Die Attraktivität einer Gesellschaft kann als „Willkommenskultur“ verstanden werden, so die Studie „Willkommenskultur in Deutschland“ im Auftrag der Bertelsmann Stiftung vom Dezember 2012. Und weiter: Willkommenskultur meint nicht nur die Unterstützung der Neuankömmlinge bei der Ankunft, dem Erlernen der Sprache und dem Einleben in die neue Gesellschaft. Zur Willkommenskultur gehört auch der generelle Umgang mit Vielfalt in einer Gesellschaft: Das bezieht sich auf die Toleranz und Achtung gegenüber Menschen mit anderen kulturellen Wurzeln, umfasst die Wertschätzung der bisherigen Leistungen der Zuwanderer und zeigt sich darin, dass Menschen mit Migrationshintergrund in allen Bereichen der Gesellschaft angemessen vertreten und für alle Bewohner als Leistungsträger wahrnehmbar sind. Darum sprechen wir mittlerweile auch von einer Willkommens- und Anerkennungskultur.
Deutschland ist ein Einwanderungsland, zu dieser Erkenntnis sind wir erst spät gekommen, und Deutschland als demografisch alternde und schrumpfende Wirtschaftsnation braucht Zuwanderung. Nach der neuesten Prognose des Statistischen Bundesamtes (12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung) wird ein Rückgang der Einwohnerzahl von derzeit 82 Mio. auf 69 Mio. in 2050 vorausgesagt (Annahmen: Wanderungssaldo von 100.000 ab 2014, Geburtenhäufigkeit bei 1,4 pro Frau im gebärfähigen Alter). Gerade die ländlichen Räume werden von einem starken Rückgang der Bevölkerung und einer Überalterung betroffen sein. Gleichzeitig wird sich die Zusammensetzung der Bevölkerung verändern, die Gesellschaft wird vielfältiger werden, auch im ländlichen Raum. Da die Geburtenraten seit Jahren auf gleichbleibend niedrigem Niveau verharren, ist Zuwanderung für die Stabilisierung der Bevölkerung ein maßgeblicher Faktor. Nach stark rückläufigen Zuwanderungszahlen steigen die Zahlen seit 2010 wieder stark an. In 2012 hatten wir ein positives Wanderungssaldo von fast 369.000 Personen, das hat Deutschland statistisch ein Plus von 196.000 Einwohnern beschert. Dies ist der höchste Wanderungswert seit 1995 und hat viel mit politischen Entwicklungen zu tun, aber auch mit der derzeit guten wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Die politischen Konflikte im arabischen Raum haben zum Anwachsen von Flüchtlingen aus dem Iran, Irak, Afghanistan und Syrien geführt, es kommen aber auch mehr Zuwanderer aus dem europäischen Ausland, insbesondere aus Osteuropa, z.B. Bulgarien, Rumänien, Serbien und Mazedonien, die meist als Armutswanderung wahrgenommen wird. Es kommen mittlerweile aber auch gut qualifizierte junge Menschen aus den europäischen Krisenländern Spanien, Portugal und Griechenland.
Auf dem Arbeitsmarkt wird der demografische Wandel bereits spürbar. Die Industrie beklagt den Mangel an Fachkräften, insbesondere in den technischen und Ingenieurberufen. Die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass bis 2025 bereits 5,4 Mio. Fachkräfte fehlen werden. Der Arbeitskräftebedarf wird auf allen Qualifikationsebenen zunehmen. Am deutlichsten wird er bei den Facharbeitern und Akademikern sein. Betroffen sind insbesondere Tätigkeiten in den wissensintensiven Bereichen (Forschung, produktionsnahe Dienstleistungen etc.), im Pflege- und Gesundheitsbereich sowie im Bildungsbereich. Fachkräfte sind in allen Gesellschaften begehrt, die in den nächsten Jahrzehnten demografisch schrumpfen. Zuwanderer werden sich für Deutschland nur dann entscheiden, wenn es neben guten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt auch attraktive Lebensbedingungen für sie und ihre Familien gibt. Das hat mit konkreten Integrationsangeboten zu tun, aber auch mit den Aussichten auf dauerhafte Berufs- und Lebensperspektiven. Es hat auch mit einer Kultur des Willkommens zu tun.
Der Fachkräftemangel verändert auch den Blick auf Asylbewerber und Flüchtlinge als mögliches Potenzial für den Arbeitsmarkt. Menschen aus den Herkunftsländern -Afghanistan, Irak, Iran, Syrien – haben meist ein hohes Bildungsniveau. Die Integration von Flüchtlingen ist jedoch durch die rechtlichen Rahmenbedingungen von Bund und Ländern schwierig und politisch nicht gewollt. Doch auch hier scheint der demografische Wandel eine Öffnung zu ermöglichen. Die Zeit ist günstig für eine entsprechende Debatte. Vor allem der ländliche Raum könnte von einer veränderten Politik profitieren.
Insgesamt hat die nationale Debatte über Integration das Thema auch bei den Kommunen im ländlichen Raum stark befördert. Der demografische Wandel und der Fachkräftemangel haben zu einem Umdenken geführt und die Themen Zuwanderung und Integration mittlerweile in das Zentrum der lokalen Politik gerückt.
Da über das Thema Zuwanderung im ländlichen Raum wenig bekannt war, hat die Schader-Stiftung zusammen mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dem Deutschen Landkreistag und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund von 2009 bis 2011 das Projekt „Integrationspotenziale in kleinen Städten und Landkreisen“ durchgeführt. Mit diesem Projekt wurde erstmalig die Situation von Zuwanderern im ländlichen Raum bundesweit vergleichend untersucht. Die positive Resonanz auf die Projektergebnisse hat uns ermutigt, ein zweites Projekt ins Leben zu rufen.
Seit Anfang 2012 führen wir nun in Zusammenarbeit mit den bisherigen Partnern und dem Hessischen Ministerium der Justiz, für Integration und Europa als weiterem Unterstützer das Folgeprojekt: „Integrationspotenziale ländlicher Regionen im Strukturwandel“ durch, das sich im Unterschied zum Vorgängerprojekt gezielt an Kommunen in den eher strukturschwachen ländlichen Regionen richtet. Die Finanzierung des Projektes erfolgt über eine Förderung aus dem Europäischen Integrationsfonds, des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und des Hessischen Ministeriums der Justiz, für Integration und Europa sowie über Eigenmittel der Schader-Stiftung.
Anliegen des Projektes des Projektes ist es, einen Perspektivwechsel in der Integrationspolitik der Kommunen hin zu einer Ressourcen- und Potenzialorientierung zu erreichen, die Kommunen Integration als Zukunftsaufgabe etablieren und mit strukturellem und demografischem Wandel verknüpfen, Integration strategisch als Querschnittsaufgabe in der Verwaltung verankern und eine Anerkennungs- und Willkommenskultur als ein Baustein zur Attraktivitätssteigerung des Standorts und zur Stabilisierung der Entwicklung entwickeln.
Ziel ist die Verbesserung der Angebots- und Steuerungsstruktur kommunaler Integrationspolitik durch interkulturelle Öffnung und Orientierung der kommunalen Institutionen. Interkulturelle Öffnung bedeutet den Zugang zu Angeboten und Dienstleistungen der Verwaltung für alle zu ermöglichen, in diesem Sinne ist sie eine „soziale Öffnung“ der Institutionen mit dem Ziel Chancengerechtigkeit und Teilhabemöglichkeit für alle Bürger herzustellen.
An dem Projekt sind bundesweit sieben Städte und Landkreise aus sechs Bundesländern beteiligt. In einem diskursivem und aktivierendem sollen die Kommunen einen Prozess der interkulturellen Öffnung in Verwaltung und kommunalen Diensten einleiten, die Aufgabenzuordnung im Bereich Integration zwischen Landkreis und Stadt abstimmen und einen öffentlichen Diskurs zu den Themen demografischer Wandel, Zuwanderung, kulturelle Vielfalt und Integration, Anerkennungs- und Willkommenskultur mit der Bürgergesellschaft anstoßen. Hierbei werden die Kommunen durch eine Forschungsgruppe begleitet: Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration- DESI aus Berlin in Kooperation mit imap Institut für interkulturelle Management- und Politikberatung aus Düsseldorf.Im Dialog zwischen den Erkenntnissen Gesellschaftswissenschaft und den Erfahrungen der Praxis liegt der besondere Ansatz und Gewinn der Arbeit der Schader-Stiftung.
Die öffentliche Diskussionsveranstaltung am 26. September 2013 und der Expertenworkshop zur Fachkräftesicherung am 27. September 2013 im Schader-Forum in Darmstadt markierten die Halbzeit dieses Projekts. Im Zentrum der Veranstaltung standen folgende Fragen: Sind wir als Gesellschaft ausreichend gerüstet sind für die Folgen des demografischen Wandels und den sich abzeichnenden Fachkräftemangel? Wie steht es mit einer Willkommenskultur in Deutschland, was wäre zu tun? Was kann und muss Politik tun, um Ängste und Befürchtungen abzubauen und ein positives Klima der Offenheit und Toleranz zu fördern?
Die Dokumentation der beiden Veranstaltungen steht unter Publikationen als Download zur Verfügung.
Das Projekt wird aus Mitteln des Europäischen Integrationsfonds kofinanziert.
Weitere Informationen finden Sie auf der Projektwebsite www.integrationspotenziale.de