maßstäbe gibt. Konsens und Konstanz der Erwartungen sind gerade für den Journalismus notwendig: Er will ein Massenpublikum erreichen und kann deshalb nicht auf individuelle Wünsche eingehen. Und weil er periodisch Neues liefern muss, kann er auch nicht Tag für Tag wieder die Frage aufwerfen, was seine Umwelt von ihm erwartet. Er braucht dafür feste Regeln und Routinen. Im Nachrichtenjournalismus, der Neuigkeiten schnell übermitteln soll, ist deshalb der Grad der Standardisierung relativ hoch: Sowohl die Form der Nachricht (Beantwortung der W-Fragen, Aufbau nach Wichtigkeit, Verzicht auf Wertungen und weitere) als auch die Kriterien für ihre Auswahl (Nachrichtenfaktoren) sind recht genau festgelegt. In anderen Bereichen fehlen dagegen solche präzisen Vorgaben; dies gilt etwa für subjektive Darstellungsformen wie Reportage, Glosse und Essay. Hier spielen Kreativität, Findigkeit und das Ausloten neuer Möglichkeiten eine große Rolle.
Was der Journalismus leisten sollte
Berufs- und Rechtsnormen umreißen den Grundkonsens und die Mindeststandards über die erwartete Qualität. Das Verbot von Schleichwerbung, die Pflicht zur sorgfältigen Prüfung oder das Recht auf Gegendarstellung gehören zu diesen Normen. Im Pressekodex und in den einschlägigen Gesetzen wird Qualität quasi negativ definiert – durch das, was nicht passieren oder mindestens erfüllt sein sollte. Mit einem positiven Vorzeichen sind dagegen zwei andere Begründungsdiskurse für Qualität versehen: die Publikumswünsche und die Ansprüche der Gesellschaft. Während sich die Erwartungen des Publikums und deren Erfüllung über die Nutzungs- und Gratifikationsforschung – mehr oder weniger – genau empirisch ermitteln lassen, haftet den gesellschaftlichen Anforderungen etwas Vages an.
Da die Gesellschaft nicht für sich selbst sprechen kann, müssen diese Aufgabe Stellvertreter übernehmen. Dies sind zumeist Politiker und Experten, die jedoch unter einem zweifachen Verdacht stehen: unter dem (Paternalismus-)Verdacht, dass sie das Publikum bevormunden und erziehen wollen, und unter dem (Manipulations-)Verdacht, dass sie unter dem „Deckmantel“ des Gemeinwohls eigene Interessen verfolgen. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu: Während bei der Qualität aus Sicht des Publikums der individuelle Eigennutzen im Fokus steht, der sich präzise definieren und messen lässt, geht es bei den gesellschaftlichen Erwartungen um das große Ganze, nämlich um erwünschte Makrowirkungen. Medien sollen zum Beispiel den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern, sie sollen sich für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit einsetzen, sie sollen die öffentliche Meinungsbildung in der Demokratie organisieren, sie sollen als Kritiker und Kontrolleure in Politik und Wirtschaft wirken. Hier geht es erkennbar um komplexe, weitreichende und langfristige Wirkungszusammenhänge, die sich sehr viel schwerer empirisch beschreiben und überprüfen lassen als individuelle Publikumswünsche. Der Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks enthält viele gesellschaftliche Erwartungen, die lediglich durch „unbestimmte Rechtsbegriffe“ umschrieben werden. Das macht es ARD und ZDF schwer, überzeugend nachzuweisen, dass sie ihren Auftrag erfüllen und die Gebühren-Milliarden nicht verschwenden.
Die Schwammigkeit gesellschaftlicher Maßstäbe eröffnet aber auch Spielräume für einen taktischen Umgang mit Qualitätsurteilen: Man schreibt sich selbst hohe Qualität zu und spricht sie der Konkurrenz ab – im Wissen darum, dass man nicht beweispflichtig gemacht werden kann. Die Gemeinwohlrhetorik, die man aus Stellungnahmen von Politikern, Verlegern und Intendanten kennt, wäre ein solcher Fall von Qualitätsinszenierung. Noch einen Schritt weiter geht der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn (2013) mit seiner These, dass die Demokratie insgesamt zu einer Simulation geworden ist, an der Bürger, Politiker und Medien gleichermaßen beteiligt sind. In einer von Sachzwängen bestimmten Politik werde mit Bürgerpartizipation nur noch der Eindruck erweckt, dass die Demokratie funktioniere, ohne dass sie aber tatsächlich wesentlichen Einfluss auf politische Entscheidungen habe.
Was hingegen gut nachweisbar ist, das sind Verstöße gegen journalistische Berufsnormen, etwa die Verbreitung von Falschmeldungen oder Schleichwerbung. Das Unterschreiten solcher Mindeststandards liefert oft den Anlass für Medienskandale, weil sich dafür hieb- und stichfeste Beweise vorlegen lassen, während das, was die Gesellschaft an positiven Makrowirkungen vom Journalismus erwartet, nur verschwommen bestimmt und beurteilt wird. Es droht aber eine Fehlsteuerung, wenn leicht erkennbares, aber marginales Versagen stärker kritisiert und sanktioniert wird als das folgenreiche Versagen bei der Gesamtleistung, das aber nur schwer fassbar ist.
Über den Umgang mit Widersprüchen
Der Journalismus steht im Mittelpunkt all dieser unterschiedlichen Erwartungen. Den Journalisten ist die knifflige Aufgabe gestellt, sie in ihrer Arbeit auszubalancieren. Wie sollen sie dabei mit den Widersprüchen umgehen? Dafür gibt es drei denkbare Lösungen: Entweder orientiert sich der Journalismus an Vielfalt als übergeordneter Norm, um möglichst vielen Perspektiven zugleich gerecht zu werden. Dies impliziert die Vorstellung, dass man allen Erwartungen zumindest ein Stück weit gerecht werden könnte, wenn das Angebot in vielen Dimensionen (wie Themen, Meinungen, Genres, gesellschaftliche Gruppen, Räume) vielfältig ist; dadurch soll jedem etwas geboten werden. Damit geht man aber letztlich einer Antwort auf die Qualitätsfrage aus dem Weg. Alternativ kann der Journalismus eine Entscheidung über die Rangordnung der Perspektiven treffen. Vorrang wird gemeinhin den Erwartungen von Publikum und Gesellschaft eingeräumt, während Erwartungen von Vertretern partikularer Interessen wie Parteien und Unternehmen nachrangig behandelt werden (sollten). Eine dritte Möglichkeit besteht darin, sich in einem diskursiven Verfahren auf gemeinsame Maßstäbe zu einigen. Ein solcher Diskurs ist jedoch aufwendig, und sein Ausgang ist offen; dass ein Konsens am Ende steht, ist nicht garantiert. Ansätze dafür finden sich zum Beispiel in den Rundfunkräten, in denen die gesellschaftlich relevanten Gruppen einen Sitz haben, und in der Medienöffentlichkeit selbst.
Will die Gesellschaft vom Journalismus etwas anderes als das Publikum?
Zwischen den Erwartungen von Publikum und Gesellschaft wird in der Diskussion häufig ein unauflösbarer Widerspruch gesehen, der auf die eingängige Formel „Qualität und Quote“ gebracht wird. Das, was das Publikum auswählt und nutzt, soll demnach oft nicht dem entsprechen, was gesellschaftlich wünschenswert ist. Dass sogenannte „Qualitätsmedien“ nur von einer Minderheit genutzt werden, ist hinlänglich bekannt. So hatten die öffentlich-rechtlichen Kulturkanäle arte und 3sat im Jahr 2012 nur einen Marktanteil von 0,8% und 1,0% (vgl. Zubayr/Gerhard 2013: 134). Und für die Qualitätstageszeitungen ermittelten Jandura/Brosius (2011: 197f.) auf Basis der Marktstudie „Typologie der Wünsche“ der Jahre 2006/07 nur einen Anteil von 4,1% regelmäßiger Leser (die mindestens sechs Ausgaben von „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Die Welt“, „Handelsblatt“ und „Frankfurter Rundschau“ in den letzten zwei Wochen genutzt hatten). Populäre Angebote genießen einen deutlich höheren Publikumszuspruch.
Geben aber solche Nutzungsdaten einen aussagekräftigen Hinweis auf die Wertschätzung durch die Rezipienten? Und lässt sich davon eine Negation gesellschaftlicher Maßstäbe ablesen? Daran erheben sich Zweifel: Ergebnisse der Publikumsforschung zeigen, dass Zuschauer „sehr wohl einen Unterschied machen zwischen dem, was sie gern und oft sehen, und dem, was ihnen subjektiv besonders wichtig ist“ (Hasebrink 1997: 213). Erklärt wird dies damit, dass Auswahlentscheidungen mit geringem Aufwand, also habitualisiert oder spontan getroffen werden. Rezipienten sind wenig motiviert, sich besser über das Medienangebot zu informieren und sich intensiver damit auseinanderzusetzen. Sie befinden sich in einer Niedrigkosten-Situation, in der sie wenig verlieren und nicht viel gewinnen können (vgl. Jäckel 1992). Sie müssten relativ viel Aufwand betreiben, um die Qualität von Medienangeboten besser einschätzen zu können, weil es sich dabei um Vertrauensgüter handelt, deren Qualität sie auch nach dem Konsum nicht richtig beurteilen können. Ob eine Nachricht richtig und relevant ist, bedarf einer umfangreichen Prüfung, die im Regelfall nicht lohnt.
Wenn sich also die Wertschätzung nicht von der Nutzung ablesen lässt: Wie lässt sie sich dann ermitteln? Der gängige Weg besteht bisher darin, Rezipienten nach den Motiven zu fragen, weshalb sie ein bestimmtes Medium auswählen. Dadurch kann man etwas über den individuellen Eigennutzen erfahren, den sie als Medienkonsumenten erwarten („Uses-and-Gratifications Approach“). Dabei wird unterstellt, dass sie ihre Wertschätzung alleine als rational handelnde, egoistische Nutzenmaximierer treffen (vgl. Schenk 2007: 681-757). Andere Handlungsorientierungen bleiben meistens ausgeblendet. Nur selten wird etwa danach gefragt, ob die Wertschätzung auch solche Medienangebote umfasst, die Menschen gar nicht selbst nutzen (wollen) und von denen sie auch nicht unmittelbar profitieren, die aber erwünschte Wirkungen auf Dritte oder die gesamte Gesellschaft haben. Sind also die Bürger bereit, Mitverantwortung zu tragen und den Gemeinnutzen von Medien zu unterstützen? Ein solches Verantwortungsgefühl wird im Sozialverantwortungs-Modell der Medien, das sich vom eigennutzorientierten Liberalismusmodell abgrenzt, von den Journalisten erwartet (vgl. Siebert/Peterson/Schramm 1956: 83, 86) – warum sollten Rezipienten es nicht auch besitzen?
Dafür finden sich in Studien durchaus Indizien: Bei der Bewertung der Leistungen der britischen BBC wird in den Regulierungsvorschriften zwischen dem „Consumer Value“ und dem „Citizen Value“ unterschieden (vgl. Livingstone/Lunt/Miller 2007: 65-67). Empirisch wird unter anderem versucht, den eher persönlichen oder gesellschaftlichen Wert bestimmter Genres (vgl. Ofcom 2008: 49) oder die Zahlungsbereitschaft aus Konsumenten- und Bürgersicht für BBC-Angebote vom Publikum einschätzen zu lassen (vgl. Terrington/Dollar 2005). Auch wenn es noch begriffliche und methodische Schwierigkeiten gibt, beide Rollen klar zu trennen (vgl. Terrington/Dollar 2005: 69-71; Livingstone/Lunt/Miller 2007: 85), ist der hier eingeschlagene Weg fruchtbar. Auch einige Studien aus Deutschland sind in diesem Zusammenhang von Interesse: Die repräsentativen Befragungen, die begleitend zu den ARD-Themenwochen durchgeführt werden, kommen immer wieder zum Ergebnis, dass der Anteil derjenigen höher ist, die darin einen gesellschaftlichen Mehrwert sehen, als der Anteil der tatsächlichen Zuschauer. Zuletzt ergab die Studie zur Themenwoche „Leben mit dem Tod“, dass 75% der Befragten der Auffassung waren, dass es wichtig war, dass die ARD dieses Thema „aufgreift und so intensiv behandelt“. Ebenfalls 75% sagten, dass die ARD mit der Themenwoche einen „wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft“ geleistet hat. Aber nur 52% hatten mindestens eine der Sendungen im Fernsehen gesehen (vgl. Frey-Vor/Mohr 2013: 156, 161).
Anders verhält es sich offenbar bei den Fernsehnachrichten: Hier findet sich eine hohe Übereinstimmung zwischen der Rezeption sowie der Einschätzung des individuellen und des gesellschaftlichen Nutzens. Jens Wolling (2002: 209f.) kommt in einer Studie zum Ergebnis: „Die Nutzungsintensität der verschiedenen Nachrichtensendungen ist dann besonders hoch, wenn sie aus der Sicht der Rezipienten die Qualitätskriterien erfüllen, die auch aus gesellschaftlicher Perspektive wünschenswert erscheinen. Ein unvereinbarer Gegensatz von Quote und Qualität ist diesen Ergebnissen nicht zu entnehmen.“ Dies bestätigen auch immer wieder die Ergebnisse der repräsentativen „ARD/ZDF-Trend“-Befragungen: Den öffentlich-rechtlichen Angeboten von „Das Erste“ (2012: 71%) und ZDF (55%) wird eine deutlich höhere Nachrichtenkompetenz zugeschrieben als den kompetentesten Privatsendern (RTL: 29%, Sat.1: 12%, n-tv: 8%). Dies schlägt sich auch in der Nutzung nieder, bei der zumeist die öffentlich-rechtlichen Nachrichtenangebote den Vorzug erhalten (vgl. Zubayr/Geese 2013: 328, 331).
Zwar genießen öffentlich-rechtliche Nachrichten auch unter den jüngeren Nutzern (14 – 49 Jahre) hohes Ansehen, doch wenden diese sich stärker den privaten Angeboten zu (vgl. Zubayr/Geese 2013: 326, 332f.). Auf dieses Zuschauerparadoxon ist auch Irene Costera Meijer (2007) in einer qualitativen Studie über die Mediennutzung von 15- bis 25-Jährigen gestoßen: Sie kannten und schätzten seriöse Nachrichtensendungen, was sie aber nicht dazu veranlasste, sie auch auszuwählen. Zugleich kritisierten sie die leichten, unterhaltsamen Nachrichtenformate, was sie aber umgekehrt nicht vom Sehen abhielt. Seriöse Nachrichten seien für sie eine Art Grundversorgung, die es geben sollte, unabhängig davon, ob sie regelmäßig genutzt werden oder nicht.
Ausblick
„Qualität und Quote“ bilden keinen unauflösbaren Widerspruch. Was wie die Quadratur des Kreises erscheint, ist nicht ausgeschlossen. Für diese These sollten hier plausible Argumente und Studienergebnisse vorgelegt werden. Einige Punkte bleiben jedoch noch zu klären:
- Zunächst sollte ideologischer Ballast abgeworfen und vorurteilsfrei bestimmt werden, welche Erwartungen die Gesellschaft an die Medien und den Journalismus richtet. Auch die unbestimmten Rechtsbegriffe, mit deren Hilfe der öffentlich-rechtliche Auftrag definiert wird, reichen dafür nicht aus, sondern müssten weiter ausgelegt werden. Für die Präzisierung gesellschaftlicher Erwartungen und die Prüfung, ob sie erfüllt werden, ist eine (kommunikations-)wissenschaftliche Herangehensweise unerlässlich (vgl. Arnold 2009).
- Weiterhin sollten Rezipienten nicht auf die Konsumentenrolle reduziert werden, wie es in der gängigen Nutzungs- und Gratifikationsforschung der Fall ist. Dadurch werden sie als „Quotenvieh“ und egoistische Nutzenmaximierer unterschätzt. Ihnen sollte die Chance geboten werden, als mündige, mitverantwortliche Bürger ihre Wertschätzung auszudrücken – und dies unabhängig davon, ob sie die Angebote selbst rezipieren oder nicht. Dies macht es auch notwendig, Erfolgsindikatoren der Anbieter – vor allem der öffentlich-rechtlichen, die nicht vom Markt abhängig sind – anders zu definieren.
- Noch erstrebenswerter ist es, wenn die Zustimmung über ein bloßes „Lippenbekenntnis“ hinausgeht und auch Nutzung, Zahlungsbereitschaft und sonstiges Engagement für hochwertige Medienangebote umfassen würde. Dafür sollten motivierende Kontexte geschaffen werden. Diese Bereitschaft wird etwa dann gefördert, wenn erkennbar ist, dass sich auch andere für hohe Qualität einsetzen, und man nicht den Eindruck hat, alleine auf weiter Flur zu stehen (vgl. Lewinsohn-Zamir 1998). Außerdem können kleine Anstöße - „nudges“ (vgl. Thaler/Sunstein 2011) – im Alltag helfen, sich noch mehr den Qualitätsangeboten zuzuwenden und die eigene Willensschwäche zu überwinden. Öffentlich-rechtliche Programme werden schon deshalb eher genutzt, weil sie auf leicht auffindbaren Kanälen platziert sind („Das Erste“, „Das Zweite“, „Die Dritten“). Ebenso sollten Dokumentationen und andere hochwertige Formate nicht ins Spätabendprogramm und in Spartenkanäle abgeschoben, sondern zur Hauptsendezeit im Hauptprogramm ausgestrahlt werden.
- Schließlich ist eine „Erziehung zur Mündigkeit“ auch eine Aufgabe der Medien selbst. Der Leser einer Qualitätszeitung setze sich, so Jürgen Habermas (2007), „gewissermaßen auto-paternalistisch – einem Lernprozess mit unbestimmtem Ausgang aus. Im Verlaufe einer Lektüre können sich neue Präferenzen, Überzeugungen und Wertorientierungen ausbilden. Die Metapräferenz, von der eine solche Lektüre gesteuert ist, richtet sich dann auf jene Vorzüge, die sich im professionellen Selbstverständnis eines unabhängigen Journalismus ausdrücken und das Ansehen der Qualitätspresse begründen.“ Wenn man aber erst in der Auseinandersetzung mit Qualitätsangeboten lernt, was einem entgehen würde, würde man sie nicht nutzen, muss zunächst die Einstiegshürde überwunden werden. Das ist nicht zuletzt eine Aufgabe der Medienerziehung.
Der Autor: Prof. Dr. Christoph Neuberger ist Professor für Kommunikationswissenschaft (Schwerpunkt Medienwandel) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Arbeitsgebiete in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen Journalismus, Medienqualität, Öffentlichkeit und Journalismus im Internet sowie Medien- und Öffentlichkeitswandel.
Literatur:
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Habermas, Jürgen (2007): Medien, Märkte und Konsumenten. „Die besondere Natur der Ware Bildung und Information“ – Die seriöse Presse als Rückgrat der politischen Öffentlichkeit. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 112 v. 16./17.05.2007, S. 13.
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Kniebe, Tobias (2011): Im Land der verseuchten Begriffe. Unsere kulturelle Elite wollte immer das Beste fürs Fernsehen – und hat es damit erst auf den Hund gebracht. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 238 v. 15./16.10.2011, S. 23.
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