Ein Leben ohne Geld?
Artikel vom 28.04.2020
Individuell und zeitweise ist das möglich. Ein Blogbeitrag von Kirsten Mensch.
Ein Leben ohne Geld:
Immer wieder liest man von Einzelnen, die in einer Phase ihres Lebens ohne Geld leben. Sie finden oftmals Unterstützung von Freundinnen und Freunden oder von Förderen, die dieses Experiment spannend finden. So kommen sie zu Nahrung, einer Unterkunft, Kleidung… Aber wäre geldloses Funktionieren auch für eine Gesellschaft möglich? Könnten wir unsere Wirtschaftsweise so organisieren, dass wir alle ohne Geld leben?
Für viele ist dieser Gedanke zuerst einmal absurd, verrückt, nichts als Spinnerei. Doch so absurd und verrückt scheint der Ansatz nicht zu sein. Es gibt durchaus ernst gemeinte und rationale Überlegungen in der Wissenschaft, wie eine postmonetäre Gesellschaft aussehen kann: Mehrere Universitäten sind an dem interdisziplinären Projekt „Gesellschaft nach dem Geld“ beteiligt (https://nach-dem-geld.de/, siehe auch das Buch: Projektgruppe „Gesellschaft nach dem Geld“, Hrsg., 2019, Postmonetär denken. Eröffnung eines Dialogs, Springer). Und dabei geht es, nur zur Sicherheit hier angemerkt, nicht darum, nur das Bargeld abzuschaffen und ansonsten weiterhin mit EC-, Kreditkarte oder Online-Bezahldiensten zu zahlen!
Auch aus einem anderen Grund kann der Ansatz eines geldlosen Wirtschaftens als weniger abwegig, als zuerst vermutet, gelten. Denn anders als oft dargestellt, haben viele Gesellschaften vor oder neben dem Kapitalismus einen Großteil der Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung gerade nicht über Tausch von Waren (mit oder ohne vermittelndes Geld) geregelt. Das Argument, dass es ohne Geld gar nicht geht, wäre damit erst einmal entkräftet, oder? Zum anderen gäbe es ja auch etwas zu gewinnen, wenn wir auf das Geld verzichteten: So viel Schlechtes entsteht aufgrund von Profitgier, rein aus dem Wunsch heraus lieber mehr Geld als weniger zu haben. Der Raubbau an der Natur, die abnehmende Biodiversität, die Vermüllung und Vergiftung unserer Umwelt, aber auch das Herbeiführen menschlichen Leids, das Ausüben von Gewalt wegen ökonomischer Interessen: Gäbe es das ohne unsere geldbasierte Wirtschaft?
Könnte die Schader-Stiftung in diesem Bereich eine Debatte eröffnen?
Welche Fragestellungen rund um das Geld bis hin zu dessen Abschaffung sollten wir dabei angehen? Welche Gruppen, welche Forschungen, welche Personen sollten wir einbeziehen? Dieser Blogbeitrag freut sich auf Kommentare und Anregungen.
Von Kirsten Mensch.
Die Koinzidenz der Tauschwünsche bleibt immer ein Problem, das mit Geld als universalem Tauschmittel gelöst wird - auch wenn die Ursprünge des Geldes nicht in dieser Funktion lagen. Selbst in den Reziprozitätsgesellschaften mit einer Koordinierung weitgehend über Rechte und Pflichten (meistens sehr hierarchisch und sehr ungleich) konnte man auf Geld nicht verzichten. Und selbst bei Verzicht auf „offizielles“ Geld werden sich spontane Währungen wie mit Zigaretten im zusammengebrochenen Währungssystem nach 1945 etablieren. Oder Kryptowährungen, die eh schon Probleme bereiten.
Verständlich fände ich die Frage nach einem anderen oder anders regulierten Geld- und Finanzsystem, aber Ihr meint wirklich „postmonetär“? Zur Geschichte des Geldes und zu Reformbestrebungen der Regulierung kann ich was schreiben, aber nie zur Frage, ob es ohne Geld geht. Dann hätte ich nur ein Wort zu schreiben: nein. Ich wäre ganz schlecht in der Selbstversorgung (kann nicht einmal stricken). Und ob ich jemanden finde, der an volkswirtschaftlichen Vorlesungen Interesse hätte und mir dafür Mehl oder Milch gibt? Verschenken ginge natürlich auch, aber wie regelt man die Verteilung und wer produziert? Geld verursacht schon Probleme durch die Standardisierung und Vergleichbarkeit, was sich in Tauschverhältnissen offenbart, aber die Transaktionskosten ohne Geld wären unvergleichlich höher.“
„Wie ein 24-Jähriger mit Mundschutzmasken Millionen Umsatz machte“, titelten Medien zu Beginn der Coronakrise. Und wohl ziemlich alle, die das lasen, dachten: ‚Wie unsolidarisch!‘. Dabei folgte der Onlinehändler einfach den Gesetzen der Marktwirtschaft. Das allerdings ist tatsächlich unsolidarisch, denn diese erzeugen künstliche Knappheit. Immer: Die Güter gehen nicht dahin, wo sie gebraucht werden, sondern dahin, wo das Geld ist. An dieser Logik verhungern Menschen, seit es den Weltmarkt gibt. Normalerweise fällt es uns nicht auf, weil wir im reichen Norden zumindest so viel Geld haben, dass unsere Grundbedürfnisse gedeckt sind. Und alles andere gilt dann als verzichtbarer Luxus. Dabei wären, von den extrem umweltschädlichen mal abgesehen, auch die meisten sogenannten Luxusgüter durchaus für alle vorhanden, wenn sie nicht als Eigentum gehalten den Großteil der Zeit ungenutzt rumstehen müssten.
Das sind Menschen jetzt weniger bereit zu akzeptieren. Denn das neue Gefühl von Solidarität beschränkt sich nicht nur auf Nachbar*innen; das dokumentieren wir auf dem Blog https://ansteckendsolidarisch.de. Und mit den gelebten solidarischen Praktiken geht auch ein anderes Denken einher. Daraus wiederum kann Neues erwachsen: denn was möglich ist und was nicht, liegt wesentlich an dem, was wir für selbstverständlich halten. Halten wir es für selbstverständlich, dass Menschen, denen gerade die Einkommen wegbrechen, trotzdem gut leben können sollten? Dann braucht es die Sicherung materieller Grundgeborgenheit für alle. Vielleicht als bedingungsloses Grundeinkommen, vielleicht als Grundauskommen anderer Art: mit gesichertem Wohnen und gesicherter Lebensmittel- sowie Gesundheitsversorgung, freiem ÖPNV, für alle zugänglich gemachter Bildung usw. All das sind Forderungen, die in der kurzen Zeit, die wir nun mit dem Virus leben, sich rasend schnell verbreitet haben.
Übrigens: Auch die Unterbezahlung von Pflegepersonal resultiert aus der Tauschlogik: Die unterschiedliche Rationalisierbarkeit und damit Profitabilität von solchen reproduktiven Tätigkeiten im Vergleich zur Industrieproduktion bedeutet auf dem Markt die wertmäßige Gleichstellung von unterschiedlich viel Aufwand, Zeit und/oder Leid.
Marktwirtschaft ist aber auch deshalb unsolidarisch, weil ihr Wirkungsmechanismus die Konkurrenz ist. Das Ziel ist, etwas zu bekommen oder etwas zu erreichen, was eine andere Person dadurch nicht bekommen oder erreichen kann. Der andere ist tendenziell ein Feind, was sich in der Angst niederschlägt, dass er einen übervorteilen, betrügen oder ausnutzen könnte. Es ist eine Art ‚struktureller Hass‘, was aber genauso treffend ›strukturelle Anti-Solidarität› genannt werden könnte.
Den mit dem Markt einhergehenden Zwang zum Wachstum erleben wir gerade: Kaum kann das Klima sich etwas erholen, bricht alles zusammen. Millionen Menschen werden erwerbslos. Und warum? Es könnten ja locker alle Bedürfnisse befriedigt werden!
Denn es geht auch anders. Menschen können miteinander kooperieren. Letztlich zielen auch über den Markt gehende Ansätze wie die Gemeinwohlökonomie auf eine Gesellschaft, in der demokratisch entschieden wird, wohin welche Ressourcen gehen. Das drücken wir aus mit unserem Zusammenschluss als NOW: https://www.netzwerk-oekonomischer-wandel.org/
Es geht um ein Leben ohne Zwang und Existenzangst. Es geht um die Befreiung unserer Lust, tätig zu werden.