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Was man von einer europäischen Verfassung erwarten und nicht erwarten sollte

Artikel vom 07.11.2002

 Die Hypertrophie des supranationalen Wirtschaftsrechts könnte wirksam nur durch anderes europäisches Recht beschränkt werden, das gemeinsame soziale Regeln statuiert und nationale Institutionen und Programme durch institutionelle Garantien schützt, die auch gegenüber den Wirtschaftsfreiheiten des EG-Vertrages und gegenüber der Wettbewerbspolitik der Europäischen Kommission rechtlichen Bestand haben. Von Fritz W. Scharpf

I. Einleitung

Vortrag anlässlich der Verleihung des Schader-Preises am 7. November 2002

Bis vor kurzem war die Diskussion über Wünschbarkeit und mögliche Gestalt einer europäischen Verfassung eine fast ausschließlich akademische Angelegenheit. Die tatsächliche Entwicklung der europäischen Institutionen dagegen war von pragmatischen Kompromissen der Regierungen bestimmt, die sich jeweils an dringenden Problemen oder vorrangigen sachlichen Zielen orientierten. So dienten die institutionellen Reformen der Einheitlichen Europäische Akte der Umsetzung des Binnenmarktprogramms; im Maastricht-Vertrag ging es in erster Linie um die Währungsunion; schon Amsterdam stand dann im Schatten der Osterweiterung; und erst recht galt dies für die Verhandlungen über den Vertrag von Nizza.

Schon im Vorfeld von Nizza aber, insbesondere jedoch in Reaktion auf den allseits als unzulänglich kritisierten Vertrag ist nun eine aufs Grundsätzliche gerichtete Diskussion über die künftige Verfassung Europas aufgekommen. Sie hat die Regierungen offenbar so beeindruckt, daß sie zur Vorbereitung der nächsten Regierungskonferenz einen „europäischen Konvent“ einberufen und diesem auf dem Gipfel von Laaken ein erstaunlich weitreichendes Mandat erteilt haben. Wenn alles nach Plan geht, so wird dieser Konvent im Laufe des nächsten Jahres also den Entwurf eines einheitlichen und umfassenden europäischen Verfassungsvertrages vorlegen. Auch wenn das Ergebnis noch lange nicht feststeht, so zeigen die bisherigen Beratungen doch, daß diesmal nicht pragmatische Lösungen für anstehende Probleme im Vordergrund stehen werden, sondern grundsätzliche Fragen der institutionellen Architektur der Gemeinschaft und ihrer Legitimation im Lichte normativer Kriterien, die sich an der (idealisierten) Praxis des demokratischen Verfassungsstaats auf der nationalen Ebene orientieren.

Gefordert wird eine klare Abgrenzung zwischen europäischen und nationalstaatlichen Kompetenzen und eine transparente Funktionsteilung zwischen Kommission, Rat und Parlament. Angesichts der Unübersichtlichkeit, verwirrenden Vielfalt und Inkonsequenz der bisherigen institutionellen Regelungen wird gewiß niemand dem Ziel einer gründlichen Systematisierung und Vereinfachung der bestehenden Verträge widersprechen können, auch wenn die insbesondere von den deutschen Ländern angestrebte strikte Beschränkung der europäischen Kompetenzen kaum erreichbar sein wird. Darüber hinaus aber geht es dem Konvent (in dem Parlamentarier ein deutliches Übergewicht haben) um die Überwindung des allseits vermuteten „demokratischen Defizits“ der Europäischen Union. Erreicht werden soll dies durch den Abbau von Vetorechten der Regierungen im Ministerrat und die weitere Stärkung des Gesetzgebungs- und Haushaltskompetenzen de Europäischen Parlaments. Zugleich soll die politische Verantwortlichkeit der Europäischen Kommission stärker institutionalisiert werden — sei es durch die Direktwahl ihres Präsidenten, sei es durch die noch stärkere Abhängigkeit vom Vertrauen des Europäischen Parlaments. Hier scheinen mir stärkere Zweifel angebracht, auf die ich noch zurückkommen werde. In erster Linie geht es mir jedoch um Probleme und Optionen, die in den Diskussionen im Konvent bisher nicht die nötige Aufmerksamkeit findet. Ich will sie zunächst als Thesen formulieren und diese anschließend erläutern:

  • Bei aller Unübersichtlichkeit erscheint die gegenwärtige Struktur der Gemeinschaft als ein funktional effektiver und normativ legitimer institutioneller Rahmen für die konsensuale Bewältigung der Aufgaben, welche die europäische Politik sich bis zum Beginn der neunziger Jahre gestellt hatte.
  • Inzwischen aber steht die europäische Politik vor neuen externen und internen Herausforderungen, denen sie sich nicht entziehen kann. Sie erscheinen einerseits als Folgeprobleme der Beendigung des Kalten Krieges und andererseits als Folgeproblem der erfolgreichen ökonomischen Integration.
  • Für diese Herausforderungen sind im Rahmen der gegenwärtigen institutionellen Struktur konsensuale europäische Lösungen nicht erreichbar, während majoritäre Lösungen nicht legitimiert werden könnten.
  • Die Folge ist ein Dilemma, das nur überwunden werden kann, wenn die europäische Politik des Anspruch auf einheitliche, für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen verbindliche Lösungen aufgibt.

 

II. Die heutige Verfassung

Zur Begründung bedarf es zunächst eines Blicks auf die real existierende Verfassung der Europäischen Union. In ihr lassen sich drei verschiedene Typen des Regierens ausmachen, die ich als Modus der intergouvernementalen Verhandlung, als Modus der supranationalen Zentralisierung und als Modus der Politkverflechtung bezeichne.

Grundlegend war und ist immer noch der intergouvernementale Modus. Die europäischen Gemeinschaften sind weder von oben durch überlegene Gewalt noch von unten durch den Akt eines verfassunggebenden Volkswillens gegründet worden. An ihrem Beginn standen vielmehr Verträge, die zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt und von den nationalen Parlamenten ratifiziert wurden. Im gleichen Modus wurde und wird über den weiteren Ausbau der europäischen Institutionen und die Erweiterung ihrer Kompetenzen entschieden, und die Regierungen bestimmen auch darüber, in welchem Maße und auf welche Weise sie selbst auch an der Ausübung der delegierten Kompetenzen beteiligt bleiben wollen. Wenn sie dabei auf ihrer einstimmigen Zustimmung beharren, kann auch insoweit von europäischem Regieren im intergouvernementalen Modus gesprochen werden.

Am anderen Extrem steht der Modus der supranationalen Zentralisierung, in dem die Mitgliedstaaten vollständig auf eigene Mitwirkung an Entscheidungsprozessen der europäischen Politik verzichtet haben. Das sinnfälligste Beispiel dafür sind die geldpolitischen Kompetenzen der Europäischen Zentralbank. Hier wurden Entscheidungen, die für die Wirtschaftsentwicklung der Mitgliedstaaten von kritischer Bedeutung sind, vollständig auf eine europäische Instanz übertragen, deren Unabhängigkeit gegen mögliche Einflußversuche der Regierungen noch wesentlich besser abgesichert ist, als dies bei der Deutschen Bundesbank der Fall war. Nicht anders verhält es sich aber auch bei den Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs und der Kommission zur Anwendung und Durchsetzung des Europarechts. Da den Verträgen unmittelbare rechtliche Geltung und Vorrang vor dem nationalen Recht zuerkannt wurde, hat die richterliche Interpretation vertraglicher Verpflichtungen den Charakter eines Gesetzes, das von den Regierungen nur durch einstimmige Änderung des Vertrages und Ratifikation in allen Mitgliedstaaten — also faktisch überhaupt nicht — geändert werden könnte. Sofern der Gerichtshof mitspielt, gilt dies auch für die Interpretation, von welcher die Kommission bei der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens ausgeht.
Anders in dem dritten und in der Praxis wichtigsten Modus, den ich mit dem für den deutschen Föderalismus entwickelten Begriff der Politikverflechtung bezeichnet habe, und den die Kommission geradezu als „die Gemeinschaftsmethode“ beschreibt. Hier kommt europäische Politik durch das Zusammenwirken supranationaler und nationaler Akteure zustande. Dabei ist die Kommission in einer starken Stellung, weil Verordnungen und Richtlinien nur auf ihre Initiative hin beschlossen werden können, und auch die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments sind im letzten Jahrzehnt erheblich erweitert worden. Nach wie vor aber bleibt die europäische Politik auch auf die Zustimmung der nationalen Regierungen angewiesen, die mindestens eine qualifizierte Mehrheit von fast drei Vierteln der Stimmen im Ministerrat erfordert.

Aber so unterschiedlich sie auch ausgestaltet sind, haben die drei Modalitäten des europäischen Regierens doch eines gemeinsam: Sie basieren letztlich auf dem manifesten oder latenten Konsens zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten. Auf den manifesten Konsens kommt es im intergouvernementalen Modus an, in dem jede Regierung die gemeinsame europäische Politik blockieren könnte. Im Modus der supranationalen Zentralisierung und der Politikverflechtung wird der Bezug zum latenten intergouvernementalen Konsens erst deutlich, wenn man sich die zugrundeliegende Interessenkonstellation zwischen den Regierungen vergegenwärtigt:

Der supranationale Modus findet seine Erklärung in Konstellationen, in denen ein Grundkonsens der Regierungen über das gemeinsame Ziel sich mit der Einsicht verbindet, daß dieses durch die Verfolgung egoistischer — im Lichte des gemeinsamen Ziels illegitimer — nationaler Interessen gefährdet würde. So mußten Regierungen, die einen integrierten europäischen Binnenmarkt schaffen wollten, diesen auch gegen ihre protektionistischen Versuchungen schützen wollen — ebenso wie sie eine gemeinsame und stabile europäische Währung nur erreichen konnten, wenn sie zugleich darauf verzichteten, aktuelle Entscheidungen der Geldpolitik weiterhin national zu bestimmen zu wollen. Wenn also die Ziele der wirtschaftlichen und monetären Integration politisch legitim und konsensual gewählt wurden, dann erklärt und rechtfertigt dieser Konsens auch deren supranationale Absicherung durch die Europäische Kommission, den Europäischen Gerichtshof und die Europäische Zentralbank.

In einer zweiten Interessenkonstellation verfolgen die Regierungen zwar ein gemeinsames Ziel oder versuchen ein gemeinsames Problem zu lösen, aber sie präferieren jeweils unterschiedliche Lösungen, ohne daß die divergierenden Interessen deshalb als illegitim disqualifiziert werden könnten. Wenn aus der Sicht der Regierungen das gemeinsame Interesse die Differenzen überwiegt, dann erklärt und rechtfertigt dies den Modus der europäischen Politikverflechtung. Hier können supranationale Akteure — die Kommission und das Europäische Parlament — erheblichen Einfluß auf den Inhalt europäischer Politik gewinnen, und bei qualifizierten Mehrheiten im Ministerrat können einzelne Länder auch überstimmt werden. Aber das dafür notwendige Quorum ist so hoch, und die wechselseitige Rücksicht der Regierungen auf ernsthafte Widerstände in der nationalen Politik der Partner ist so ausgeprägt, daß in aller Regel konsensuale Kompromisse erreicht werden. Dies erklärt etwa die Fortschritte in der zur Vollendung des Binnenmarktes notwendigen Harmonisierung von Regeln des Verbraucherschutzes, des Umweltschutzes und des Arbeitsschutzes.
Wo die Regierungen schließlich befürchten müssen, daß die möglichen negativen Rückwirkungen europäischer Entscheidungen in der nationalen Politik schwerer wiegen könnten als die Vorteile einer gemeinsamen europäischen Lösung, da bleibt es in der Regel beim intergouvernementalen Modus. Hier kann europäische Politik auch weiterhin nur mit der Zustimmung aller Regierungen beschlossen werden. Sie kann also leicht blockiert werden, auch wenn in weniger kritischen Fällen die Suche nach konsensualen Lösungen durch die Kommission und die nationalen Beamten im Sekretariat des Rats und im Ausschuß der Ständigen Vertreter kräftig unterstützt wird.

Die differenzierten Modi der europäischen Politik korrespondieren also mit dem Konsensbedarf unterschiedlicher Problemkonstellationen: Wo der Grundkonsens gesichert ist und Abweichungen illegitim wären, kann supranationale Politik einseitig durchgesetzt werden; wo Konflikte legitim aber überwindbar erscheinen, fördern die Verfahren der Politikverflechtung die Konsensbildung; und wo divergente Interessen dominieren, bleibt es beim intergouvernementalen Modus. Alle drei Varianten haben gute Legitimationsgründe für sich, und ihre Effektivität ist so gut, wie sie in der jeweiligen Problem- und Interessenkonstellation eben sein kann.

Damit sollen die offensichtlichen Mängel der institutionellen Strukturen und Verfahren gewiß nicht geleugnet werden — sie sind unübersichtlich, übermäßig kompliziert und in vieler Hinsicht verbesserungsbedürftig. Aber das allein könnte die Ernsthaftigkeit der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion und die öffentliche Aufmerksamkeit dafür nicht erklären. Das gilt sogar, so meine ich, für das „europäische Demokratiedefizit“, das ja Politik und Öffentlichkeit in den Mitgliedstaaten über viele Jahrzehnte hin keineswegs besonders beunruhigt hat.
 

III. Grenzen der Konsenspolitik

Sehr viel beunruhigender ist dagegen die Einsicht, daß die im Prinzip konsensualen Modalitäten des europäischen Regierens sich nicht zur Bewältigung der neuen Herausforderungen eignen, mit denen die europäische Politik seit Anfang der neunziger Jahre konfrontiert ist. Die beiden wichtigsten sind die seit dem Ende des Kalten Krieges steigenden Anforderungen an eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik und die internen Folgeprobleme der überaus erfolgreichen ökonomischen Integration.

Im ersten Fall liegt die Notwendigkeit effektiven und raschen gemeinsamen Handelns auf der Hand, wenn Europa sich für die Bewältigung der Sicherheitsrisiken an seiner Peripherie nicht weiterhin allein auf die Vereinigten Staaten verlassen kann oder will. Ebenso vorhersehbar sind aber auch politische Konflikte und langwierige intergouvernementale Verhandlungen, wenn nationale Streitkräfte für europäische Aufgaben abgeordnet werden sollen, die den Einsatz militärischer Gewalt notwendig machen. Nirgendwo sonst sind ja nationale Präferenzen so sehr durch unterschiedliche kollektive Erinnerungen und Situationsdeutungen geprägt:

Den Ausgang des Zweiten Weltkriegs erinnern die einen als physische und moralische Katastrophe und die anderen als gloriosen Sieg in einem gerechten Krieg; die Jahrzehnte des Kalten Krieges haben die einen im Schutz der Vereinigten Staaten und der NATO-Allianz und die anderen im Status einer prekären aber schließlich doch erfolgreichen Neutralität überstanden; das Verhältnis zur Dritten Welt ist bei den einen durch post-koloniale Engagements und bei den anderen durch das Bekenntnis zum Universalimus der Vereinten Nationen bestimmt; und das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten sehen die einen als emotional fundierte Familienbeziehung und die anderen als Bedrohung der eigenen Identität — die Liste ließe sich leicht verlängern.

Man braucht jedoch nicht weiter auszuholen, um darzutun, daß konsensuales und rasches Handeln in der Außen- und Sicherheitspolitik zugleich notwendig und außerordentlich schwierig ist. Weniger offensichtlich ist dies bei den internen Herausforderungen, auf die sich deshalb die weiteren Überlegungen konzentrieren werden. In der Rhetorik der europäischen Politik figurieren sie seit einigen Jahren unter dem Rubrum der Sicherung des „Europäischen Sozialmodells“. Aber gerade aus dieser Formulierung erwachsen Mißverständnisse, die eine effektive Bewältigung der Folgeprobleme der ökonomischen Integration verhindern können.

Die europäischen Sozialstaaten habe ihre höchst unterschiedliche Gestalt in den ersten Nachkriegsjahrzehnten entwickelt — zu einer Zeit also, als die nationalen Grenzen selbst für den Handel mit Industriegütern noch eine Hürde darstellten, während die Dienstleistungs- und Kapitalmärkte international fast vollständig abgeschottet und Aufgaben der Daseinsvorsorge und sozialen Sicherung auch innerstaatlich dem Wettbewerb weitgehend entzogen waren. Die nationale Politik verfügte also über eine breite Palette von Steuerungsinstrumenten, die damals — vernünftig eingesetzt — fast überall hohe Wachstumsraten und Vollbeschäftigung gewährleisteten. Deshalb konnte die Politik in den einzelnen Ländern auch die Produktions- und Arbeitsbedingungen ohne Rücksicht auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit regulieren; sie konnte die Grenzen zwischen Marktwirtschaft und öffentlicher „Daseinsvorsorge“ nach eigenen Kriterien bestimmen; sie konnte ganz unterschiedliche Systeme der sozialen Sicherung aufbauen; und sie konnte die jeweils politisch gewollten Leistungen durch eine nationale Steuer- und Abgabenpolitik finanzieren, deren Belastungsgrenzen eher politisch als ökonomisch bestimmt waren.

In der Europäischen Union dagegen sind heute auch die Dienstleistungs- und Kapitalmärkte integriert und liberalisiert, und die einheitliche Währung erhöht die Markttransparenz und gewährleistet stabile Tauschbedingungen. Die Unternehmen sind deshalb ungeschützt dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt, aber sie haben zugleich die freie Wahl unter den europäischen Produktions- und Investitionsstandorten. Deshalb beschränkt nun der ökonomische Standortwettbewerb unter den Mitgliedstaaten alle Optionen der nationalen Regulierungs- und Steuerpolitik, welche die Produktionskosten erhöhen oder die Gewinne nach Steuern vermindern könnten. Noch wichtiger aber sind die rechtlichen Schranken: Die Währungsunion hat die nationale Geldpolitik beseitigt und sie beschränkt die Finanzpolitik der Mitgliedstaaten; die europäische Subventionskontrolle eliminiert früher genutzte Optionen der nationalen Wirtschaftsförderung; und auch die Optionen einer öffentlichen Daseinsvorsorge werden durch die Wettbewerbspolitik der Europäischen Kommission und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs radikal eingeschränkt. Dies mag man gut oder schlecht finden. Wichtiger ist jedoch die konstitutionelle Asymmetrie:

Im Nationalstaat hatten Wettbewerbsrecht, Sozialrecht und das Recht der Daseinsvorsorge den gleichen verfassungsrechtlichen Status. Nicht die Justiz, sondern die Parlamente hatten also in politischer Auseinandersetzung über die Grenzen des Marktes zu entscheiden. Das änderte sich in den Europäischen Gemeinschaften, für deren Recht der Europäische Gerichtshof den absoluten Vorrang vor allen nationalen Regeln durchsetzen konnte. Dieses Recht aber diente anfangs ausschließlich, und es dient auch heute noch überwiegend den Zwecken der Wirtschaftsintegration, der Liberalisierung und der Herstellung und Erweiterung der Wettbewerbsfreiheit. Wenn also diesen Zwecken im Interesse sozialer, kultureller oder ökologischer Werte  irgendwelche rechtlichen Grenzen gesetzt werden sollen, dann können diese nun nicht mehr von der nationalen Politik bestimmt werden.

Statt dessen greift nun eine ohne rechtliche Stopp-Regel expandierende Interpretation des liberalen europäischen Wirtschafts- und Wettbewerbsrechts in immer stärkerem Maße in Bereiche der staatlichen Daseinsvorsorge und Sozialordnung ein, in denen auf der nationalen Ebene der Marktwettbewerb durch demokratisch legitimierte Gesetze beschränkt oder ausgeschlossen worden war. Die Interventionen gegen die Buchpreisbindung, gegen die Sparkassen, und nun gegen die Begünstigung öffentlicher oder frei-gemeinnütziger Anbieter von sozialen Dienstleistungen sind Beispiele aus der jüngeren Zeit, zu denen auch die Urteile über die Honorierung ausländischer Anbieter durch die nationale Krankenversicherung gerechnet werden können.

Diese Beispiele mag man in der Sache billigen oder mißbilligen. Hier kommt es darauf an, daß die nationalen Daseinsvorsorge- und Sozialsysteme nun zur Disposition der Kommission und des Europäischen Gerichtshofs stehen, gegen deren jeweilige Interpretation des europäischen Wirtschaftsrechts es auf der nationalen Ebene keine rechtliche oder politische Remedur gibt. Damit aber reicht die supranational-zentralisierte Kompetenz nun in Bereiche hinein, die von ihrer normativen Legitimation (die ja ausschließlich auf dem latenten Grundkonsens der Mitgliedstaaten beruht) nicht mehr gedeckt sind. Im Ergebnis könnte deshalb eine ausschließlich an den Kriterien einer vermuteten ökonomischen Effizienz orientierte supranationale Politik sowohl die Überlebensfähigkeit nationaler Sozialsysteme als auch die politische Akzeptanz der europäischen Institutionen untergraben.

Die Hypertrophie des supranationalen Wirtschaftsrechts könnte wirksam nur durch anderes europäisches Recht beschränkt werden, das gemeinsame soziale Regeln statuiert und nationale Institutionen und Programme durch institutionelle Garantien schützt, die auch gegenüber den Wirtschaftsfreiheiten des EG-Vertrages und gegenüber der Wettbewerbspolitik der Europäischen Kommission rechtlichen Bestand haben. Aber ebenso wie der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik stehen auch einer gemeinsamen Sozialpolitik so gravierende Differenzen der nationalen Interessen und Präferenzen entgegen, daß konsensuale europäische Lösungen extrem schwierig oder sogar unmöglich erscheinen.

Was die Interessen angeht, liegen die Schwierigkeiten auf der Hand: Unter den gegenwärtigen Mitgliedstaaten der EU liegt das Verhältnis der Pro-Kopf-Einkommen im ärmsten und im reichsten Land bei 1:3 bis 1:4, und nach der Osterweiterung wird sich diese Diskrepanz noch verdoppeln. Länder wie Griechenland und Portugal, geschweige denn Polen oder die Slowakei, könnten sich den großzügigen und teuren Sozialstaat einfach nicht leisten, den etwa die Dänen für angemessen halten. Aber das ist nicht einmal der wichtigste Grund. Schweden, Großbritannien und Deutschland haben etwa das gleiche Pro-Kopf-Einkommen, aber sie gehören drei grundverschiedenen „Sozialstaats-Familien“ an — nämlich der „skandinavisch-sozialdemokratischen“, der „angelsächsisch-liberalen“ und der „kontinentaleuropäisch-konservativen“.

So wären die Briten, die sich auf einen minimalen Sozialstaat eingestellt und dafür ihre private Vorsorge aufgebaut haben, niemals bereit, die extrem hohe Abgabenlast zu akzeptieren, die in Schweden eine universalistische Rundum-Versorgung finanziert. Ebensowenig könnten die schwedischen Familien mit dem in Deutschland herrschenden Mangel an öffentlich finanzierten sozialen Dienstleistungen auskommen; und bei uns würden Patienten und Ärzte gemeinsam rebellieren, wenn eine europäische Richtlinie die Umstellung von der Krankenversicherung auf das britische National Health System verlangen würde.
Kurz: die Rede von dem einen „europäischen Sozialmodell“ ist irreführend.

Es gibt mehrere Modelle nebeneinander, die sich in ihren Leistungen und in ihrer Finanzierung grundsätzlich unterscheiden. Überall aber haben sich die Bürger in ihren Lebensplänen auf das vorhandene Sozialsystem eingerichtet — mit der Folge, daß selbst sehr begrenzte Reformen innerhalb des jeweiligen Systems auf erbitterten politischen Widerstand stoßen. Keine Regierung könnte es deshalb wagen, gemeinsamen europäischen Lösungen zuzustimmen, die im eigenen Land die Strukturen des Sozialstaats grundlegend verändern würden.

Der Autor: Fritz W. Scharpf war bis zu seiner Emeritierung 2003 Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Er erhielt 2002 den Schader-Preis.

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