Neukölln: Offen und geschlossen zugleich? Interaktion und Vernetzung in Zeiten des sozialen Wandels
Artikel vom 02.09.2014
Discussion Paper zur Tagung „Dynamiken räumlicher Netzwerkstrukturen: Theorien und Anwendungen geographischer und soziologischer Netzwerkforschung“ 12./13. Juni 2014 im Schader-Forum Darmstadt. Von Teresa Stumpf
Einleitung
Das soziale Leben und Miteinander ist im 21. Jahrhundert weltweiter Globalisierung, Digitalisierung und Vernetzung einer nie zuvor erlebten Komplexität unterworfen und befindet sich in einem rapiden und sich ständig beschleunigenden Strukturwandel. Städte sind dabei Orte, an denen das Globale und das Lokale mit besonderer Intensität aufeinander prallen. Als Knotenpunkte von Kontakt, Interaktion und pluralisierten sozialen Beziehungen beeinflussen sie die Lebensweisen ihrer Einwohner. Deren Aktivitäten und Interaktion wirken wiederum auf sie zurück (Weinstein, 2010).
Für die Städte der postmodernen Gesellschaften ist es zunehmend entscheidend, ihre Kompetenzen für die Regelung des Zusammenlebens unter den Bedingungen von Urbanisierung, Migration und gesellschaftlicher Ausdifferenzierung auszubauen und vermehrt einzusetzen (Bukow, Nikodem, Schulze, & Yildiz, 2001). Dabei muss zwischen den Alltagsrealitäten verschiedener Stadtbezirke differenziert werden. Sie weisen unterschiedliche Strukturen und Symboliken auf, die sich in unterschiedlichen Arten sozialer Beziehungen und urbanen Zusammenlebens konkretisieren (Herlyn, 1974). Die urbane Nachbarschaft zeichnet ein Netz von Relationen zwischen sozialen Subjekten, welche in ungleichem Maße mit Kapitalien ausgestattet sind und entsprechend ihrer Macht und Position dort ihre Wirkung entfalten und Effekte produzieren (Bourdieu, 2006). Hier wird der wechselseitige Zusammenhang zwischen sozialer und räumlicher Organisation von Gesellschaft besonders konkret. Die Nachbarschaftsnetzwerke können eine unterschiedlich dichte und weitreichende Intensität ausbilden. Ihre Kanäle akkumulieren soziales Kapital, können aber auch einschränkend wirken (Bommes & Tacke, 2003; Granovetter, 1973). Dies zeigt sich besonders in Bezirken, die durch die Zunahme der räumlichen Konzentration sozial benachteiligter Gruppen auffallen (Dangschat, 2000). Die Diskussionen um diese Quartiere sind von Extremen geprägt. Auf der einen Seite werden sie als „Migrantenquartiere“ oder „Parallelgesellschaften“ bezeichnet. Auf der anderen Seite sieht man sie auch als Ausgangspunkte von sozialem Kapital, Identitätsstiftung und Integration (Bergmann, 2013).
Der vorliegende Beitrag1 beschäftigt sich mit der sozialen Dynamik und den Vernetzungs- und Interaktionsstrukturen der Einwohner eines solchen „Problemquartiers“, dem Berliner Stadtbezirk Neukölln. Als konzeptioneller Rahmen der Untersuchung dient dabei das Open:Closed Systems-Modell von Sandra Wallman (2011), anhand dessen auf vier Ebenen die räumlichen und sozialen Bezüge des Bezirks untersucht werden.
Theoretischer Hintergrund
Berlin Neukölln ist ein Bezirk mit langer Historie und Migrationsgeschichte. Er entwickelte sich von einem kleinen Dorf zu einer industriell geprägten Arbeiterstadt, „verkam“ schließlich zu einem vernachlässigten Problembezirk und ist gegenwärtig erneut sozialen und urbanen Wandlungsprozessen unterworfen. Mit einem Migrationsanteil von mehr als 50 Prozent und zum Teil prekären sozialen Verhältnissen galt vor allem der Norden2 Neuköllns lange als Projektionsfläche für soziale Armut, Parallelgesellschaften und Gewalt. Innerhalb der letzten Jahre wurde der Ruf des Bezirks jedoch besser und in einzelnen Quartieren setzten Veränderungsprozesse ein (Kessinger, 2012). Der Imagewandel brachte neue Geschäfte und Szenetreffpunkte der Kreativbranche mit sich. Er zog Studenten, Künstler, Touristen und inzwischen auch zunehmend junge bildungsaffine Familien an. Durch die sozialen und urbanen Veränderungsprozesse, das neue Publikum, seine Schnelllebigkeit und die hohe Mieterfluktuation stieg jedoch nicht nur die Bevölkerungszahl Neuköllns rapide an, sondern mit ihr auch die Mieten. Haushalte mit geringem Einkommen haben es somit inzwischen zunehmend schwer, eine Wohnung zu finden (TOPOS Stadtforschung, 2011). Während die Problemdichte in den nördlichen Bezirksregionen zwar tendenziell abnimmt, scheint sie sich in den übrigen Bereichen zu verstärken. Die sozialen Problemlagen werden so nicht verringert, sondern nur verlagert und verstärken das räumliche Ungleichgewicht Neuköllns (Häußermann & Hausmann, 2011).
Mit Migration und Gentrifizierung wirken in Neukölln zwei mächtige Treiber des sozialen Wandels und sozialer Dynamik. Im Norden des Bezirks leben derzeit ca. 150.000 Menschen, sie stammen aus mehr als 145 Nationen3. Alteingesessene, Neuankömmlinge, Menschen mit unterschiedlichster Einwanderungsgeschichte und -dauer leben Tür an Tür. Die sozialwissenschaftliche Stadtforschung zeigt jedoch mit breiter Übereinstimmung, dass die stadtpolitisch vielbeschworene „soziale Durchmischung“ keinen Garant für tatsächliche Interaktion und Vernetzung zwischen verschiedenen (Status-)Gruppen darstellt (z.B. Butler & Robson, 2003; Häußermann, 2003). Räumliche Nähe bedeutet nicht gleichzeitig soziale Nähe. Verschiedene soziale Gruppen können in einem Bezirk direkt nebeneinander wohnen, ohne miteinander zu kommunizieren oder sich überhaupt gegenseitig bewusst wahrzunehmen (Häußermann, 2007). Lees (2008) folgend sind die Netzwerke in solchen Bezirken häufig sozial entmischt, insbesondere hinsichtlich des sozioökonomischen Status und der Ethnizität. Gerade eine durch Gentrifizierung induzierte soziale Durchmischung kann die Lebensqualität der bisherigen Einwohner deutlich vermindern (Atkinson, 2000; Smith, 1996). Im schlimmsten Fall führt sie zu Abschottung und Feindseligkeit zwischen den verschiedenen Gruppen (Uitermark, Duyvendank, & Kleinhans, 2007).
Andererseits muss eine verstärkte soziale Distanz durch mehr soziale Durchmischung nicht notwendigerweise mit schwächeren sozialen Netzwerken einhergehen (Musterd, 2008). Auch in Situationen kultureller und sozialer Differenz kann gesellschaftliche Solidarität entstehen (Schiffauer, 2011). Die Auswirkungen sozialer Durchmischung scheinen entsprechend der Verschiedenheit von Städten, Stadtteilen und ihren Anwohnern hochgradig kontextabhängig zu sein. Von einer Automatik hinsichtlich integrativen oder segregierenden Verhaltens kann deswegen nicht ausgegangen werden (Häußermann, 2007).
Um die Dynamik sozialer Durchmischung in Stadtbezirken und die Netzwerkstrukturen zwischen ihren Einwohnern zu ergründen, bedarf es folglich einerseits einer ganzheitlichen Betrachtung des Bezirks und andererseits eines Eintauchens in die Alltagspraxis seiner Einwohner. Das Open:Closed Systems-Modell von Sandra Wallman (2011) gibt einem solchen Forschungsvorgehen einen Rahmen. Dem Modell liegt die Annahme zugrunde, dass lokale Systeme eine Funktion aus den Beziehungen zwischen den beteiligten Menschen, dem Ort an sich, den gegebenen Möglichkeiten der Topographie und der Infrastruktur sowie der Art und Weise, wie Individuen diese nutzen, sind. Anhand der Untersuchung von Städten oder Stadtteilen auf vier abnehmend materiellen Ebenen – physisch/architektonisch, soziologisch, netzwerkbezogen, narrativ – lässt sich auf die Offenheit oder Geschlossenheit ihres urbanen Systems schließen.
Wallman unterscheidet dabei zwischen dem Boundary Effect und dem Local Network Effect, welche sich aus der Konfiguration der Lebensbereiche Wohnen, Arbeit und Freizeit der Anwohner ergeben. In eher offenen Stadtteilen überlappen diese drei Bereiche nur geringfügig, was es Hinzuziehenden erleichtert, Teil des lokalen Systems zu werden. Der Boundary Effect ist hier nur schwach, das System flexibel. Liegt ein starker Boundary Effect vor, agieren die Anwohner dagegen in eng verbundenen und über die drei Domänen hinweg kontrollierten Gruppen. Der Local Network Effect beschreibt diese Bindungsmuster auf dem Kommunikations- und Interaktionslevel. In offenen Systemen befindet sich im Kern ein dichtes Netzwerk mit stark ausgeprägter lokaler Identität. Über diesen Kern hinaus haben die Einwohner aber viele weit verzweigte Verbindungen, über welche sie Ressourcen akkumulieren. Liegt ein starker Local Network Effect vor, ist die Wahrscheinlichkeit von Kommunikation und Interaktion außerhalb des Systems dagegen reduziert.
Für das hier beschriebene Forschungsprojekt wurde Neukölln auf allen vier Ebenen differenziert untersucht. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich in seiner Beschreibung und Darstellung jedoch weitestgehend auf die Netzwerkebene, wenngleich deren Erörterung und Bewertung stets im Kontext des Gesamtprojekts stattfindet.
Methodik
Um die Offenheit und Geschlossenheit Neuköllns zu ergründen sowie insbesondere die Interaktions- und Vernetzungsmuster seiner Einwohner zu untersuchen, fand im Frühjahr 2013 eine vierwöchige Feldphase im Bezirk statt. Den methodischen Schwerpunkt bildete dabei eine qualitative Netzwerkanalyse mit Hilfe problemzentrierter Interviews. Die Auswahl der Interviewpartner folgte der typologischen Systematisierung des Konzepts Living Gentrification4 (Koch, Lutz, Stumpf, & Tijerina Garcia, 2013), welches bei der Betrachtung von Gentrifizierungsprozessen explizit die lebensweltliche Situation der Beteiligten bzw. Betroffenen und ihre subjektiven Deutungen im Aufwertungsprozess in den Fokus stellt. Insgesamt fanden Interviews mit acht5 in Neukölln lebenden Personen statt. Das Interviewmaterial wurde aufgezeichnet, transkribiert und kategorisiert6. Zudem wurde im Rahmen der ganzheitlichen Betrachtung des Bezirks anhand des Open:Closed Systems-Modells eine ausführliche Betrachtung vorhandenen Literatur- und statistischen Datenmaterials vorgenommen sowie ein Feldtagebuch geführt.
Ergebnisse
Insgesamt weist die Analyse des Datenmaterials auf die Existenz eines breiten und mittelmäßig eng verwobenen, relativ heterogenen Gesamtnetzwerks mit unterschiedlich starken und schwachen Verbindungen in Neukölln hin. In dieses Netzwerk sind Anwohner verschiedenster Hintergründe und mit unterschiedlichem sozialen Status eingebunden. Sie kommunizieren im nachbarschaftlichen Kontext, in Alltags- und zum Teil in Arbeitssituationen und vor allem in ihrer Freizeit und über ehrenamtliches Engagement. Ihre gemeinsame Basis ist die Verbundenheit und Identifikation mit dem Bezirk als Heimat – zum Teil temporär, zum Teil lebenslang. Dazu besitzen sie ein hohes Maß an Toleranz und Offenheit und die Überzeugung, jeden Einwohner mit seinen individuellen Charakteristika, Weltanschauungen und Besonderheiten in einem relativ breit angelegten Rahmen grundsätzlich zu akzeptieren. Auch scheinen die Menschen grundsätzlich offen und flexibel gegenüber Neuankömmlingen zu sein, welche sich bereitwillig in das Netzwerk integrieren möchten und es durch weitere Verbindungen bereichern.
Innerhalb des Gesamtnetzes sind die Beziehungsmuster vieler Anwohner in engeren und in sich homogen und multiplex angelegten Netzwerken verbunden, welche unterschiedlich gut miteinander verknüpft sind. Dabei haben Schlüsselfiguren, die über besonders viele Verbindungen verfügen und damit innerhalb des Bezirks und darüber hinaus soziales Kapital akkumulieren, eine herausragende Position. Nicht jedes kleine multiplexe Netzwerk verfügt jedoch über solche Schlüsselfiguren. Manche existieren als abgeschlossene homogene Einheiten für sich und haben kaum Kontakte nach außen. Ihre Mitglieder sind so dicht in ihre kohäsive Subgruppe verknüpft, dass die soziale Umwelt des Bezirks für sie einen Raum der Exklusion darstellt. Zwar ist die Verantwortlichkeit innerhalb des Zusammenschlusses hoch und sichert die sozialökonomischen Grundbedürfnisse seiner Mitglieder ab – nicht selten sind diese jedoch sozial depriviert, verfügen über äußerst begrenzte soziale und räumliche Mobilität und stehen am Rande der Gesellschaft.
Prägten diese homogenen und zum Teil kriminellen Kleinstnetzwerke noch den „Problembezirk“ Neukölln, so sind sie im „Trendkiez“ Neukölln zunehmend von Verdrängung bedroht. Der entscheidende Grund hierfür ist die Entstehung eines neuen Netzwerkes in Neukölln, welches sich sowohl zu dem eigentlichen Gesamtnetzwerk als auch zu den kohäsiven Subgruppen parallel entwickelt. Dieses Netzwerk hat weder nach innen noch nach außen starke Bindungen, dennoch ist es in sich relativ homogen. Es besteht aus denjenigen Menschen, die den Bezirk nur als unverbindliche Durchgangsstation benutzen und kein Interesse an den Gemeinschaftsstrukturen Neuköllns haben. Sie werden von der neuen Trendatmosphäre des Kiezes angezogen, leben diese dort aus, verstärken sie und verschwinden nach einiger Zeit wieder. Die Mitglieder dieses Netzwerkes sind zumeist junge Menschen aus aller Welt, welche über ein hohes Maß an kulturellem Kapital und Mobilität verfügen. Sie sind unabhängig und auf dauerhafte Bezirksbindungen nicht angewiesen.
Kaum mehr die kohäsiven Subgruppen, sondern dieses diffuse Netzwerk scheinen nun erodierend auf das Gesamtnetzwerk Neukölln zu wirken. Durch die wachsende Nachfrage an Wohn- und Lebensraum sowie den ständig wechselnden Zu- und Wegzug steigen die Mietpreise und Lebenshaltungskosten an.7 Es stellt daher für die finanziell eher unterdurchschnittlich ausgestatteten Neuköllner eine ökonomische Bedrohung dar, da die Wertigkeit ihrer Kapitalausstattung in Relation zu dieser neuen Einwohner- und Besuchergruppe verringert wird.
In der Außendarstellung Neuköllns konkurriert der Problemkiez mit dem Trendbezirk.8 Dabei bleibt vollkommen unbemerkt, dass sich innerhalb des Gesamtnetzwerkes – angestoßen durch die sozialen Wandlungsprozesse – eine Gruppe emanzipiert, welche das Potential besitzt, den Bezirk in sich zu stabilisieren und seine Resilienzfähigkeit zu verstärken. Diese Menschen sind einerseits eng in ihren kohäsiven Subgruppen verbunden und beginnen aber andererseits auch, lockere Verbindungen darüber hinaus einzugehen. Auf den ersten Blick unterscheiden sie sich in der relativ geringen Ausstattung ihres ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals kaum von vielen anderen Neuköllnern. Tatsächlich verfügen sie jedoch über eine besondere Art „urbaner Kompetenz“ und sind in der Lage, die gegebenen Bedingungen besser zu nutzen als andere und sich relativ zu ihren Fähigkeiten und Kapazitäten sozialräumliches Kapital anzueignen. Der Anstoß für die Entfaltung dieser urbanen Kompetenz liegt zum Teil in verschiedenen sozialen Projekten sowie vor allem in der verstärkten Anwesenheit anderer gesellschaftlicher Realitäten, die beispielsweise die hinzuziehenden Studenten in den Bezirk tragen. Mit Mut, Neugierde, Offenheit und Toleranz beginnen diese Personen, lockere Verbindungen zum Gesamtnetz aufzubauen, ohne sich dabei aus ihrem engen sozialen Netz zu lösen. Sie werden zu Schlüsselfiguren und sozialen Brückenbauern, indem sie beginnen, die sozialen Kontexte des Gesamtnetzes mit dem der verschlossenen Subgruppen zu verknüpfen. Diese sozialen Brückenbauer befinden sich damit in der Position, das Gesamtnetzwerk Neuköllns zu verdichten und es gegen die Erosion und Fragmentierung durch das neue „Parallelnetz“ zu verstärken. Was ihnen jedoch nicht zu Teil wird, ist Erwähnung bzw. Wahrnehmung ihres Beitrags in politischen Kontexten oder der Mediendarstellung und damit eine Anerkennung und Förderung ihrer besonderen Fähigkeiten.
Interpretation und Ausblick
In Neukölln besteht das Potential eines guten und breiten sozialen Netzwerkes trotz, oder besser gerade wegen, seiner heterogenen Nachbarschaftszusammensetzung. Die Ergebnisse der Studie decken sich entsprechend mit den Befunden von Musterd (2008), welcher zu dem Schluss kam, dass soziale Distanz durch soziale Durchmischung nicht notwendigerweise zu erodierenden Netzwerkstrukturen führen muss. Eine durch Gentrifizierung induzierte soziale Durchmischung kann ohne Zweifel die Lebensqualität der Einwohner vermindern und schlimmstenfalls zu Verdrängung führen (Atkinson, 2002; Smith, 1996). Jedoch scheint der in Neukölln stattfindende soziale Wandel auch Chancen in sich zu bergen, die sozialräumliche Mobilität seiner Anwohner zu erhöhen und damit einen Beitrag zum Gesamtnetzwerk zu leisten.
Gleichzeitig besteht durch das Eindringen des neuen „Parallelnetzes“ auch eine Gefahr und Tendenz zur Verschließung des Bezirks gegenüber Neuankömmlingen. Wie von Schiffauer (2011) konstatiert, zeigt die Entstehung dieses Schutzmechanismus einerseits, dass gesellschaftliche Solidarität auch in Situationen kultureller und sozialer Differenz entstehen und behauptet werden kann. Die tatsächlichen Auswirkungen werden sich andererseits in Zukunft noch zeigen müssen. Im schlimmsten Fall führt die beginnende Verschließung zu einer Verminderung der Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Lebensstilen, welche heute für Neukölln so charakteristisch ist und den Bezirk auszeichnet. Im besten Fall führt der Schutzmechanismus jedoch zu einer inneren Stärkung Neuköllns, zu einer Ermächtigung der „sozialen Brückenbauer“, welche die innere Vernetzung des Bezirks noch verbessern und seine Resilienz verfestigen können, um ihn gegen die Gefahren einer zunehmenden Gentrifizierung und Popularität Neuköllns als Trendbezirk zu schützen.
Die Autorin: Teresa Stumpf ist Doktorandin am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie an der Universität Hamburg. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich der Stadt-, Raum- und Urbanitätsforschung, in Gentrifizierungsdynamiken, sozialen Wandlungsprozessen und Netzwerkstrukturen in urbanen Kontexten sowie den Themen soziale, räumliche und digitale Mobilität.
Literatur
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Bergmann, M. (2013). Die Sonnenallee in Berlin-Neukölln als hybrider Raum migrantischer Ökonomien. In O. Schnur, P. Zakrzewski & M. Drilling (Hrsg.), Migrationsort Quartier (S. 151-165). Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Bommes, M., & Tacke, V. (2003). Das Allgemeine und das Besondere des Netzwerkes. In B. Hollstein & F. Straus (Hrsg.), Qualitative Netzwerkanalyse: Konzepte, Methoden, Anwendungen (S. 37-62). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Bourdieu, P. (2006). Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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1 Der vorliegende Beitrag ist aus einer in sich abgeschlossenen Forschungsarbeit entstanden. Diese versteht sich ihrerseits als Teil eines mehrjährigen, kollaborativen Forschungsprojektes in und um Berlin Neukölln, welches zwischen 2011 und 2013 unter der Leitung von Prof. Dr. Gertraud Koch durchgeführt wurde.
2 Nord-Neukölln ist in dieser Arbeit festgelegt als alle Gebiete des Gesamtbezirks Neuköllns innerhalb des S-Bahnrings. Ist im Folgenden von dem Bezirk Neukölln die Rede, so bezieht sich dies stets auf diesen abgegrenz-ten Bereich.
3 Amt für Statistik Berlin Brandenburg, Stand: 31.12.2013.
4 Die vier Typologien des Konzepts ergeben sich aus den Mobilitäts- und Residenzmustern der Anwohner Neuköllns: People who leave/are about to leave, People who stay, People who come and go, People who come to stay.
5 Diese Anzahl an Interviewpartnern erklärt sich aus den begrenzten zeitlichen und finanziellen Ressourcen, welche im Rahmen der Studie zur Verfügung standen und entspricht nicht dem Prinzip der Repräsentativität. Die Auswahl erfolgte jedoch systematisch anhand des Konzepts von living gentrification (Koch, Lutz, Stumpf, & Tijerina Garcia, 2013) – entsprechend unterschieden sich die Personen hinsichtlich ihrer Wohndauer, ihres Alters, ihres sozioökonomischen und kulturellen Hintergrunds, ihrer Mobilitätsmuster und in der Ausprägung ihres sozialen Kapitals voneinander. Ziel dieser Art von qualitativer Vorgehensweise ist es, das Welt- und Selbstverständnis von Individuen zu erfassen, aus ihrem Kontext heraus zu verstehen und die Komplexität, die ihren Alltag konstituiert, sichtbar zu machen (Schiffauer, 2011).
6 Die Kategorisierung erfolgte mit Hilfe einer an Mayring (2010) orientierten qualitativen Inhaltsanalyse. Als theoretische Grundlage der Analyse diente im Kontext der Wallman’schen (2011) Faktoren Wohnen, Arbeit und Freizeit das Systematisierungsschema für soziale Netzwerke nach Pappi (1987), welches die Beziehungen in Netzwerken zwischen potentiellen Interaktionen, tatsächlichen Interaktionen sowie dauerhaften sozialen Beziehungen unterscheidet.
7 Für eine genaue Erläuterung dieser Form von „Umzugsketten-Gentrification“ und ihrer Auswirkungen siehe z.B. Holm (2011).
8 Für eine intensive Auseinandersetzung mit der Darstellung Neuköllns in verschiedenen Diskursen siehe Lutz (2013).