Digitale Medien in den Sozialwissenschaften: Wie verändert sich die Wissenschaft durch Neue Medien?
Artikel vom 21.12.2013
„Die technischen Möglichkeiten des Internets haben eine Reihe von Veränderungen in der Wissenschaft angestoßen.“ Eindrücke aus einem Workshop der Schader-Stiftung mit Prof. Dr. Christian Stegbauer (Frankfurt am Main).
Impuls zum Workshop
Die technischen Möglichkeiten des Internets haben eine Reihe von Veränderungen in der Wissenschaft angestoßen. Grob lassen sich die Bereiche der Wirksamkeit in Produktion, Vermittlung und Präsentation von Wissenschaft und deren Ergebnisse einteilen. Im Workshop wird der Fokus auf die Präsentation von Wissenschaft in Neuen Medien gerichtet.
Präsentation von Wissenschaft im Internet und ihre Folgen
Neben den Veränderungen hinsichtlich der Produktion und der Vermittlung von Wissenschaft finden sich weitere Neuerungen, die durch das Internet befördert werden. Es geht um die Präsentation von Wissenschaft in den Online-Medien. Hier findet sich der Schwerpunkt des Workshops. Man kann sagen, dass die Präsentation Tendenzen zu einer „verbesserten“ gegenseitigen Beobachtung und einer Erhöhung des Konkurrenzdrucks verstärkt. Die Internetpräsenzen machen aber nicht nur die Arbeit der Anderen durchsichtiger, sie verstärken auch bereits vorhandene Ungleichheiten.
Erhöhung der Konkurrenzwahrnehmung und des Konkurrenzdrucks
Gegenseitige Beobachtung wird durch Datenbanken, etwa Scholar-Google, oder dem Social Science Citation Index und der Nutzung von Networkingsites (Xing, LinkedIn) und Wissenschaftsnetworkingsites (zum Beispiel ResearchGate) erleichtert. Sicherlich werden hierdurch auch die Zugänglichkeit von Wissenschaft und die Recherchemöglichkeiten verbessert, aber eben auch als „Nebeneffekt“ die Ungleichheit verstärkt. Mechanismen hierfür sind aus der Netzwerkforschung bekannt und haben ihre Ursache in kognitiven und zeitlichen Beschränkungen. Die geringen Barrieren des Internets, so die Hypothese dieses Zweigs der Netzwerkforschung, sind mitverantwortlich für eine Verstärkung von Ungleichheit. Stichworte hierzu sind: „Power Law“ für die ungleiche Verteilung von Verweisen und „Preferential Attachment“ als Erklärung für das Zustandekommen der Ungleichheiten (Barabasi/Albert (1999), siehe auch Robert K. Merton (1968): „Matthäus-Effekt“).
Ein wichtiger Faktor ist die Transparenz von Zitationen und Versuche der Messung von Reputation, etwa über Scholar-Google, oder die zunehmende Bedeutung des Impacts der Veröffentlichungsorgane. Am Ball zu bleiben wird durch „Soziale Medien“, etwa Networking Sites oder Blogging und Mikroblogging, erleichtert. Der Orientierungshilfe für den Wissenschaftler durch solche Medien angesichts der Ausdifferenzierung der Fachgebiete und der hohen Menge an produzierten Texten steht eine noch stärkere Konzentration auf „einflussreiche“ oder „einschlägige“ Veröffentlichungen gegenüber. Hier entsteht eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf einige Wenige. Deren Veröffentlichungen werden als wichtiger erachtet. Diese geben den Ton an. Das Gewicht des Arguments und damit die Möglichkeiten gleichwertig zu konkurrieren werden hierdurch erschwert.
Freie Publikation im Internet oder Beibehaltung der Traditionen?
Das Internet beherbergt die technische Möglichkeit, eine freie, schnellere und kostengünstigere Zugänglichkeit zur Literatur zu generieren. Zwar finden sich auch in den Sozialwissenschaften frei zugängliche Online-Zeitschriften, die Zeitschriften mit hoher Reputation erscheinen jedoch immer noch bei den bekannten Wissenschaftsverlagen. Das ist einerseits erstaunlich, weil der Inhalt von Zeitschriften in der Regel vom Wissenschaftssystem nicht nur erzeugt, sondern auch ausgewählt und begutachtet wird. Die hohen Preise, welche die Verlage erzielen, entziehen dem Wissenschaftssystem (unnötig) Mittel, wobei gleichzeitig doppelt bezahlt wird (einmal für die Erzeugung der Wissenschaft, in Form vom Forschungsgeldern und Einkommen für die in der Wissenschaft Tätigen und dann nochmals für den Zugang zu den daraus entstandenen Veröffentlichungen).
Es wäre naiv zu glauben, die technischen Möglichkeiten alleine könnten einen Wandel einleiten. Die Bewertungssysteme und der Bedeutungsgewinn von Versuchen, auch wissenschaftliche Leistungen messbar zu machen, stehen einer Neuorganisation des Veröffentlichungswesens entgegen. Hier sind es nicht nur die Messung von Impact-Faktoren und das Zählen von Zitation, die bedeutend sind, auch hochschulpolitische Entscheidungen, etwa eine Leistungskomponente in den Gehältern der Professorinnen und Professoren einzuführen und auf eine nachvollziehbare Grundlage zu stellen, können als eine Barriere für eine andere Organisation des Veröffentlichungswesens angesehen werden (An der Goethe-Universität in Frankfurt werden die Veröffentlichungen in A-, B- und C-Veröffentlichungen eingeteilt. A-Veröffentlichungen sind in der Regel meist in amerikanischen Zeitschriften).
Neue Zeitschriften, die nur über das Internet verbreitet werden, haben nur eine geringe Chance, in die Erste Liga aufzusteigen (gleichwohl gibt es in der Biologie und Chemie Beispiele dafür).
Diskussionsfragen
Was sind die Vor-, was die Nachteile für eine erhöhte Transparenz der Konkurrenz untereinander? Soll Konkurrenz in der Wissenschaft transparenter werden? Wie wird Leistung gemessen? Kann man Leistung durch die Repräsentation von wissenschaftlichen Arbeiten im Internet (Datenbanken) tatsächlich messen oder führen die Indikatoren in die Irre? Führen einheitliche Bewertungsmaßstäbe zu einem Verlust der Bedeutung der eigenen Wissenschaftskultur: Anpassung an andere Forschungstraditionen, um in Journalen mit hohem Impact-Faktor veröffentlichen zu können, Vereinheitlichung der Wissenschaftssprache, Bedeutungsverlust von Buchveröffentlichungen?
Wäre die Etablierung von neuen Zeitschriften (allgemein zugänglich) wünschenswert? Wo liegen Hindernisse? Welches wären Vorteile? Wie könnte man ein „neues“ Veröffentlichungssystem durchsetzen?
Wie können wir unter diesen Umständen als Wissenschaftler dazu beitragen, auf die Präsentation von Wissenschaft Einfluss zu nehmen? Was wären Ziele, an denen wir uns orientieren sollten?
Gibt es „zwangsläufige“ Entwicklungen oder sind diese beeinflussbar?
Literatur
- Barabási, Albert-László / Albert, Réka 1999: Emergence of Scaling in Random Networks, in: Science 286 (5439), S. 509-512.
- Merton, Robert K. 1968: The Matthew Effect, in: Science: The reward and communication systems of science are considered, in: Science 159 (3810), S. 56–63.
Bericht aus dem Workshop (Von Peter Lonitz)
Vermittlung und Präsentation von Wissenschaft im Internet
Die zunehmende Orientierung auf die Online-Medien wird als grundlegende Veränderung in der Präsentation und Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse gesehen. Neben verbesserten Recherche- und Zugangsmöglichkeiten zu den Ergebnissen wissenschaftlicher Produktion ist durch die größer gewordene Transparenz auch ein erhöhter Konkurrenzdruck unter Wissenschaftlern spürbar.
Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Auswahl des Veröffentlichungsorgans. Dabei verstärkt die Veröffentlichung in einflussreicheren, zumeist amerikanischen Publikationen die Wertschätzung des Autors. Es besteht ein Zitationsgefälle: Artikel werden je nach Bedeutung und Reputation der sie publizierenden Fachzeitschriften unterschiedlich bewertet. Mit den neu hinzukommenden Online-Medien entstehen neue Ungleichheiten, die die wissenschaftliche Community diskutiert.
Die Bedeutung von Bewertungsmaßstäben im Vergleich der freien Online-Veröffentlichungen und traditioneller Zeitschriftenbeiträge setzt an der Frage an: Ist die Etablierung von allgemein zugänglichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen in Online-Medien wünschenswert?
Diese Frage zielt auf die Hemmnisse und Vorteile des „neuen“ Veröffentlichungssystems. Als positiv werten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Internationalisierung der Produktion und den damit verbundenen Professionalisierungsschub.
Zwar sind die Voraussetzungen für schnelle und kostengünstige Veröffentlichungen im Internet rein technisch gegeben, aber das Maß der Reputation entwickelt sich mit den Veröffentlichungen in Zeitschriften renommierter Fachverlage. Es gibt insgesamt wenige Online-Zeitschriften in den Sozialwissenschaften. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften haben in den Sozialwissenschaften neue Internet-Zeitschriften geringe Chancen, auf der Reputationsskala aufzusteigen.
Veröffentlichungen von wissenschaftlichen Artikeln in Internetforen mit kostenfreiem Zugang sind einfach zu handhaben, aber, so die These, bei Veröffentlichungen in Neuen Medien wie Facebook, Twitter oder Xing droht Reputationsverlust. Kostenfreier Zugang, Open Access zum Beispiel, zu interdisziplinären Foren bedeutet keinen
Automatismus für die Auswirkung auf eine höhere Leistungsbewertung. Es bedarf eines entsprechenden Know-hows, gerade auch von Gesellschaftswissenschaftlern, um die gewünschte Wirkung einer von anderen anerkannten Publikation zu erzielen. Denn, so das Beispiel einer Teilnehmerin, es muss bei der Überlegung, ob eine Promotion als Buch oder online veröffentlicht wird, die Frage im Mittelpunkt stehen, wie die gewünschte Zielgruppe erreicht wird.
Im Zusammenhang mit der Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse in Flyern, Broschüren oder Filmen stellt sich die Frage: Welche Zielgruppe will ich mit der Veröffentlichung „abholen“? Die Buchproduktion ist teurer und aufwendiger als eine niederschwellige Online-Publikation. Entsprechend wird die Frage gestellt: Wo bewegen sich Wissenschaftler? Suchen sie den Austausch in Foren?
Bei einer Veröffentlichung in bestimmten Zeitschriften bekannter Fachverlage zahlt das Wissenschaftssystem neben der Produktion der wissenschaftlichen Erkenntnisse nochmals für den Zugang zu den daraus entstandenen Veröffentlichungen, die käuflich zu erwerben sind. Eine Teilnehmerin verteidigt deshalb Open Access.
Mitzudenken sind auch die Ansprüche der Drittmittelgeber an Publikationen. Angesichts der Gefahr, dass die Publikation eines Forschungsvorhabens vernachlässigt wird, kann eine Open Access-Veröffentlichung hilfreich sein.
Durch Neue Medien eigens für Wissenschaftler und Open Access-Veröffentlichungen kann die Distanz zwischen Laien-Kommunikation und professioneller Kommunikation verkleinert werden. Es bedarf einer Effizienzsteigerung der innerwissenschaftlichen Kommunikation, mehr Kommunikation der Online-Medien, nicht nur „eingedampft für den Samstagnachmittag“, so ein Teilnehmer. Denn, so die Überlegung, es müssen Wege zu einer vernünftigen Kenntnisnahme und Bearbeitung der globalisierten Informationsströme gefunden werden.
Am Beispiel der Gestaltungsqualität wird ein Defizit der Neuen Medien deutlich. Bei Buchprojekten wird ein hoher Wert auf die Ausgestaltung der Publikation, beziehungsweise der einzelnen Sammelbeiträge gelegt.
Vermittlung von wissenschaftlichen Ergebnissen in die politische Praxis
Das zentrale Problem bei der Vermittlung von wissenschaftlichen Ergebnissen in die politische Praxis liegt in der Person des Vermittlers. Welcher Vertreter aus welcher Disziplin kann vermitteln? Man stellt sich hier die Frage nach der Wirkung von wissenschaftlichen Veröffentlichungen in der politischen Praxis. Wie kommt es in der Politik an? Was wird von den Ergebnissen angenommen? Positiv bewertet werden interdisziplinäre Ansätze oder die Transparenz in der Darstellung komplexer Themen. Hingegen wird die Bewertung Neuer Medien als Quelle der Politikberatung kontrovers beurteilt.
Wissenschaft und Öffentlichkeit
Beim Dialog mit der Praxis wie mit der Öffentlichkeit, so ein Hinweis, stellt sich die Frage nach dem wissenschaftlichen Nutzen ein Hemmnis. Geht es für den Lehrenden noch darum, die beruflichen Chancen seiner Studierenden zu verbessern, besteht für den Forschenden wenig Interesse, Artikel in Publikumszeitschriften zu verfassen.
Wie können Wissenschaftler auf die Präsentation von Wissenschaft Einfluss nehmen? Nach wie vor, so wird festgestellt, sollte sich die wissenschaftliche Forschung auch an den Anforderungen aus der Praxis orientieren. Einen Beitrag hierzu können Zeitschriften mit hohem Impact-Faktor leisten. Wissenschaftstransfer sollte sich an den jeweiligen Zielgruppen orientieren. Beispielsweise schlägt ein Teilnehmer angesichts des demographischen Wandels vor, Filmbeiträge zur Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte speziell für die Generation 50 plus zu produzieren.
Das Ziel, an dem sich die Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse orientieren sollte, ist die Vernetzung von Wissenschaft und Öffentlichkeit.