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Verantwortliche Forschung und Praxis

Artikel vom 21.05.2019

Auch heute braucht die Wissenschaft Bedachtsamkeit, darf wissenschaftlicher Mut nicht zum Übermut werden, ist Wissenschaftsfreiheit stets verantwortete Freiheit. Deswegen muss die Frage, was der Mensch kann, stets begleitet werden von der Frage, was der Mensch soll und was er darf. Von Paul Kirchhof

Dank

Heute ereignet sich in der Schader-Stiftung etwas Besonderes. In der Regel würdigt, fördert und inspiriert Alois M. Schader mit seiner Stiftung Wissenschaftler. Heute richten Stiftung und Wissenschaftler ihren Blick auf Alois Schader, um ihn zu ehren und die Wertschätzung für sein Werk zum Ausdruck zu bringen. Er hat als beratender Bauingenieur in der Zeit der Nachkriegsnot und des Wandels von der Großfamilie zur Kleinfamilie Wohnungsbauprogramme entwickelt, die dem neuen gesellschaftlichen Bedarf und der aktuellen Bautechnik entsprachen. Doch als Staat und Gesellschaft diese Einsichten nicht hinreichend in die Praxis umsetzten, hat Alois Schader sich entschlossen, eine Stiftung zu gründen, damit die Gesellschaftswissenschaften diese Welt menschengerechter und sozialer gestalten. Die Sozialwissenschaften sollen ihren Blick stetig zwischen Technik und gesellschaftlicher Entwicklung hin und her wenden, einen gesellschaftlichen Wandel als Aufgabe an die Technik herantragen, aber auch technische Entwicklungen zum Gegenstand der Gesellschaftswissenschaften machen. Dieser Widmungszweck folgt zugleich der wissenschaftlichen Erfahrung, dass neue Erkenntnisse vor allem im Überschneidungsbereich von Wissenschaftsdisziplinen zu erwarten sind. Anlass und Aufgabe des heutigen Tages ist es, Herrn Schader für dieses Zukunftskonzept zu danken. Doch der Auftrag der Stiftung gilt stetig und bestimmt auch für die heutigen Impulsreferate, die Themen und Maßstäbe für eine Forschung formulieren sollen, die sich der Praxis verantwortlich weiß, also unsere Welt, die Lebensbedingungen des Menschen – einfach gesagt – besser und schöner machen.

Diese Aufgabe stellt sich heute durch die Entwicklung von Robotern und Computern, von IT-Technik und Drohnen so dringlich, dass Alois M. Schader, hätte er nicht vor 30 Jahren seine Stiftung gegründet, diesen Gründungsakt heute wohl nachholen würde.

Im Jahre 1990 hat der Atomphysiker Carl Friedrich von Weizsäcker einen Blick zurück auf die Auseinandersetzung zwischen Galilei und der Kirche geworfen und diesen Prozess in die Gegenwart der Atomforschung weitergedacht. Den Kardinal Bellarmin hätte geschaudert, wenn er geahnt hätte, dass die Atomforschung auch eine Atombombe entwickelt. Von Weizsäcker hat (1990) festgestellt, er wisse nicht, ob diese Erfindung die Zivilisation zerstöre. Wir wissen es heute auch nicht.

Auch heute braucht die Wissenschaft Bedachtsamkeit, darf wissenschaftlicher Mut nicht zum Übermut werden, ist Wissenschaftsfreiheit stets verantwortete Freiheit. Deswegen muss die Frage, was der Mensch kann, stets begleitet werden von der Frage, was der Mensch soll und was er darf.

Die technischen Fortschritte als Freiheitschance

Der gegenwärtige technische Umbruch gibt den Menschen mehr Freiheiten, als sie früher je ahnen konnten. Die Maschinen übernehmen die Aufgabe, Wirtschaftsgüter – Bauten, Fahrzeuge, Computer und Kleidung – zu produzieren. Roboter erbringen Dienstleistungen in Industrie, im Handel, auch in der Begleitung und Betreuung von Menschen. Computer erschließen Wissen, bieten ein technisches Gedächtnis, kombinieren Daten in einer Breite und Geschwindigkeit, die den Menschen nicht möglich wäre. Drohnen und bald auch selbstfahrende Fahrzeuge organisieren Verkehr und Transport.

Diese Technik entlastet den modernen Menschen elementar. Er braucht kaum noch körperlich im Schweiße seines Angesichts zu arbeiten. Handelsgeschäfte werden weitgehend digital geschlossen, erfüllt und abgewickelt. Der Computer erfüllt die Aufgaben eines Rechnungs-, Planungs- und Bilanzbüros. Das Internet vermittelt Wissen, kombiniert und präsentiert Erfahrungen und Einsichten. Drohnen nehmen das Verkehrswesen zunehmend den Menschen aus der Hand. Das selbststeuernde Fahrzeug macht den Autofahrer zum Fahrgast. Die Köpfe und Sinne des Menschen, seine Lebenssichten und Planungen werden frei für anderes.

Der technische Fortschritt wird vom Menschen subjektiv erdacht und subjektiv erlebt. Kamille im botanischen Garten ist ein Heilkraut, im Rosenbeet ein Unkraut. Wasser in der Sahara ist ein Rettungsmittel, in der Kellerwand ein Schaden. Der Flug nach Afrika ist für den Urlauber ein Vergnügen, für den abgeschobenen Flüchtling der Weg in die Verbannung. Ebenso erleben wir die technische Entwicklung mit Begeisterung oder in Angst. Doch bei allen Erfindungen – der Dampfmaschine, der Entdeckung der Energie, der Entwicklung moderner Medien – hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass der technische Fortschritt für die Menschen von Vorteil ist, wenn die Gesellschaft sich auf die sachgerechte Nutzung der Technik einrichtet. Diese Kunst, die Technik zu fördern und den Menschen zugleich zu befähigen, mit seinen Anliegen und seinen Werten die Technik zu beherrschen, dürfte ein Kernanliegen der Schader-Stiftung sein.

Jede Technik kann Hilfe und kann Gefahr sein. Das wissen wir seit der Erfindung des Messers. Computer und Roboter sind heute alltägliche, selbstverständliche Hilfsmittel für Wirtschaft, Wissenschaft und private Lebensführung. Doch muss sich der Mensch darauf einrichten, dass diese Techniken ihn in eine vorprogrammierte, formatierte Sichtweise auf die Wirklichkeit führen. Wer im Internet Daten sucht, um ein historisches Geschehen besser zu verstehen, erhält Ergebnisse, die der Algorithmus generiert. Er begegnet der Wirklichkeit nicht in ihrer Vielfalt, Unterschiedlichkeit und Entwicklung, sondern in einem fremdbestimmten Format. Seine Freiheit wird zur formatierten Freiheit.

Algorithmen verbreiten Erfahrungen und Lebenssichten, geben Berufsständen und Alltagsabläufen ein neues freiheitliches Gesicht. Doch sie beanspruchen dabei „Künstliche Intelligenz“, die der menschlichen überlegen sei und deshalb menschlichen Widerspruch nicht duldet. Eine Demokratie sucht ihre Lebenserfahrungen und Verhaltensregeln demgegenüber in einem offenen Prozess der Gesetzgebung, in dem das Für und das Wider einer Norm erörtert wird, das Gesetz von heute durch ein besseres Gesetz von morgen abgelöst werden kann. Die Vorläufigkeit menschlicher Einsichten, die tägliche Chance zum besseren Gesetz ist der Demokratie eigen. Zudem erleben wir gegenwärtig insbesondere im Steuerrecht, dass die staatliche Erläuterung, wie ein Gesetz zu handhaben ist, von der Verwaltungsvorschrift zum Algorithmus, also von der Staatsverwaltung zur technischen Interpretation übergeht. Darin liegt eine Chance elementarer Vereinfachung und materieller Gleichheit vor dem Gesetz. Doch die Technik ist auch so unbekümmert, elementare Legitimations- und Kontrollanforderungen des Rechtsstaates – Verantwortlichkeit und Gewaltenteilung – außer Kraft zu setzen.

Soziale Medien gefährden das Prinzip der freiheitlichen Verantwortlichkeit, das vom freiheitlichen Menschen grundsätzlich erwartet, mit eigenem Namen und eigenem Gesicht für das einzustehen, was er in Freiheit tut. Die „sozialen Medien“ hingegen erlauben dem Nutzer des Internets, in einer gesicherten Anonymität Hass, Häme, Gewaltempfehlungen – gegen seinen Lehrer, seinen Richter oder seinen Konkurrenten – zu verbreiten. Die Technik organisiert die Anonymität, das ist die Unverantwortlichkeit. Sie soll aber der Freiheit des Menschen dienen. Dieser will die Technik in verantwortlicher Freiheit veranlassen und beherrschen.

Vorbereiten einer grundsätzlich anderen Arbeitswelt

Wenn der technische Fortschritt den Menschen fundamental entlastet, bietet er ihm die einmalige Chance, von seinen ideellen Freiheiten vermehrt Gebrauch zu machen. Wir stehen heute nicht in einem technischen Umbruch, wie ihn Gerhard Hauptmann in „Die Weber“ eindrucksvoll beschrieben hat. Damals wurden die Handweber durch die Webmaschinen aus dem Arbeitsmarkt verdrängt, gerieten in Armut und existentielle Not. Der moderne Mensch lebt in gesicherter Bürgerlichkeit, hat eine faire Chance, aus bisherigen Erwerbsverhältnissen in neue Arbeitsverhältnisse einzutreten. Er kann sich insbesondere auch anderen Freiheiten als der herkömmlichen Berufsfreiheit widmen. Sein Status wird weniger durch den Beruf geprägt, sein Rang weniger durch die Höhe des Einkommens bestimmt.

Die Sozialwissenschaften stehen vor der Aufgabe, diesen Akt der technischen Befreiung so zu begleiten, dass die Menschen nicht in Arbeitslosigkeit stürzen, sie aber auch bei der Arbeit außerhalb des bisherigen Entgeltsystems nicht ohne eigenes Einkommen bleiben.

Der technisch befreite Mensch wird sich mehr seiner Familie und seinem Freundeskreis widmen, individuelle Not gemeinnützig lindern und die Suche nach Kultur im Ehrenamt ins Ziel führen. Er wird musizieren, dichten, malen, lesen und diskutieren. Er bemüht sich vermehrt um die Jugend und wendet sich ermutigend und pflegend alten Menschen zu. Sein Lehren und Erziehen kann in Schule und Hochschule individueller in kleinen Einheiten wirksam werden. Die Forschung wird den Menschen neue, anspruchsvolle und sinnstiftende Arbeitsplätze bieten. Der Sport wird nicht nur als Wettbewerb gepflegt, sondern als eine Übung zu Fairness und Fitness, die Leib und Seele zusammenhält. Die Aufgabe eines individualgerechten und gemeinschaftsverträglichen Wohnens stellt sich in der wachsenden Verstädterung und den damit verbundenen Anforderungen an menschliches Leben und an die Umwelt wiederum neu. Der Umweltschutz wird im alltäglichen Verstehen deswegen unbürokratisch auf den Jedermannsbedarf abgestimmt. Die Aufgaben unseres Alltags werden sich elementar verändern, wenn wir uns in Zukunft sicher in einem Dreieck bewegen wollen, in dem die USA militärische und datentechnische Herrschaft ausüben, Russland uns mit Energie versorgt und China zu unserem wichtigsten Wirtschaftspartner geworden ist. Und wir werden beginnen müssen, unser Recht in einer immer komplizierter werdenden Welt zu vereinfachen.

Gegenwärtig sucht unsere Gesellschaft der Gefahr der Arbeitslosigkeit durch Verringerung der wöchentlichen Arbeitszeit und Verkürzung der Lebensarbeitszeit zu begegnen. Zugleich richtet man neue Prüf- und Kontrollstellen ein, begründet eine Fülle von Berichts-, Nachweis- und Bilanzierungspflichten, verheißt in einem Informationsfreiheitsgesetz Akteneinsicht und Auskünfte nahezu bei jeder Behörde, antwortet zugleich – gegenläufig, aber arbeitsmarktwirksam – mit Datenschutzstrategien. Die Umgestaltung des Finanzmarktes und die Erweiterung des Beratungsbedarfs in einer kaum noch verstehbaren Welt bringt Menschen ins Brot, nimmt aber anderen ein Stück des selbst verdienten Brotes. Auch die institutionelle Verselbständigung von Interessen und Aufgaben in weiteren Behörden und NGOs bieten neue Betätigungsmöglichkeiten. Diese Entwicklung des Arbeitsmarktes ist selbstverständlich nicht insgesamt sinnlos und bürokratisch. Ihre Übertreibung aber ist ein Irrweg, der die Chancen zu mehr Freiheit im Arbeitsleben bisher überhaupt nicht nutzt. Die Sozialwissenschaften haben die Aufgabe, die Betätigungsmöglichkeiten des Menschen in der Weite von Beruf und Arbeit zu erschließen und zu empfehlen.

Jede Arbeit verdient ihren Lohn

Der Mensch braucht auch in dieser modernen Welt des Arbeitens ein durch Leistung verdientes Einkommen, um seine Freiheit entfalten zu können. Viele der ideellen Freiheiten fordern anspruchsvolle Arbeit, werden derzeit aber nicht entgolten. Deswegen stehen Gesellschaft und Recht vor der Aufgabe, die Einkommensströme neu zu organisieren. Dabei bietet sich eine grundsätzliche Alternative: Man kann die Finanzierung dieser neuartigen Arbeit dem Staat überlassen, der Maschinen und Daten besteuern wird, damit aber eine Finanzmacht gewönne, um alle Menschen mit einem Individualeinkommen auszustatten, sie damit aber in die Abhängigkeit von dem staatlichen „Goldenen Zügel“ brächte.

Andererseits könnte die Gesellschaft die entgeltwürdige Leistung modern definieren und in ihrer Kompetenz die Einkommensquellen neu erschließen. Die Internetnutzer könnten die von ihnen bereitgestellten Daten, wenn sie wirtschaftlich Verwertung finden, also ein Wirtschaftsgut darstellen, für sich beanspruchen und dadurch ein Einkommen erzielen. Die Nachfrager nach maschinenproduzierten Gütern könnten an Maschinenerträgen beteiligt werden und in Anlehnung an das gegenwärtige System der Privatversicherung Berechtigungspunkte sammeln. Genossenschaftsähnliche Verbünde könnten den Erfolg technisch produzierter Wirtschaftsgüter auf alle Beteiligten – auf die Erfindungs-, Organisations-, Technik-, Verwaltungs- und Reparaturstufe – verteilen. Das Eigentum an Produktivkapital (Aktie, Anleihe, Fonds) und damit die Herrschaft über den Ertrag von Produktionsmitteln ist behutsam neu zu bedenken.

Die modernen Gesellschaftswissenschaften werden eine neue Ethik der Leistung entwickeln müssen. Die entgeltwürdige Leistung entsteht nicht ausschließlich in bisherigen Berufsrechtsverhältnissen. Entgeltwürdig kann nicht nur eine Tätigkeit, sondern auch der Erfolg einer Arbeit sein, die dem inspirierenden Erzieher, dem Vorbild, dem Maßstabsgeber und dem Friedensstifter unterschiedlich zugemessene Anerkennung zuspricht.

In dieser Feierstunde zu Ehren eines Stifters der Denkanstöße geht es nicht um Lösungsvorschläge, wohl aber um das Eröffnen von Perspektiven, die unsere Wissenschaften drängen, in die Zukunft gedanklich vorzugreifen, um Lösungswege zu erschließen, einen schonenden Übergang von der alten Berufswelt zur modernen Arbeitswelt vorzubereiten. Würden wir die bisherigen Tarifvertragsparteien wissenschaftlich unbegleitet in ihre Zukunft stolpern lassen, wären der innere Friede und die Prosperität in Deutschland gefährdet. Würden wir den Finanzmarkt, die IT-Welt und die technische Produktion nicht auf die Folgen ihres Systems hinweisen und Frag-Würdigkeiten bewusstmachen, duldeten wir den Fortbestand eines Wettbewerbs ohne Tausch von Leistungsäquivalenten, der scheitern wird.

Vor allem aber hätten wir – die wirklichkeitsverantwortliche Wissenschaft – unseren Auftrag, die Gesellschaft freiheitsgerecht fortzubilden, nicht erfüllt. Das könnten wir vor unseren Kindern, vor unseren Maßstäben der Wissenschaftsethik, vor Herrn Schader nicht verantworten.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der erweiterten Dokumentation des Symposiums „Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften“, das anlässlich des 90. Geburtstags des Stifters Alois M. Schader am 16. Juli 2018 im Schader-Forum stattfand.

Paul Kirchhof: Verantwortliche Forschung und Praxis, in: Alexander Gemeinhardt (Hrsg.): Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften. 30 Jahre Schader-Stiftung, Darmstadt 2018, 194-197.

Der Autor: Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und lehrt das Fach Steuerrecht.

 

 

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