Wandel in den Köpfen - Werte
Artikel vom 02.03.2004
Eine bekannte These geht davon aus, dass sich in modernen Gesellschaften ein Wandel zu postmaterialistischen Werthaltungen vollzieht. Die Einstellungen der Jugendlichen zeigen hingegen einen ganz anderen Trend: Leistungsdenken ist auf dem Vormarsch, „postmaterialistische“ Werte wie Umweltbewusstsein verlieren an Bedeutung.
Werte im Wandel
Vom Materialismus zum Postmaterialismus?
„Eine bekannt gewordene These und umfangreiche, daran anschließende Forschungen gehen davon aus, dass in modernen Gesellschaften ein ‚Wertewandel‘ von ‚materialistischen‘ hin zu ‚postmaterialistischen‘ Werthaltungen stattfindet. Immer weniger Menschen stellen hiernach die Vermehrung von Besitztümern oder die Erfüllung von Pflichten obenan. Immer mehr Menschen halten Selbstverwirklichung und Kommunikation für primär wünschenswert.
Im Großen und Ganzen hat sich in vielen entwickelten Ländern empirisch bestätigt, dass immer mehr Postmaterialisten aufzufinden sind. Dieser ‚Wertewandel‘ bezieht sich keineswegs auf Grundwerte, wie z.B. auf Humanität, Individualismus oder Nächstenliebe, sondern betrifft sehr viel konkretere persönliche Lebensziele und politische Zielsetzungen. Auch kann von diesem Wertewandel keineswegs auf einen allgemeinen ‚Werteverfall‘ geschlossen werden. Auch und gerade wer die Verwirklichung seiner selbst verficht, kann für humanitäre Zielsetzungen eintreten.
Materialisten bzw. Postmaterialisten sind nicht in allen Bevölkerungsgruppen gleich häufig zu finden. Jüngere, in Städten lebende, gebildetere und aus oberen Schichten stammende Menschen weisen häufiger postmaterielle Werthaltungen auf als ältere, auf dem Land lebende, weniger gebildete und aus unteren Schichten kommende Personen. Bis zu einem gewissen Grade ist der Postmaterialismus also eine schichtspezifische Erscheinung. (...)
Die Verschiebung vom Materialismus hin zum Postmaterialismus in den Werthaltungen der Menschen verläuft allerdings zögernd und keineswegs so eindeutig, wie zunächst erwartet. Im Jahre 1992 galten erst 16,7 % der Westdeutschen als ‚Postmaterialisten‘, immer noch 26,1 % wurden als ‚Materialisten‘ eingeordnet. Volle 50,6 % der Menschen in den alten und gar 63,2 % in den neuen Bundesländern wurden als ‚Mischtypen‘ registriert.“
Mehr als zwei Wertedimensionen
„Diese Ergebnisse sprechen dafür, nicht eindimensional vorzugehen und nur materialistische und postmaterialistische Werte zu unterscheiden und auch nicht nur von der Vermutung auszugehen, dass erstere durch letztere verdrängt werden. Vielmehr sollten mehr als zwei Wertedimensionen auseinander gehalten werden. Dementsprechend könnte sich ein Wertewandel vollziehen, der in den einzelnen Dimensionen unabhängig voneinander verläuft. Dabei könnten sich im Denken der einzelnen vielerlei, auch widersprüchliche Wertekombinationen ergeben (z.B. gleichzeitig Pflicht- und hedonistische Werte vorhanden sein) und die einzelnen Werte darin sehr unterschiedlich intensiv vertreten sein.
Auf dieser Grundlage solcher Überlegungen kommen Helmut Klages und Thomas Gensicke dazu, fünf Wertetypen (typische Kombinationen von Wertedimensionen und -intensitäten) zu unterscheiden. Hierunter fanden sich ‚ordnungsliebende Konventionalisten‘ 1997 besonders häufig unter ostdeutschen Männern und unter Nichterwerbstätigen. ‚Perspektivlos Resignierte‘ waren häufig arbeitslose Menschen und ‚Nonkonforme Idealisten‘ traf man in Westdeutschland öfter an als im Osten.“
(Hradil, Stefan 2001: Soziale Ungleichheit in Deutschland, 8. Aufl., Opladen: Leske und Budrich, S. 423f.)
Trends der Werteentwicklung bei Jugendlichen
„Mit Hilfe von Daten von Infratest Sozialforschung ist ein längerfristiger Vergleich der Wertorientierungen Jugendlicher möglich. 2002 wie 1987/88 stehen ‚Partnerschaft‘ und ‚Freundschaft‘ ganz oben in der Rangreihe der jugendlichen Werte, dicht gefolgt von den Wertorientierungen ‚gutes Familienleben‘ und der Kontaktfreude.“
Abnehmendes Umweltbewusstsein
„Die Bewertung des Umweltbewusstseins verschob sich allerdings vom 6. auf den 12. Rangplatz des Wertsystems der Jugend und die Wertorientierung ‚Fleiß und Ehrgeiz‘ ist demgegenüber der größte Aufsteiger der Rangreihe. Sie konnte sich von Platz 15 auf Platz 9 verbessern und liegt nunmehr deutlich vor dem Umweltbewusstsein. Zwar ist den Jugendlichen ihr umweltbewusstes Verhalten nicht unwichtig geworden, denn der Wert von 4.9 bedeutet immerhin eine durchschnittlich positive Wichtigkeit. Dennoch kann von der früheren besonderen Nähe der jungen Generation zum Umweltbewusstsein keine Rede mehr sein.
Der Prioritätenwechsel der Jugend zugunsten der Leistungsorientierung ist ein deutliches Zeichen der Umorientierung. Dieses Signal wird in dieser Drastik nur in der Jugend gesetzt. In der wirtschaftlich angespannten Situation der 90er Jahre und des beginnenden neuen Jahrtausends haben sich bei männlichen und weiblichen Jugendlichen die Prioritäten deutlich in Richtung des Erfolges in einer leistungsbetonten Gesellschaft verschoben. Dazu kommt der nachlassende Problemdruck durch einen inzwischen deutlich besser wahrgenommenen Umweltschutz.
Wichtig ist, dass das Werteinstrument nach der Wichtigkeit umweltbewussten Verhaltens fragte und nicht allgemein, ob man eine saubere Umwelt wolle. Die Jugendlichen sollten also nicht etwa wünschenswerte Zustände bewerten, sondern Maßstäbe für ihr Verhalten festlegen. Das verschärft unseren Befund noch einmal. Es geht nicht einfach um einen Reflex der Jugend auf die gesellschaftliche Themenkonjunktur, sondern um eine echte Mentalitätsänderung, und zwar vom Primat ökologischen zum Primat ökonomischen Verhaltens.“
Leistungs-, macht- und anpassungsbezogene Wertorientierungen nehmen zu
„Ein zusammenfassender Überblick über die Veränderungen der jugendlichen Wertorientierungen zeigt ein dominantes Muster. Leistungs-, macht- und anpassungsbezogene Wertorientierungen nehmen zu, engagementbezogene (ökologisch, sozial und politisch) ab. Die aktuelle Shell Jugendstudie verwendet dafür den Begriff der Pragmatisierung. Dieser übergreifende Trend bedeutet, dass sich die Prioritäten der Jugendlichen zur persönlichen Bewältigung konkreter und praktischer Probleme verschieben und weg von übergreifenden Zielen der Gesellschaftsreform.
Hierzu ist jedoch zu bemerken, dass dieses Muster in moderaterer Form auch in der gesamten Bevölkerung zu beobachten ist. Die Jugendlichen bringen die Entwicklung nur deutlicher zum Ausdruck. Sie haben ihre frühere besondere Nähe zu den Engagementwerten verloren und ihre Distanz zu Leistungs- und Anpassungswerten aufgegeben. Ihr Habitus hat sich insgesamt von einer eher gesellschaftskritischen Gruppe in Richtung der gesellschaftlichen Mitte bzw. der gesellschaftlichen Normalität verschoben.
Unabhängig vom Haupttrend der ‚Pragmatisierung‘ kann eine Aufwertung der Gefühle beobachtet werden ( ‚sich bei seinen Entscheidungen auch nach seinen Gefühlen richten‘). Diese erfolgte sowohl bei weiblichen als auch bei männlichen Jugendlichen. Das bedeutet, dass eine bisher mehr von Mädchen und jungen Frauen eingenommene Orientierung nunmehr allgemein im Trend liegt, wobei die weibliche Besonderheit erhalten bleibt. Auch dieser zweite Trend wird von der gesamten Bevölkerung mitgetragen. Darin scheint sich ein allgemeiner mentaler Veränderungsprozess auszudrücken. Neben den traditionellen Elementen deutscher Mentalität entwickelt sich ein gefühlsbetonterer Stil, wahrscheinlich angelehnt an südländische oder andere Vorbilder. In der gesamten Bevölkerung besteht ein Zusammenhang zur zunehmenden Hedonisierung der Mentalität (mehr Genuss und Lebensfreude), ein Prozess, in dem die Jugend schon länger vorangeschritten ist.“
Säkularisierung als Trend
„Vorangeschritten ist die Jugend auch im Trend der Säkularisierung, indem sie die Religiosität für ihr Leben eher niedrig bewertet. Die Stabilität des Mittelwertes für die Wichtigkeit des ‚Glaubens an Gott‘ täuscht, da dieser Wert durch den erhöhten Anteil von Jugendlichen ausländischer Herkunft deutlich erhöht wird. 1987/88 war wegen des etwas anderen Stichprobenverfahrens der Ausländeranteil deutlich niedriger. Bei den westdeutschen Jugendlichen muss von einem deutlicheren Rückgang der Bewertung der Religiosität ausgegangen werden.“
(Gensicke, Thomas 2002: Individualität und Sicherheit in neuer Synthese? Wertorientierungen und gesellschaftliche Aktivität. In: Deutsche Shell, Hrsg.: Jugend 2002. 14. Shell-Jugendstudie, Frankfurt am Main: Fischer, S. 152ff.)
Literatur und Links
Links zu den Themen Lebensstile, Werte, Einstellungen und Religion
- Emnid Bielelfeld
- Forsa Berlin
- Forschungsgruppe Wahlen Mannheim
- Infratest Dimap München
- Institut für Demoskopie Allensbach Die fünf großen deutschen Institute zur Erforschung politischer Einstellungen präsentieren auf ihren Homepages die aktuellsten Umfragedaten.
- Sektion Religionssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Angeboten werden Publikationslisten, Tagungsankündigungen und aktuelle Informationen.
- Sinus Sociovision Die Entwickler der „Sinus-Milieus“ stellen ihre jeweils aktuelle Milieu-Landschaft vor.
Downloadbare Dokumente
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- Mochmann, Ingvill Constanze 2003: Lifestyles, social milieus and voting behaviour in Germany : A comparative analysis of the developments in eastern and western Germany. pdf-Datei, 1.112 kb
- Noelle-Neumann, Elisabeth / Petersen, Thomas 2001: Zeitenwende. Der Wertewandel 30 Jahre später. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 29, S. 15-22. Online-Version
- Opaschowski, Horst W. 2001: Die westliche Wertekultur auf dem Prüfstand. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 52/53, S. 7-17. Online-Version
- Schneider, Carsten 2000: Veränderungen von Arbeits- und Umwelteinstellungen im internationalen Vergleich, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. pdf-Datei, 598kb
- Statistisches Bundesamt 2002: Datenreport 2002, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. pdf-Datei, 7755kb
- Wiesendahl, Elmar 2001: Keine Lust mehr auf Parteien? Zur Abwendung Jugendlicher von den Parteien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 10, S. 7-19. Online-Version
Literatur
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