Nachbarschaft trotz(t) Krise
Artikel vom 11.08.2020
Ein bekanntes Sprichwort besagt, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied. In der Nachbarschaftsdebatte geht es hingegen um gegenseitige Rücksichtnahme und den Austausch zwischen sich wenig vertrauten Personen. Hier liegt das Glück also nicht nur bei jedem Einzelnen, sondern auch in der kollektiven Gemeinschaft. Die nachfolgenden Überlegungen sollen sich vor diesem Hintergrund damit befassen, auf welche Weise das Internet Nachbarschaften stützen oder ersetzen kann und inwiefern diese Veränderungen erstrebenswert sind. Von Philipp Schulz
Nachbarschaft zwischen Individualisierungsstreben und Gemeinschaftssinn
Die Nachbarschaft bezeichnet eine „soziale Gruppe, deren Mitglieder primär wegen der Gemeinsamkeit des Wohnortes miteinander interagieren“. Diese richtungsweisende Definition des Nachbarschaftsbegriffs von Bernd Hamm (1973) wird bis heute im deutschsprachigen Raum genutzt und vielen Publikationen zugrunde gelegt. Die verschiedenen Dimensionen des Definitionsansatzes umfassen unter anderem die fixierte räumliche Nähe im Sinne einer dauerhaften Wohnstruktur, aber auch den prozesshaften Charakter der sozialen Interaktion über verschiedene Lebensstile und Lebensabschnitte hinweg. Während nachbarschaftliche Beziehungen mindestens seit der Sesshaftwerdung während der neolithischen Revolution bestehen, hat sich deren Bedeutung für die beteiligten Akteure mehrfach gewandelt. Grundsätzlich lässt sich aber festhalten, dass weder die räumliche noch die soziale Nähe allein eine gute Nachbarschaft begründen würde.
In der vormodernen Gesellschaft dienten lokale Nachbarschaften als überlebensnotwendige Zusammenschlüsse des dörflichen Kollektivs. Diese ermöglichten die Bewältigung ökonomischer und anderer Zwänge, die sich innerhalb dieser traditionellen und relativ homogenen Dorfgemeinschaften nicht sonderlich stark unterschieden. Hierbei wird deutlich, dass die räumliche Nähe auf eine gleichzeitige soziale Nähe traf, die der Herausbildung gemeinsamer Normen und Handlungsmuster zuträglich war. Mangels Alternativen handelte es sich aber dennoch um einen schicksalhaften Zusammenschluss, wobei die jeweils beteiligten Nachbarn nur bedingt aktiv ausgewählt werden konnten. Trotz der zumeist fehlenden Freiwilligkeit waren dörfliche Nachbarschaften in der Vormoderne durch einen intensiven Austausch geprägt, um die verschiedensten Bedürfnisse in Eigenregie zu befriedigen.
Mit dem steigenden Wohlstand und der Etablierung staatlicher Sicherungssysteme ist die Notwendigkeit der nachbarschaftlichen Hilfe zurückgegangen – die Nachbarschaft ist gewissermaßen ersetzbar geworden. Dies ist jedoch nicht der einzige Grund, weshalb die nahräumlichen Beziehungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts an Bedeutung verloren haben. Als weitere Ursachen können die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen sowie die Verbreitung neuer Kommunikationstechnologien angeführt werden.
Durch die verschiedenartige Ausgestaltung der eigenen Lebensentwürfe sind homogene Nachbarschaften nicht mehr so häufig vorzufinden, wie dies noch in der vormodernen Zeit der Fall war. Die Angehörigen eines bestimmten sozio-ökonomischen Milieus sind folglich deutlich heterogener aufgestellt und trotz grundsätzlicher Normen und Weltanschauungen in sozialer Hinsicht weiter voneinander entfernt. Die zunehmende Vernetzung durch Kommunikationstechnologien wirkt sich hingegen eher auf die Auflösung der räumlichen Nähe aus. Da die Überwindung von Distanzen – zumal, wenn es sich um den Datentransport und weniger um die physische Mobilität handelt – inzwischen keinen nennenswerten limitierenden Faktor mehr darstellt, kommt es zu einer Enträumlichung sozialer Beziehungen. Die drei genannten Facetten haben lange Zeit dazu beigetragen, dass nachbarschaftliche Kontakte erschwert wurden oder deren Bedeutung geringgeschätzt wurde. Dennoch kommt der lokalen Nachbarschaft auch heute noch eine immense Bedeutung zu, was sich nicht nur in einer neuerlichen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema zeigt, sondern auch durch empirische Beispiele belegbar ist. Auch, oder gerade in Zeiten der Globalisierung rückt die lokale Verankerung wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Als dauerhaftes Element wirkt sie nicht nur der Schnelllebigkeit und der zunehmenden Unsicherheiten entgegen, sie vermittelt auch zwischen Individualisierungstendenzen und dem grundlegenden Gemeinschaftssinn.
Ebenso wie das Lokale wieder neue Aufmerksamkeit erfährt, lassen sich auch Rückbesinnungstendenzen hin zu mehr gelebter Nachbarschaft erkennen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn man sich die Vorteile einer funktionierenden nahräumlichen Vernetzung vor Augen führt. So lassen sich durch lokale Gemeinschaften verschiedenste Herausforderungen lösen und soziale Bedürfnisse befriedigen. Die Vision einer gelungenen Nachbarschaft lebt also weiter, und zwar weitgehend unabhängig davon, ob es sich um einen Ausschnitt aus einer prosperierenden Großstadt oder um ein 50-Seelen-Dorf in der ländlichen Peripherie handelt.
Lokale Nachbarschaften durch das World Wide Web
Die sich immer fortentwickelnden Kommunikationstechnologien bieten die Möglichkeit, mehrere beliebige Punkte auf der Erdoberfläche – und zuweilen darüber hinaus – miteinander zu verbinden. In vielen Fällen werden diese Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten als Erweiterung der Ausführungen von David Harvey zur Time-Space-Compression betrachtet, wobei immer größere Distanzen in immer kürzeren Zeiteinheiten und mit immer geringerem Ressourceneinsatz überwunden werden können. Dabei wird aber zumeist übersehen, dass diese Technologien auch die lokale Kommunikation verändern und ebenso die Interaktion über kurze Distanzen prägen. Dies zeigt sich nicht nur bei der alltäglichen Nutzung von Messaging-Diensten, sondern beispielsweise auch bei Onlinespielen und Internetgemeinschaften, die sich zunehmend auf die materielle Welt erstrecken, die zumeist mit der „echten“ Welt gleichgesetzt wird. Abgesehen davon, dass auch die virtuelle Welt heute zu einer „echten“ Welt geworden ist, entstehen durch die Verknüpfung der beiden Sphären Hybridräume, die unter anderem die Nachbarschaft im Quartier oder Dorf prägen können.
Einen solchen hybriden Raum spannen verschiedene Onlineplattformen auf. Im Kontext des Nachbarschaftsdiskurses soll aber im speziellen die Plattform nebenan.de betrachtet werden, die sich nach eigener Darstellung der Vernetzung zwischen Nachbarn und einem lebendigen Zusammenleben verschrieben hat. Auf der Internetseite ist dabei das Motto zu lesen: „Nutze das Internet und begegne deinen Nachbarn im realen Leben!“.
Die zugrundeliegende Idee ist einfach. Auf Einladung aus der „realen“ Nachbarschaft oder nach Verifikation über den jeweiligen Standort kann einer virtuellen Nachbarschaft beigetreten werden. Diese setzt sich aus dem jeweiligen Stadtteil oder Dorf und angrenzenden Gebieten zusammen. Auf der Internetseite besteht dann die Möglichkeit, sich mit den anderen Nutzern zu verabreden, Informationen zu teilen oder gezielt nach nachbarschaftlicher Hilfe zu fragen. Im Vordergrund steht dabei ein intensiver Austausch, der in die „reale“ Welt überschwappen und damit belebend auf das Quartier wirken soll.
Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und der Einschränkungen im Alltagsleben wurde in den vergangenen Wochen und Monaten in vielen Tageszeitungen und Nachrichtensendungen auf die Möglichkeit hingewiesen, online Hilfsangebote anzubieten. Die Motivation lag darin begründet, der Risikogruppe so viele entbehrliche und potenziell gefährliche Kontakten wie möglich abzunehmen. Auf digitalen Plattformen wurde deshalb besonders häufig die kontaktlose Erledigung des Wocheneinkaufs angeboten, wobei die Einkäufe von freiwilligen Helfern an der Haustür abgestellt wurden. Die soziale und räumliche Einheit der Nachbarschaft bietet sich für derartige Dienstleistungen aus organisatorischen Gründen besonders gut an. Außerdem zeigt sich mit dieser Form der Nothilfe ein Wiedererstarken früherer Muster, bei denen die gegenseitige Rücksichtnahme in Ausnahmesituationen zur Bewältigung von Krisen beigetragen hat.
Die vorangegangenen Überlegungen möchte ich anhand einiger Beispiele aus meiner eigenen Nachbarschaft veranschaulichen. Diese besteht auf der Plattform nebenan.de aus etwa 1.700 registrierten Personen und erstreckt sich auf das nördliche Stadtgebiet Heidelbergs sowie zwei angrenzende Gemeinden. Zwischen März und Juni wurden etwa 330 Beiträge von insgesamt 175 Personen erstellt und zum Teil intensiv kommentiert.
Knapp ein Drittel der Beiträge beinhaltet die Suche nach kleineren materiellen Dingen, die entweder verschenkt oder für einen kürzeren Zeitraum verliehen werden. Während die Resonanz auf derartige Suchen eigentlich nur bei zu verleihenden Gebrauchsgegenständen wirklich fruchtbar ist, findet sich für angebotene Gegenstände sehr häufig ein Abnehmer. Auch bei der Suche nach oder dem Angebot von gemeinschaftlichen Unternehmungen wie Spieleabenden oder Theaterbesuchen ergibt sich in den Kommentaren vergleichsweise häufig ein Gespräch, das zu einem Treffen in der „realen“ Welt führt. Bei einer wohlwollenden Betrachtung ließe sich also sagen, dass nachbarschaftliche Hilfsgesuche und die persönliche Kommunikation im Hybridraum von nebenan.de sehr gut funktionieren. Eine kritischere Haltung würde eher hinterfragen, ob die Suche nach materiellen Dingen ohne weiteren persönlichen Austausch einen Mehrwert für die Nachbarschaft darstellen kann.
Mit den Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie haben sich auch das Verhalten und der Inhalt der Beiträge auf nebenan.de verändert. Die Verabredung zu gemeinschaftlichen Unternehmungen ist seit der Einführung der Kontaktbeschränkungen bis zur späteren Lockerung der Vorgaben nahezu vollkommen zum Erliegen gekommen. Außerdem hat – wie in der Gesamtgesellschaft und der Arbeitswelt auch – ein Lernprozess eingesetzt, bei dem der persönliche Austausch aus der „realen“ Welt durch virtuelle Interaktionen ersetzt wurde. Nach und nach wurden geplante Veranstaltungen erst dezentral durchgeführt (als Beispiel sei hier die Anerkennung für Pflegekräfte durch das gemeinsame, aber dennoch getrennte Singen auf den Balkonen genannt) und später vollkommen virtuell abgehalten (hier sind besonders Nachbarschaftsstammtische und Eltern-Kind-Treffen zu nennen). Dieser Lernprozess war auch in den Beiträgen und Kommentaren abzulesen, wobei in Diskussionen über die technische Umsetzung erst im Laufe der Zeit eine positivere und offenere Haltung gefunden werden konnte.
Eine zweite durch die Corona-Krise bedingte Veränderung des Beitragsverhaltens ist in direkten Hilfsbekundungen für die Nachbarschaft zu sehen. Als sich Mitte März Beschränkungen im Einzelhandel sowie Vorgaben für private Treffen herauskristallisierten und sich das Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten für die veränderte Situation schärfte, ließen sich besonders viele Unterstützungsangebote beobachten. Allein an den drei Tagen zwischen dem 16. und dem 18. März wurden zehn Beiträge erstellt, in denen die Übernahme des Wocheneinkaufs oder sonstige Dienstleistungen angeboten wurden. In vielen Kommentaren multiplizierte sich diese Welle der Unterstützung noch, da zumeist weitere Angebote offeriert wurden oder auf andere Plattformen mit weiteren Freiwilligen verwiesen wurde. Gleichzeitig wurde nur sehr vereinzelt von Personen auf die Beiträge reagiert, die derartige Angebote auch tatsächlich in Anspruch nehmen wollten. Nun kann aus dieser Beobachtung allein natürlich nicht geschlossen werden, dass die Hilfsangebote ohne Resonanz im Sande verlaufen wären, schließlich hätten diese auch einfach durch private Nachrichten vermittelt werden können. Dennoch bleibt die Frage, ob die digitale Nachbarschaft den richtigen Ort für derartige, gut gemeinte und notwendige Hilfsangebote darstellt. Erstens werden ältere Beiträge recht schnell verdrängt und geraten so aus dem Blick derer, die die Plattform nicht täglich auf der Suche nach neuen Informationen aufrufen. Zweitens richten sich die Angebote zumeist an ältere Personen aus der sogenannten Risikogruppe, die ihrerseits eventuell technisch nicht in der Lage sind auf die Beiträge zu reagieren oder schlichtweg nicht in der digitalen Nachbarschaft angemeldet sind. Auch hier zeigt sich wiederum ein Lernprozess, bei dem die Beiträge aus der Onlineplattform durch klassische Aushänge in Supermärkten und Hausfluren ergänzt wurden, um die Reichweite zu erhöhen.
Digitale Nachbarschaften als Ersatz für die „reale“ Welt?
Digitale Nachbarschaften gehen zweifelsfrei mit einigen Vorteilen einher und bieten ein großes Potential, die Vernetzung auf nahräumlicher Ebene neu zu strukturieren. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Kommunikation und Interaktion in Echtzeit, wobei digitale Technologien eine Loslösung vom zeitlichen und räumlichen Kontext ermöglichen. Durch die Kombination der virtuellen und der materiellen Sphäre entstehen hybride Räume, was mit einer Vergrößerung des jeweiligen Aktionsraums gleichzusetzen ist. Das Beispiel der Onlineplattform nebenan.de hat gezeigt, dass die Nachbarschaft nicht mehr auf eine Häuserzeile beschränkt bleibt, sondern ganze Stadtteile in Verbindung gebracht werden.
Dennoch sollten digitale Nachbarschaften hinsichtlich ihrer Limitationen nicht unreflektiert bleiben. Innerhalb der Plattformökonomie zeichnet sich eine Kommerzialisierung sozialer Kontakte ab, die oft mit undurchsichtigen Machtstrukturen einhergeht. Außerdem ergeben sich im virtuellen Raum häufig Filterblasen, was sich am Beispiel digitaler Nachbarschaften durch eine sehr homogene Nutzerstruktur zeigt. Werden diese Strukturen im hybriden Raum auf die „reale“ Welt übertragen, so ergeben sich Widersprüche zum stadtplanerischen Ideal der sozialen Durchmischung, die aufgelöst werden müssen. Eng damit verbunden sind eine zunehmende Selektivität der nachbarschaftlichen Beziehungen und eine Entfremdung zu den direkten Nachbarn, da auf digitalen Plattformen nur mit denjenigen kommuniziert werden kann, die technisch befähigt und gewillt sind, an einer virtuellen Nachbarschaft zu partizipieren. Vielleicht noch bedeutsamer ist aber der abschließende Kritikpunkt, dass durch die Verschiebung in die virtuelle Welt der spontane Charakter der Nachbarschaft verloren geht. Der Austausch über Onlineplattformen ist eine sehr bewusste Handlung, die eine aktive Entscheidung zum Einloggen und Austauschen voraussetzt. Der städtische Alltag lebt aber gerade von solchen Begegnungen, die ungeplant, spontan und informell ablaufen – beispielsweise das kurze Gespräch in der Warteschlange beim Bäcker.
All dies führt dazu, dass digitale Nachbarschaften eine Erweiterung bestehender sozialer Kontakte darstellen können. Sie werden diese „realen“ Beziehungen aber in keinem Fall vollständig ersetzen. Wie immer kommt es hier auf die richtige Balance an: Ein Anreiz zu mehr gelebter Nachbarschaft lässt sich digital setzen, das Erleben dieser Nachbarschaft muss aber in aller Regel vor Ort geschehen.
Literatur:
Hamm, B. (1973): Betrifft: Nachbarschaft. Verständigung über Inhalt und Gebrauch eines vieldeutigen Begriffs. Birkhäuser Verlag: Basel. 134 S.
Der Autor:
Philipp Schulz ist Doktorand am Geographischen Institut der Universität Heidelberg und Mitglied des Kleinen Konvents der Schader-Stiftung.