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Soziologie und Praxis. Eine autobiographische Skizze

Artikel vom 27.05.2019

Für die Gesellschaftswissenschaften gilt es mit Blick auf einzelne Praxisfelder deren „Wirklichkeit“ nicht als unverrückbar anzunehmen: Es könnte auch ganz anders sein. Von Wolf Lepenies

Möglichkeit weltlicher Moral: Durkheims Soziologie war Praxis

Als ein Mitarbeiter Emile Durkheims (1858-1917) entmutigt die Arbeit an einem Forschungsprojekt aufgeben wollte, schrieb ihm sein Patron, ein Gründungsvater der Soziologie: „Objektiv gibt es gar keinen Grund, zu resignieren. Nein, die sozialen Tatbestände entgehen uns bestimmt nicht. Sie sind genauso disziplinierbar wie die anderen.“ Das geschah um die Wende zum 20. Jahrhundert – als die Soziologie noch jung und ihrer Sache sicher war. Es gab kein Praxisfeld, dessen soziologische „Disziplinierung“ Emile Durkheim sich nicht zutraute – sein Selbstbewusstsein ging so weit, den Anspruch zu erheben, mit Hilfe der Soziologie die Grundlagen einer säkularen Moral geliefert zu haben, welche der Industriegesellschaft zu stärkerer Bindungskraft verhelfen konnte. Durkheim stellte an die Gesellschaftswissenschaften nicht nur den Anspruch, „sich mit der Weiterentwicklung des Gemeinwesens auseinander zu setzen“, er wollte das „Gemeinwesen“ nicht nur analysieren und verstehen, sondern stabilisieren. Die Soziologie als herausragende Gesellschaftswissenschaft musste sich nicht um Beziehungen zur „Praxis“ bemühen, sie war, im allumfassenden Sinn, selber Praxis. 

Die Aktualität der „staatsbürgerlichen Mission“ Durkheims zeigt sich im Selbstzweifel moderner Gesellschaften an ihrer Bindungskraft. Immer drängender stellt sich in identitätsschwachen und wertbeliebigen Gemeinwesen die Frage, ob die Institutionen des säkularen Staates in der Lage sind, Werte und Überzeugungen zu vermitteln, die unsere Gesellschaft zusammenhalten und lebenswert machen. Die Frage nach der Möglichkeit einer weltlichen Moral ist es, die Durkheim zu unserem Zeitgenossen macht. Seine Soziologie ist Moralwissenschaft im doppelten Sinn: sie beschäftigt sich auf der normativen Ebene ebenso mit den Wertorientierungen der Menschen wie im Bereich der Empirie mit ihren tatsächlichen Verhaltensweisen, den mores.

Praxisrelevanz gegen Betriebsblindheit

Als junger Assistent habe ich an der Freien Universität Berlin eine nicht nur selbstbewusste, sondern überhebliche Soziologie kennengelernt. Es war in den post-68er Jahren, als die Soziologie im Schlepptau der obligatorischen Marx-Exegese sich zu einer allumfassenden Deutungsdisziplin der Gesellschaft spreizte. „Praxisrelevanz“ hieß das Schlagwort der Stunde, meinte aber weniger die Beziehung zu konkreten Praxisfeldern als den Anspruch, die Gesellschaft als Ganzes umzuwälzen. Vertreter des Faches traten dabei so provozierend auf, dass von Seiten konservativer Kollegen die Abschaffung der Soziologie gefordert wurde. An der Selbstabschaffung hatte ich kein Interesse, aber ich fand es dringend notwendig, den Begriff der Praxisrelevanz konkret zu unterfüttern. Zusammen mit einem Kollegen verfasste ich ein Memorandum, das in der Tat die Abschaffung der Soziologie forderte – als Hauptfach. Zugleich sollte in Zukunft die Soziologie in der Universität eine herausragende Rolle spielen – als obligatorisches Nebenfach. Kein Jurist würde die Universität verlassen, der nicht Rechtssoziologie gehört, kein Arzt durfte die Approbation erhalten, der nicht Medizinsoziologie studiert hatte. Im Grunde genommen ging es um das Einüben eines soziologischen Blicks, der wie beiläufig „praxisrelevant“ sein würde. Es bedeutete eine etablierte „Praxis“ mit Hilfe der Soziologie mit anderen Augen zu sehen – die Soziologie sollte dadurch zum Heilmittel gegen Betriebsblindheit werden. Als ich später am Institute for Advanced Study in Princeton den großartigen Anthropologen Clifford Geertz kennenlernte, formulierte er die Kernfrage, die der soziologisch oder anthropologisch geschulte Wissenschaftler den von ihm untersuchten „Praktikern“ beim ersten Kontakt stellen sollte: „What do you think you do when you do what you normally do?“ Dies war die Reflexionszumutung, welche die Gesellschaftswissenschaften routiniert an die Praxis richten müssen.

Theorie-Praxis-Balance

Meine Doktorväter – Helmut Schelsky und Dieter Claessens – repräsentierten den Praxisbezug der Gesellschaftswissenschaften auf unterschiedliche Weise. Helmut Schelsky, der Entdecker der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, war der eindrucksvollste, oft rabiat argumentierende konservative Denker, den ich kennengelernt habe, setzte seine Überzeugungen aber harten Praxischecks aus und hielt seine Studenten an, das Gleiche zu tun. Er war kein engstirniger Ideologe und machte Vorschläge zu überraschenden Koalitionsbildungen, welche im Falle der Umsetzung die professionelle Praxis des Faches erheblich verändert hätten. Dazu gehörte die Aufforderung an den „Kontrahenten“ Jürgen Habermas, mit ihm eine „Kleinstgesellschaft für Soziologie auf Zeit“ zu gründen. Meinungsstark, war Schelsky stets „Auf der Suche nach Wirklichkeit“, wie der Titel einer Sammlung seiner Essays heißt. Institutionell drückte sich die Praxisorientierung der von ihm vertretenen Gesellschaftswissenschaft darin aus, dass er seinem professionellen Alltag durch das Pendeln zwischen dem Münsteraner Lehrstuhl und der Sozialforschungsstelle Dortmund eine eindrucksvolle, auch räumlich verankerte Theorie-Praxis-Balance gab.

Dieter Claessens war ebenfalls sowohl in Münster als auch in Dortmund verortet, bevor er einen Ruf an die Freie Universität Berlin annahm. Geprägt von der typisch deutschen Tradition der philosophischen Anthropologie wurde die Soziologie der Familie und der frühkindlichen Entwicklung zu seinem bevorzugten Praxisfeld, auf dem die Theorie ihre Einsichtsfähigkeit zeigen konnte. „Ganz praktisch“ wurde seine soziologische Tätigkeit dadurch, dass er, zusammen mit seinen Assistenten, eine regelmäßig aktualisierte „Sozialkunde der Bundesrepublik Deutschland“ veröffentlichte.

Soziologie als „dritte Kultur“

Sowohl Schelsky als auch Claessens akzeptierten, dass ich meine Doktorarbeit zu einem Thema schreiben wollte, das sich auf den ersten Blick einer soziologischen Analyse eher zu entziehen schien: Melancholie. Gegenüber dieser Vermutung klang der Titel der Dissertation – Melancholie und Gesellschaft – trotzig: „Das Thema hat nichts mit Soziologie zu tun? Das wollen wir doch einmal sehen!“ Der „soziologische Blick“ zeigte sich in der Forschungsmaxime, nicht danach zu suchen, was Melancholie sei, sondern herauszufinden was es bedeute, wenn jemand sich selbst oder andere als „melancholisch“ bezeichne. Damit war die Voraussetzung für die „Disziplinierung“ eines auf den ersten Blick Soziologie-fernen Themas geschaffen. An die Stelle von Substanzvermutungen traten jetzt Funktionsanalysen – die Praxis der Melancholie-Zuschreibungen wurde zum Thema. Dieser Ansatz erwies sich auch auf überindividueller Ebene als fruchtbar: „French Boredom“ oder „Maladie anglaise“ waren eben keine Kennzeichen von Nationalcharakteren, sondern polemische Melancholie-Etiketten.

Literarische Quellen spielten in diesem Themenfeld eine wichtige Rolle. In vielen Werken der „Belletristik“ fanden sich Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhänge, die es an Präzision und Plausibilität mit den Enquêten und Analysen der Soziologen aufnehmen konnten. Gesellschaftliche Praktiken, in denen sich die kulturellen Selbstverständlichkeiten einer Epoche oder eines Milieus spiegelten, bildeten sich in den Gesellschaftsromanen eines Balzac oder Dickens oft eindrücklicher ab als in den Gesellschaftswissenschaften. Die Soziologie war eine „dritte Kultur“, die seit ihrer Entstehung zwischen der narrativen Anziehungskraft der Literatur und dem methodologischen Rigorismus der Naturwissenschaften schwankte.

Voraussetzungen der eigenen Forschungspraxis reflektieren

Die Reflexionszumutung gegenüber den Vertretern der Praxis richteten die Gesellschaftswissenschaften auch an sich selbst. Systematisch geschah dies zunächst in der Wissenssoziologie und später in den „Social Studies of Science“. Als Ergebnis zeigte sich, dass die Praxis der soziologischen Wissensproduktion oft erheblich von der Selbstwahrnehmung der Forscher abwich. Dies galt auf der Makroebene beispielsweise für Annahmen über das Entstehen der modernen empirischen Naturwissenschaften wie auf der „Mikroebene“ für Fallstudien, in denen die Schritte rekonstruiert wurden, die im Labor zu wichtigen Entdeckungen führten. Das Wissenschaftssystem wurde zu einem bevorzugten Objekt gesellschaftswissenschaftlicher Forschung.

Besonders fruchtbar wurde die Analyse der Wissenschaftspraxis auf der Ebene der Institutionen. Deren Definition als „auf Dauer gestellte Verhaltensweisen“ lernte ich früh im Soziologiestudium kennen. Institutionen waren Praxisroutinen – und forderten die Gesellschaftswissenschaften heraus, deren Mechanismen zu untersuchen und Alternativen herauszufinden. Die Institution, in der ich den größten Teil meines wissenschaftlichen Lebens verbracht habe, ist das Wissenschaftskolleg zu Berlin. Wie andere Institutes for Advanced Study lädt das Wissenschaftskolleg in jedem Jahr eine Gruppe von Gelehrten ein, damit sie ungestört von administrativen Verpflichtungen Forschungsthemen ihrer Wahl bearbeiten können. Im Prinzip kommen die sogenannten „Fellows“ aus allen Disziplinen, wobei die Gesellschaftswissenschaften in der Regel den größten Anteil ausmachen. In dieser Gemeinschaft auf Zeit stellt sich jedem einzelnen Mitglied ein Übersetzungsproblem: Es muss die Auswahl einer Forschungsfrage, deren epistemologische Grundannahmen, die Entscheidung für bestimmte Methoden und schließlich die Forschungshypothesen Wissenschaftlern anderer Disziplinen verständlich machen. Unweigerlich kommt es dabei zu einer Konfrontation zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, wobei oftmals die Gesellschaftswissenschaften eine vermittelnde Rolle spielen. Die Bildung interdisziplinärer Kontakte zwischen den Fellows ist in diesem Zusammenhang weniger wichtig als der Druck auf den Einzelnen, anderen und sich selbst Rechenschaft über die Voraussetzungen der eigenen Forschungspraxis abzulegen. Jedem stellt sich die Geertz’sche Frage. Routinen verlieren ihre Selbstverständlichkeit, man sieht das eigene Tun mit neuen Augen, übt sich, um eine Passage aus Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ zu zitieren, im „Möglichkeitssinn“: „Wenn es ... Wirklichkeitssinn gibt, dann muss es auch etwas geben, was man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen, sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehn; und wenn man ihm von etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Für die Gesellschaftswissenschaften gilt es mit Blick auf einzelne Praxisfelder deren „Wirklichkeit“ nicht als unverrückbar anzunehmen: Es könnte auch ganz anders sein.

Zu einem Praxistest wurde für das Wissenschaftskolleg nach 1989 die Initiative zur Gründung von Institutes for Advanced Study in Mittel- und Osteuropa, um mit ihrer Hilfe dem einsetzenden „Brain Drain“ entgegenzuwirken. In Budapest und Bukarest, in Sofia und Sankt Petersburg sollten Institutionen entstehen, die für einheimische Gelehrte ebenso attraktiv waren wie für Forscher aus dem Ausland. Alle Gründungen waren praktische Übungen in Kontextsensitivität: man musste heimische Gepflogenheiten ernst nehmen ohne sich von ihnen einengen zu lassen. Es waren Lernerfahrungen, die zu einer Einsicht führten, die in den Gesellschaftswissenschaften – von der Soziologie bis zur Ethnologie – verallgemeinerbar ist: dem Romantizismus des „local knowledge“ („Die Einheimischen wissen es besser“) darf man ebenso wenig verfallen wie der Arroganz des „universal knowledge“ („Wir sind schließlich die Experten“). Zur erfolgreichen Praxis von Institutionengründungen gehört es, „lokales“ und „universales“ Wissen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern miteinander zu verkoppeln.

Jargonfreiheit wissenschaftlicher Forschung

Zu den ersten Fächern, die ich am Beginn meines Studiums in München belegte, gehörte die Zeitungswissenschaft. Als Hauptfach wählte ich sie bald ab, weil bereits Selbstdefinitionen wie „Die Zeitung ist das Zeitgespräch der Gesellschaft“ die Banalitätsfallen ahnen ließen, in die man beim Studium geraten würde. Dass ich das Fach nicht ganz aufgab, lag an Peter Glotz, der uns Studenten vormachte, wie wirkungsvoll die Publizistik politisch eingesetzt werden kann – und mit dieser Fähigkeit später erheblich zur Profilschärfung der Sozialdemokratischen Partei beitrug. Noch während des Studiums wurde für mich aus der Zeitungswissenschaft die Zeitungspraxis, im Laufe der Zeit schrieb ich als Autor in allen überregionalen deutschen Zeitungen und Wochenzeitungen. Publizistisch tätig zu sein, bedeutete zunächst, „deadlines“ ernst zu nehmen und Zeitungsartikel so präzise wie möglich mit soziologischen Kenntnissen abzusichern ohne dabei in Jargon zu verfallen. Jargonfreiheit wurde aber nicht nur zum publizistischen Ideal – sie wurde auch zu einem Leitmotiv wissenschaftlicher Forschung, deren Ergebnisse so verständlich wie möglich dargestellt werden sollten. Zur bevorzugten Praxis meiner gesellschaftswissenschaftlichen Tätigkeit gehörte neben dem Engagement in Institutionen die Publizistik. Als Soziologe Autor zu sein, bedeutete, Forschungs- und Darstellungsweise gleichen Rang einzuräumen. 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der erweiterten Dokumentation des Symposiums „Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften“, das anlässlich des 90. Geburtstags des Stifters Alois M. Schader am 16. Juli 2018 im Schader-Forum stattfand.

Wolf Lepenies: Soziologie und Praxis. Eine autobiographische Skizze, in: Alexander Gemeinhardt (Hrsg.): Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften. 30 Jahre Schader-Stiftung, Darmstadt 2018, 78-81.

Der Autor:
Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies war von 1984 bis 2006 Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und von 1986 bis 2001 Rektor des Wissenschaftskollegs Berlin.

 

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