Wandel des Lebenslaufs. Von der „Normalbiographie“ zur De-Standardisierung
Artikel vom 08.09.2004
Nachdem sich in den 50er und 60er Jahren die dreiteilige Struktur der Normalbiographie herausgebildet hatte, gibt es heute vielfältige Anzeichen einer De-Standardisierung und damit eines Wandels in der Struktur unserer Lebensläufe. Die „normale“ Gliederung in die drei Lebensabschnitte Kindheit, Erwachsenalter und Alter weist zunehmend Variationen auf.
Historische Entwicklung von Lebensverläufen
„Vorindustrielle Lebensverläufe waren dadurch gekennzeichnet, dass das Einzelleben für weite Teile der Bevölkerung eingebettet war in das an die Scholle gebundene Familienschicksal. Der Schulbesuch reduzierte sich auf wenige Jahre und wenige Stunden in den Jahreszeiten, in denen die Kinder nicht zur Mitarbeit gebraucht wurden. Kinder wurden sehr früh, mit zehn oder zwölf Jahren, zur Arbeit herangezogen. Berufliche Fertigkeiten wurden in der eigenen Familie oder in Dienstverhältnissen in anderen Familien erworben. Formale Eheschließungen - soweit sie überhaupt stattfanden - waren auf Grund der strengen Eheregelungen erst möglich, wenn die Aussteuer angesammelt, ein Hausstand erworben, Land ererbt oder gepachtet und damit eine ausreichende materielle Lebensgrundlage geschaffen war. Das Leben war weniger ein planbarer Lebensweg als ein unvorhersagbares Schicksal, das durch Krankheiten, Tod, Missernten und ökonomische Schuldnerschaft bzw. Abhängigkeit gekennzeichnet war.
Dementsprechend variabel war das Alter, in dem einzelne Lebensereignisse und -Übergänge erlebt wurden. Groß waren in vorindustriellen Zeiten auch die Anteile der Bevölkerung, die ein marginales Leben fristen mussten, also z.B. weder über Besitz verfügten noch eine Familie gründen konnten oder durften.
In der ersten Phase der ‚industriellen Gesellschaft‘ - also in Deutschland etwa grob die Phase von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Weltwirtschaftskrise - lässt sich der aufkommende Lebensverlaufstypus relativ gut als ‚cycle of poverty‘ beschreiben, in dem eine zunehmende Anzahl von Handwerkern und Industriearbeitern in ihren Einkommenserzielungschancen vor allem von der Entwicklung ihrer Körperkraft und Gesundheit abhängig war und nur in den Hochzeiten physischer Leistungsfähigkeit über das Armutsniveau hinauslangte. Allmählich setzte sich die allgemeine Schulpflicht von 7 bis 8 Jahren auch faktisch durch, und unter den Männern stieg der Anteil mit einer zusätzlichen Lehrlingsausbildung rasch an. Ganz graduell wuchs auch die Beteiligung an weiterführenden Schulbildungen, vor allem in den Realschulen.
Die Lebensarbeitszeit begann mit ca. 14 Jahren und endete für Männer mit dem gesetzlichen Ruhestandsalter von zunächst 70, später 65 Jahren bzw. mit gesundheitlich bedingter Invalidität. Die Regel war der Lebensberuf und die langjährige Bindung an einen Betrieb, aber ebenso verbreitet war die Erfahrung von Arbeitslosigkeit (bzw. im Nationalsozialismus von Arbeitsdienst und Militärzeit). Obgleich die meisten Heiratsverbote gefallen waren, wurde die Eheschließung immer noch aus ökonomischen Gründen verzögert. Frauen waren bis zur Eheschließung erwerbstätig, und die Lebensereignisse Auszug aus dem elterlichen Haushalt, Hochzeit und die Geburt des ersten Kindes lagen zeitlich eng beisammen.
Die historische Entwicklung von Lebensverlaufsmustern in der Nachkriegszeit wird zumeist durch zwei zeitlich aufeinanderfolgende Perioden konstruiert: Eine Phase der Institutionalisierung und Standardisierung, die etwa in die Zeit bis Ende der 60er bzw. den Beginn der 70er Jahre gelegt wird, und eine danach anschließende Phase der De- Institutionalisierung, Pluralisierung und Entstandardisierung, von der angenommen wird, dass die - sich verschärfend - bis in die Gegenwart anhält. (...)
Die unmittelbare Nachkriegszeit war gekennzeichnet durch Vertreibung, Flucht und Wanderungen, eine zeitweilige Ausweitung der Beschäftigung in der Landwirtschaft, Arbeitslosigkeit, eine Knappheit an Lehrlingsausbildungsplätzen, hohe Scheidungsraten, Kriegswitwen, Kriegswaisen und Onkelehen, aufgeschobene Familiengründungen, nachgeholte Ausbildungen und zum Teil späte Eintritte ins Erwerbsleben. Zwar haben die Männer derjenigen Geburtskohorten, die schon vor dem Krieg gearbeitet haben, trotz Militär und Gefangenschaftszeiten relativ schnell wieder Fuß gefasst, lebenslang beeinträchtigt waren aber die um 1930 Geborenen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit Berufsausbildung und Berufseintritt zu bewerkstelligen hatten. Die Männer dieser und z.T. der nachfolgenden Jahrgänge machten zu einem sehr hohen Anteil gewerbliche Lehren, und viele davon schafften einen vor allem innerbetrieblichen Aufstieg.
Will man die Lebensverläufe in der unmittelbaren Nachkriegszeit insgesamt charakterisieren, so ist die Formel ,Unordnung ohne Normveränderung‘ vermutlich angemessen. Viele Lebensläufe liefen nicht in traditionellen Bahnen (Berufsnot der Jugend, zerrüttete Familien, erwerbstätige Kriegswitwen usw.). Dies führte aber zunächst nicht zu dauerhaft veränderten Verlaufsmustern, sondern - als die äußeren Zustände dies zuließen - zu einer Rückkehr zur Normalität.
Mit den institutionellen Reformen und der Expansion des Bildungswesens setzte sich ein differenziertes Muster von Bildungsverläufen historisch erstmalig - auch für Frauen - durch:
Kindergarten und Vorschule, Grundschule und für eine Mehrheit weiterführende Schulen bis zur Mittleren Reife oder zum Abitur, daran anschließend eine qualifizierte Berufsausbildung oder ein Hochschulstudium. Der Eintritt in den Beruf erfolgt rasch und wird durch das Ausbildungsniveau und die berufliche Ausbildungsrichtung bestimmt. Die Berufslaufbahn ist - für Männer - geprägt durch Vollbeschäftigung, unbefristete Arbeitsverträge, berufliche Aufstiege und mit dem Alter steigende Realeinkommen.
Frauen unterbrechen ihre zunehmend qualifizierte Erwerbstätigkeit nicht schon bei der Heirat, sondern erst bei der Geburt des ersten Kindes und steigen nach der Kinderphase nur zu einem kleineren Teil wieder in eine Erwerbstätigkeit ein. Der Wohlfahrtsstaat fördert weiterführende Ausbildung durch den Wegfall von Schulgeld und Studiengebühren sowie durch Ausbildungsbeihilfen (Honnefer Modell, BAföG). Er sichert den Verdienst bei Krankheit (Lohnfortzahlung), erweitert die Mutterschaftszeiten und erlaubt eine Ausdehnung dieser Phase durch den Erziehungsurlaub und das Erziehungsgeld.
Die an die Nettoarbeitseinkommensentwicklung angepasste dynamische, flexible Altersrente standardisiert den Übergang in den Ruhestand (für Frauen mit 60 bzw. 63 Jahren, für Männer mit 63 bzw. 65 Jahren) und sichert ein im Vergleich zum letzten Verdienst relativ hohes Einkommensniveau im Alter. Der sektorale Strukturwandel und höhere berufliche Qualifikationsanforderungen eröffnen immer bessere Berufseinstiegs- und -aufstiegschancen. Mehr Menschen arbeiten im öffentlichen Dienst, und dort wurden - insbesondere für Frauen - in den 70er Jahren viele qualifizierte Stellen geschaffen und - zum Teil durch Veränderung des Stellenkegels - erhebliche Laufbahnaufstiege eröffnet. In vielen Regelungen (Kündigungsschutz, altersbezogene Einkommenssteigerungen) nähert sich der private Sektor (vor allem in den Großbetrieben) dem öffentlichen Dienst an. Das Alter bei der Heirat und bei der Geburt des ersten Kindes sinkt, und die Kinderzahlen steigen. Die Scheidungsziffern sind niedrig im Vergleich zur Nachkriegszeit und im internationalen Vergleich und erreichen um 1960 ihr niedrigstes Niveau. Haus- oder Wohnungsbesitz wird für eine Mehrheit zu einem wichtigen und erreichbaren Lebensziel. Insgesamt werden Lebensverläufe in dieser Phase stetiger, in ihrer zeitlichen Gliederung differenzierter und im Hinblick auf die Ausbreitung und Altersstreuung bei Übergangsereignissen homogener und standardisierter.“
(Mayer, Karl Ulrich 1998: Lebensverlauf. In Schäfers, Bernhard / Zapf, Wolfgang, Hrsg.: Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen: Leske+Budrich, S. 441)
Struktur des normalen Lebenslaufs
„In den meisten westlichen Gesellschaften war bis in die 1960er Jahre hinein die Vorstellung von einem ‚normalen Lebensablauf‘ aus drei sequentiellen Abschnitten typisch:
- In der Kleinkindphase bis etwa zum sechsten Lebensjahr lebt ein Kind im Schonraum der Familie und kann die wesentlichen Handlungskompetenzen und persönlichen Fertigkeiten ausbilden. In der Schulzeit, die sich anschließt, werden intellektuelle und fachliche Fertigkeiten trainiert, die durch den Schulabschluss symbolisch dokumentiert werden. Hiermit ist zugleich die Jugendzeit beendet, der Übergang in den Erwachsenenstatus erfolgt.
- Der Erwachsenenstatus wird durch die Aufnahme einer Berufsausbildung und anschließend einer Erwerbstätigkeit realisiert. Die Ablösung von der Herkunftsfamilie wird mit dem Übergang in den Erwachsenen und Erwerbsstatus vollzogen, die Gründung einer eigenen Familie mit Kindern ist die Regel. Der Erwachsenenstatus erstreckt sich über eine lange aktive Lebensspanne bis zur Pensionierung. Während dieser Phase verlassen die erwachsen gewordenen Kinder das Elternhaus und Etablieren eine eigene Nachwuchsfamilie.
- Mit der Pensionierung wird kulturell und rechtlich der Austritt aus dem Erwerbsleben und der Übergang in die Seniorenphase des Lebenslaufes eingeleitet, die sich bis zum Tode erstreckt.
Ein solcher ‚Normal-Lebenslauf‘ ist bis heute das Orientierungsmuster der Gesellschaftspolitik und wird durch eine Reihe von gesellschaftlichen Institutionen und politisch-rechtlichen Regelungen formal abgestützt. So wird für die Kindheitsphase die häusliche Erziehung durch die Mutter als ‚Hausfrau‘ als Standard angesehen, entsprechende finanzielle und rechtliche Regelungen (Steuervorteile, soziale Anerkennung des Status Hausfrau) stabilisieren diese Phase. Die Erziehungseinrichtungen Kindergarten und Hort und die Bildungseinrichtungen Schule und später Hochschule bilden den formalen Rahmen für die Jugendphase. Anschließend ist der Arbeitsmarkt die institutionelle Basis für die Erwachsenenphase der Männer, die nicht in den Privathaushalten tätig sind. Sozialstaatliche Einrichtungen und versicherungsrechtliche Konstruktionen stützen und sichern das Pensionsalter mit einer kalkulierbaren Pension. Für Krisenfälle im Leben sind umfassende Kranken-, Arbeitslosen-, und Unfall- beziehungsweise Behindertenversicherungen in Kraft.
Durch diese Aufeinanderfolge von gesellschaftlichen Regelungen wird für jedes Gesellschaftsmitglied ein klarer sozialer Erwartungsrahmen gespannt. Die Gesellschaft unterstützt in diesem Sinne die soziale Integration in jeder Lebensphase und erleichtert es dem Individuum, die biographische Lebensführung in jedem einzelnen Lebensabschnitt aufzubauen. Biographische Erwartungen und kulturell-institutionelle Vorgaben stehen in einem harmonischen Verhältnis zueinander. Spannungen ergeben sich nur dann, wenn die gesellschaftlich angebotene Abfolge von Phasen im Lebenslauf und das darin zum Ausdruck kommende Angebot einer ‚Lebenskarierre‘ durchbrochen werden, etwa durch Krieg und Arbeitslosigkeit oder- auf der individuellen Ebene - schwere Krankheiten über viele Jahre hinweg, lang anhaltende psychische Krisen oder soziale Abweichungen und Kriminalität.“
(Hurrelmann, Klaus 2003: Der entstrukturierte Lebenslauf. Die Auswirkungen der Expansion der Jugendphase. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 23.Jg, H. 2, S. 117f.)
Aspekte der Auflösung
„Die frühere Standardisierung des Lebensverlaufs scheint gängigen Auffassungen zufolge in drei wesentlichen Aspekten beeinträchtigt. Erstens sei die Dreiteilung des Lebensverlaufs in klar voneinander getrennten Phasen der Ausbildung, der Erwerbstätigkeit und des Ruhestandes ‚flexibilisiert‘ durch häufigere Wechsel zwischen Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit oder Nicht-Erwerbstätigkeit, vorgezogene Freizeitphasen im mittleren Lebensalter und häufigere zweite berufliche Karrieren. Insbesondere die Übergangsphasen vom Jugendlichen zum Erwachsenen, zwischen Ausbildung und Beruf einerseits und zwischen Arbeit und Ruhestand andererseits würden differenzierter, ausgedehnter und prekärer.
Zweitens verfolgten Frauen teils freiwillig, teils unfreiwillig eigenständige Lebensentwürfe. Die frühere innerfamiliäre Arbeitsteilung der Erwerbszentriertheit von Männern und Familienzentriertheit von Frauen mit bestenfalls komplementärer Erwerbstätigkeit verliere als Norm und Realität an Gewicht und Verbreitung.
Drittens seien die Verläufe innerhalb der Lebensbereiche von Arbeit und Familie weniger altersnormiert, weniger ziel- und aufwärtsgerichtet und weniger einheitlich.
Wodurch wird der vermutete zunehmende Grad an De-Institutionalisierung und De-Standardisierung von Lebensverläufen erklärt? Wiederum sind die theoretischen Antworten nicht nur vielfältig, sondern auch widersprüchlich: durch gestiegene Einkommen, die größere Handlungsoptionen eröffnen; durch Wertewandel und veränderte alternative Lebensentwürfe; durch die Zwänge eines hypostasierten Individualisierungsprozesses; durch die unbeabsichtigten Folgen der Bildungsexpansion; durch rascheren und radikalen technologisch-beruflichen Strukturwandel; durch die Folgen der Frauenemanzipation sowie durch demographische Diskontinuitäten in der absoluten Anzahl von Geburten.
Die Phasenkonstruktion von zunächst zunehmend institutionalisierten und dann zunehmend pluralisierten Lebensverlaufmustern fängt nicht nur viele Alltagserfahrungen und einzelne Befunde der amtlichen Sozialstatistik und der empirischen Sozialforschung ein, sondern spiegelt vor allem auch das Bewusstsein zweier großer gesellschaftlicher Brüche wider: die Einzigartigkeit der Wirtschaftswunderphase im Vergleich zu den Erfahrungen der elterlichen Vorgenerationen und das Ende dieser Wohlstandsperiode. Gleichwohl bestätigen die vorliegenden systematischen empirischen Befunde diese Konstruktion von zwei Perioden und ihrem Wandel nur partiell.“
(Mayer, Karl Ulrich 1998: Lebensverlauf. In Schäfers, Bernhard / Zapf, Wolfgang, Hrsg.: Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen: Leske+Budrich, S. 444f.)
Entdifferenzierung und Ent-Institutionalisierung
„Ich komme nun zum theoretischen Gegenmodell mit seinen Thesen über eine Entdifferenzierung und Ent-Institutionalisierung des Lebensverlaufs. Die obige Skizze eines zunehmend rationalisierten Lebensverlaufs wird nämlich als Gegenwartsbeschreibung zunehmend in Frage gestellt. Es wird vor allem bezweifelt, ob diese die Tendenzen einer zukünftigen Gesellschaft noch treffen. Erkennbar seien bereits an vielen Stellen die Konturen einer post-industriellen Lebensweise. Häufiger werden die 70er oder frühen 80er Jahre als Zeiten eines Trendbruchs gesehen.
Nach diesem alternativen Modell lösen sich die hergebrachten starren Muster der Organisation der Lebenszeit zusehends auf. Die Übergänge zwischen Ausbildung und Arbeit, aber auch zwischen Erwerbstätigkeit und Erwerbsunterbrechungen werden fließend und umkehrbar. Viele kehren aus einer ersten Erwerbstätigkeit in eine Ausbildung zurück. Nicht nur mehr Frauen, sondern auch Männer unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit oder wechseln ihre Berufe. Die Karriereorientierung an einem Beruf in immer demselben Betrieb verliert an Gewicht. Phasen des stärkeren Engagements für Kinder - bis zur zeitweiligen Reduzierung und Unterbrechung der beruflichen Tätigkeit - werden auch für Männer nicht nur normativ eher akzeptabel, sondern es wird damit auch zunehmend experimentiert. Das größere Erwerbsengagement der Frauen erzwingt eine größere Flexibilität der Organisation von Lebens- und Arbeitszeit nicht nur der Frauen, sondern auch der Männer.
Neben Arbeit und Familie tritt ferner eine Freizeitsphäre, die durch geringere Tages-, Wochen- und Jahresarbeitszeiten ermöglicht wird und die zum Teil bereits die zeitliche Gliederung von Lebensverläufen tangiert. Neben der Arbeit und Familie können sich noch andere Orientierungen und Fähigkeiten entwickeln:
„Die Arbeitsgesellschaft ist zwar nicht ,passé‘, doch wird die Loyalität gegenüber der Arbeitsrolle durch Ansprüche, Vorbehalte und Bedingungen eingeschränkt. Eine ,Gleichgewichtsethik‘, die die verschiedenen Lebensbereiche vollwertig zu ihrem Recht kommen lassen will, zeichnet sich bei vielen, insbesondere jüngeren Menschen ab.“ (Bielenski/Strümpel 1988:4)
Was ich bisher dargestellt habe, ist die positive Variante der De-Institutionalisierungsthese: Lebensverläufe werden vielfältiger, weil autonomere und kompetentere Frauen und Männer sich den alten äußeren Zwängen nicht mehr unterwerfen wollen und ihre eigenen Lebensentwürfe verfolgen. Es gibt allerdings auch eine sehr viel negativere Variante. Danach ist die sogenannte ‚Erosion der Normalbiographie‘ eine Folge der Auflösung der langjährigen sozialen und wirtschaftlichen Nachkriegsordnung. In dieser Sicht ist der Umbruch in der Organisation der Lebenszeit in den allermeisten Fällen nicht freiwillig, sondern erzwungen und mit vielen Nachteilen verbunden.
Die Rede ist von einem Modernisierungsschub, der zu einer höheren Selektivität, höherer Arbeitslosigkeit und marginaler Beschäftigung beim Zugang zu und Abgang von einer betrieblichen Ausbildung geführt habe, zu Ende des ‚Lebensberufes‘ und des ‚Normalarbeitsverhältnisses‘, zur Ausdehnung der Problemgruppen auf dem Arbeitsmarkt, zu einer Auflösung der objektiven und subjektiven Verknüpfung von Ausbildungsabschlüssen und Berufswegen, zu einer Zunahme diskontinuierlicher, provisorischer und marginaler Ausbildungs- und Berufsgänge.
Meist werden Argumente für eine De-Institutionalisierung des Lebensverlaufs jedoch mit Hinweisen auf den Wandel der Familie zu belegen versucht, und zwar sowohl mit optimistischen als auch mit pessimistischen Vorzeichen.
Nicht nur das ‚Ende der Familie‘ wird eingeläutet, sondern es wird auch das Heraufziehen einer in ich-zentrierte Individuen atomisierten Gesellschaft beschworen. Familienformen pluralisierten sich und der Familienzyklus werde nur noch von Teilen und in einer sehr viel weniger standardisierten Weise durchlaufen.
Dieser reale oder vermeintliche Wandel in der Struktur von Lebensverläufen in Familie und Beruf wird unterschiedlich und widersprüchlich als ‚Wechsel der Vergesellschaftungsprogramm‘ (das heißt, als Wechsel der Institutionalisierungsform), als ‚Erosion der Normalbiographie‘ (das heißt, als Abnahme des Institutionalisierungsgrades) oder als Wechsel der Regelungsinstanz von äußeren Institutionen hin zum einzelnen Individuum (das heißt, als ‚Individualisierung‘) interpretiert.
Auch die Ursachen des Wandels werden ganz unterschiedlich bestimmt: vom Wertewandel und Kulturwandel, der Bildungsexpansion, der Emanzipation von Individuen bei immer noch sperriger Arbeitswelt bis zum Zusammenbruch der alten, auf tayloristische Massenproduktion abgestellten Arbeitsorganisation.“
(Mayer, Karl Ulrich 1995: Gesellschaftlicher Wandel, Kohortenungleichheit und Lebensverläufe. In: Berger, Peter A., Hg.: Sozialstruktur und Lebenslauf, Reihe Sozialstrukturanalyse 5, Opladen: Leske+Budrich, S. 30f.)
Literatur und Links
Links zum Thema Lebenslauf
Die Sektion Alter(n) und Gesellschaft der Deutschen Gesellschaft für Soziologie bietet Veranstaltungskalender, Archiv und eine Leseliste.
Die Forschungsgruppe Altern und Lebenslauf (FALL) bietet eine Liste von Veröffentlichungen, sowie aktuelle Forschungsberichte.
Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin stellt auf seinen Seiten die Darstellung der Forschungsarbeiten und Projekte, u.a. der Lebensverlaufsstudien zur Verfügung.
Netzwerk Alternsforschung, 2006 in der Nachfolge des Deutschen Zentrums für Alternsforschung der Universität Heidelberg entstanden.
Deutsches Zentrum für Alterfragen, Berlin, stellt zahlreiche Informationen zu Altersfragen zusammen.
Berliner Altersstudie (BASE), Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin. Ein ausführlicher Überblick zur Studie sowie Hinweise auf Publikationen und weitere Links.
Literatur zum Thema Bevölkerung
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