Wohn-Pflege-Gemeinschaften in Deutschland. Potenziale, Chancen und Grenzen
Artikel vom 29.04.2015
Ob selbstorganisierte ambulant betreute Wohn-Pflege-Gemeinschaften sich als tragfähiges und geschlechtergerechtes Zukunftsmodell gesellschaftlich notwendiger Sorgearbeit eignen, war Thema der Fachtagung „Wohn-Pflege-Gemeinschaften in Deutschland. Potenziale, Chancen und Grenzen einer alternativen Pflege- und Betreuungsform aus einer Geschlechterperspektive“, die Prof. Dr. Birgit Riegraf und Dr. Romy Reimer von der Universität Paderborn gemeinsam mit der Stiftung Diakonie Hessen und der Schader-Stiftung durchführten. Von Monika Berghäuser
Aktuelle Bedarfe des Wohnens, Betreuens und Pflegens
Bieten ambulante Wohn-Pflege-Gemeinschaften neue Handlungsspielräume im Geschlechterverhältnis? Mit dieser Frage leitet Birgit Riegraf von der Universität Paderborn die Fachtagung „Wohn-Pflege-Gemeinschaften in Deutschland“ ein, die am 27. März 2015 im Schader-Forum, Darmstadt, stattfand. Hat dieses Versorgungsmodell angesichts wegbrechender „gewohnter“ Strukturen Potenzial, Pflegearbeit in Zukunft gerechter zwischen Frauen und Männern aufzuteilen – sowohl im Pflegeberuf als auch in der Angehörigenarbeit? Pflege, die traditionell Frauensache ist, unter dem Gesichtspunkt Gender zu betrachten, findet Dagmar Jung, Referentin für angewandte Gerontologie der Diakonie Hessen, spannend, auch unter dem Aspekt, wie sich eine stärkere Beteiligung von Männern an Pflegeaufgaben im Arbeitsumfeld auswirkt. Romy Reimer, Universität Paderborn, betont in ihrem Eröffnungsvortrag, wie sehr durch demographischen Wandel, Pflegenotstand und die sich verändernden Lebensentwürfe von Frauen traditionelle Arrangements der Care-Arbeit unter Druck geraten sind und damit auch eine Krise der Versorgung entsteht. Sie stellt Ergebnisse einer soziologischen Studie zur geschlechtergerechten Organisation von Pflege- und Betreuungsarbeit in zwölf teils selbstverwalteten, teils trägerverantworteten Pflegewohngruppen vor.
Pflege- und Betreuungsdienstleister in neuem Arbeitsfeld
Ambulante Dienstleistungsanbieter übernehmen die Aufgaben der Pflege und Betreuung in Wohn-Pflege-Gemeinschaften, deren Konzept sich am normativen Leitbild der Familie orientiert. Damit verschieben sich herkömmliche Grenzen zwischen dem öffentlichen, traditionell männlich geprägten und dem privaten, traditionell weiblich konnotierten Bereich. Die Studie zeigt die zentrale Bedeutung genuin weiblicher Attribute wie Empathie und kommunikative Kompetenzen für Pflege-Wohn-Gemeinschaften, insofern sie konzeptionell auf eine individuelle und an persönlichen Bedürfnissen orientierte Versorgung ausgerichtet sind.
Der steigende qualitative Anspruch stärkt einerseits das Selbstwertgefühl der Fachkräfte. Andererseits bringt der enge finanzielle Spielraum, in dem sich viele der Wohngemeinschaften bewegen müssen, oft prekäre Beschäftigungsverhältnisse mit sich: Examinierte Kräfte leisten qualifizierte Pflege nur in Teilzeit, während für Betreuung und hauswirtschaftliche Aufgaben vor allem geringfügig Beschäftige eingestellt werden. Es kommt vor, dass zu morgendlichen „Stoßzeiten“ Alltagsbegleiterinnen pflegerische Aufgaben übernehmen, ohne dafür ausgebildet zu sein. Finden häufige Personalwechsel im Tagesablauf statt, kann das den Aufbau einer kontinuierlichen persönlichen Beziehung zu den Bewohnerinnen und Bewohnern erschweren. Alles in allem hat sich weder an der schlechten Bezahlung noch an der geringen gesellschaftlichen Anerkennung dieser belastenden anspruchsvollen Tätigkeit etwas geändert.
Im anschließenden lebhaften Gespräch der Expertinnen und Experten aus Politik, Praxis und Wissenschaft wird noch einmal hervorgehoben, wie sehr es bei der Betreuung dementer Menschen auf die Fähigkeit zur Empathie ankommt. Unter Fachkräften gilt die Tätigkeit in ambulanten Wohngruppen, wo sie individueller auf Bewohnerinnen und Bewohner eingehen können, im Vergleich zur zeitlich getakteten „Tourenpflege“ oder zur oft nivellierenden stationären Versorgung im traditionellen Heim als attraktiver und zufriedenstellender – auch aus Sicht von Männern im Pflegeberuf. In Ballungsräumen, wird festgestellt, sind Männer, auch zugewanderte, ohnehin „in der Pflege angekommen“. Doch manche Bewohnerin oder Angehörige wünscht ausdrücklich Frauen als Pflegende. Die Dramatik des drohenden Pflegenotstands führt ein statistischer Wert vor Augen: Jeder dritte Schulabgänger müsste den Pflegeberuf ergreifen, um die erforderliche Zahl von Fachkräften auf Dauer zu gewährleisten.
Ambulant betreute Wohn-Pflege-Gemeinschaft – für wen?
Die meisten Älteren wünschen sich, möglichst lange und autonom in ihrer Wohnung zu leben, verdeutlichen Sabine Matzke vom Landesbüro innovative Wohnformen und Thomas Risse, Landesbüro altengerechte Quartiere, beide Nordrhein-Westfalen, in ihrem Impuls zum Workshop „Bedarfe und Strategien zu Wohnen, Betreuung und Pflege im Alter und die Bedeutung von Demenz-Wohngemeinschaften“.
Demente Menschen sind meist nicht mehr in der Lage, eigenständig über den Umzug in einen Haushalt zusammen mit weiteren Mieterinnen und Mietern zu entscheiden. Inwieweit überschaubare Gruppenwohnformen mit ambulanter Pflege und Betreuung eine qualitativ hochwertige, weitgehend alltagsnahe und individuelle Lebensführung zulassen, ist objektiv schwer messbar. Doch wird berichtet, dass die ambulante Wohn-Pflegeform vielen Bewohnern offensichtlich gut tut. Die gemeinschaftliche Lebensweise hilft gegen Vereinzelung und Einsamkeit. „Wie schön, wieder nach Hause zu kommen“, freut sich eine Bewohnerin nach einem auswärtigen Termin bei der Rückkehr in ihre Wohngemeinschaft.
Anhand welcher Kriterien entscheidet sich, wer in eine selbstorganisierte Wohngemeinschaft einzieht – und wer nicht? Das hängt von der sozialen Kompetenz, dem Bildungsstand und den organisatorischen Fähigkeiten der Angehörigen ab, betont Dr. Josef Bura, Forum Gemeinschaftliches Wohnen e.V., in seinem einleitenden Vortrag zum Workshop „Geschlecht, Bildung und soziale und kulturelle Herkunft – Zugänge zu Wohn-Pflege-Gemeinschaften“. Wer eine selbstverwaltete Wohngemeinschaft aufbaut und führt, muss in der Lage sein, Verträge zu schließen, Satzungsfragen zu klären, eine Auftraggebergemeinschaft zu konstituieren, individuelle und gemeinschaftliche Interessen auszutarieren wie auch Gremien- und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Da es bei der Auswahl neuer Bewohner oft zu einer „sozialen Selektion“ durch die Angehörigen kommt, berichtet Birgit Riegraf, verfestigt sich die Tendenz zum „Mittelschichtsprojekt“.
Eine sichere Prognose, ob die Einzelnen damit rechnen können, bis zum letzten Atemzug in der Wohngruppe zu bleiben, ist schwierig. Funktioniert das Modell Pflege-Wohngemeinschaft, wenn mehr als die Hälfte der dementen Bewohner in hohem Maß pflegebedürftig ist? Ist ambulante Pflege dann überhaupt noch finanzierbar?
Zugangshindernis Finanzierung
Insgesamt erweist sich die Frage der Finanzierung bei ambulanten gemeinschaftlichen Betreuungsformen als gravierendes Problem. Für selbstorganisierte Wohngemeinschaften verschärft sich die Situation, da Bau oder Umbau sowie die Einrichtung der Pflegewohnung über die Mieten zu refinanzieren sind. Selbstzahler müssen nicht selten ihr „Häuschen“ einsetzen oder vermögend sein, oft verbunden mit der bangen Frage, wie lange die vorhandenen Mittel ausreichen. Sozialhilfeempfänger sind auf die Zahlungsbereitschaft der Kommune angewiesen. In Gebieten mit hohen Mieten lehnen die Sozialhilfeträger das häufig ab. Immer wieder gibt es Fälle, in denen die Betroffenen aus der Pflegewohnung ausziehen müssen. Deshalb lautet eine mehrfach vorgebrachte Forderung an Bund und Länder, diese politisch gewollten neuen Wohn-Pflegeformen finanziell im gleichen Umfang zu fördern, wie es bislang im stationären Bereich der Fall ist. Dabei sollten Investitionen nicht nur in barrierefreie Bäder fließen, sondern auch in den Aufbau unterstützender Strukturen und Rahmenbedingungen.
Die Kontrollfunktion der Angehörigen
Da demente Menschen sich nicht selbst helfen können, kommt den Angehörigen in selbstbestimmten Wohngemeinschaften eine wichtige Schutzfunktion zu, um die strukturelle Unabhängigkeit der Wohnform auf Dauer sicherzustellen. Für die gesetzlich vorgeschriebene geteilte Verantwortung braucht es zunächst kooperationsbereite Pflegeanbieter, die gegenüber den Mieterinnen und Mietern der Wohngemeinschaft eine Gastrolle einnehmen. Vor allem jedoch kommt es auf einen starken Status der Angehörigen an. Sie verantworten die Gestaltung des Lebensumfelds und steuern die Koordination der beteiligten Berufsgruppen. Andernfalls entstehen, allein aufgrund der permanenten Anwesenheit des Pflegedienstes, „verdeckte Kleinstheime“, in denen lediglich etwas mehr Mitsprache möglich ist.
Im Plenum besteht Einigkeit, dass nur ausgesprochene „Powermenschen“ in der Lage sind, dieses anspruchsvolle Pensum eigenständig zu bewältigen – zumal sie als Pioniere einer sich noch entwickelnden Versorgungsform agieren. Wie beobachtet wird, tendieren Angehörige häufig dazu, die herkömmliche Arbeitsteilung beizubehalten: Frauen gelten als zeitlich flexibler und übernehmen eher Tätigkeiten innerhalb der Wohngemeinschaft. Männer, häufiger durch Berufstätigkeit gebunden, kümmern sich vorwiegend um administrative Aufgaben.
Unterstützung für Angehörige
Nach Josef Buras Einschätzung ist eine Überforderung der Angehörigen durch die hohen landesgesetzlichen Hürden für die Herstellung und Gewährleistung der Selbstbestimmtheit gleichsam vorprogrammiert. Mit Gesetzesnovellierungen ziehen auch erste Bundesländer aus diesem Befund ihre Konsequenzen.
Nicht überall existieren wirkungsvolle unterstützende Strukturen. Wie der Vorsitzende des Fördervereins Diakoniestation Nördliche Bergstraße e.V., Gerhard Etzold-Jordan, zur Einführung in den Workshop „Erfahrungen aus der Praxis. Das Beispiel ,Altes Forstamt‘ Jugenheim“ schildert, hat der Verein das Angebot initiiert, Spenden und Zuschüsse akquiriert und begleitet das Projekt dauerhaft. Die Partner oder Töchter und Söhne dementer Menschen sind durch diese Aktivitäten von einem Teil der organisatorischen Aufgaben im Bereich Vermietung, Koordination und Öffentlichkeitsarbeit befreit.
Eine externe Unterstützung und Möglichkeit zum Austausch zwischen Angehörigen bieten Beratungsstellen. Sie existieren bisher aber nur in der Hälfte der Bundesländer. Wohnpaten oder Wohnbeiräte zur Begleitung der Angehörigen sind Formen des ehrenamtlichen Engagements, die zur Sicherung der Selbstbestimmung beitragen. In Krisensituationen kann es hilfreich sein, wenn moderationserfahrene WG-Begleiter zur Verfügung stehen. Manche der hoch engagierten Angehörigen sind trotz eigener Belastung bereit, ihr Wissen und ihre Erfahrung an neue Gruppen weiterzugeben.
Wie groß die Bereitschaft Ehrenamtlicher einzuschätzen ist, sich an der Betreuungsarbeit in Pflegewohngemeinschaften direkt zu beteiligten, beurteilen die Teilnehmenden unterschiedlich. Eine bessere Organisation der Schulung, Begleitung und Koordination ehrenamtlich Engagierter und deren Unterstützung seitens der Politik werden gefordert.
Wohn-Pflege-Angebote in ambulanter Trägerschaft
In anbieterverantworteten Wohngemeinschaften liegen die organisatorischen und koordinativen Aufgaben in den Händen des Trägers. Nur soweit ein entsprechendes Beteiligungsgremium besteht, sind Angehörige in die Abläufe eingebunden. Da infolge des demographischen Wandels die Zahl der Alleinlebenden ohne Verwandte zunimmt, wächst der Bedarf an ambulanten Angebotsformen, die ohne Mitwirkung von Angehörigen auskommen. Namentlich für gesetzlich betreute Menschen mit Pflegebedarf muss es Alternativen geben, denn in einer selbstorganisierten Wohnform können sich Berufsbetreuer mit häufig großem Klientenkreis nicht im notwendigen Umfang einbringen. Hier sind trägerverantwortete ambulante Wohn-Pflegeformen ein wichtiger Baustein im Pflegesystem, ebenso Angebote wie etwa das Bielefelder Modell oder das Projekt „SOwieDAheim“, eine private stundenweise Tagespflege mit Unterstützung durch eine weitere Betreuungsperson.
Pflegepolitik und gerechte Verteilung der Pflegearbeit
Staatliches Wohlfahrtsreglement kann durch eine Professionalisierung der Versorgung zu einer gerechteren Verteilung der informellen Pflegearbeit zwischen Frauen und Männern beitragen, stellt Prof. Dr. Hildegard Theobald von der Universität Vechta in ihrem Vortrag anhand eines Vergleichs der Pflegepolitiken in Deutschland und Schweden fest. Nach ihren Erkenntnissen kommt eine höhere Quote formeller Pflege der Geschlechtergerechtigkeit bei Angehörigen zugute, so wie im schwedischen kommunalen Versorgungsmodell, das Angehörige weitgehend von Pflege und deren Finanzierung entlastet. Den verbleibenden geringen Anteil informeller Pflegearbeit teilen sich Frauen und Männer gleichberechtigt auf. Dagegen zielt das deutsche Modell der aktiven Subsidiarität auf eine Unterstützung der Familien, in deren Verantwortung die Organisation der Pflege aber verbleibt. Der größere zeitliche Aufwand erzwingt oft eine Einschränkung oder Unterbrechung der Erwerbstätigkeit. Vorwiegend sind also die Frauen gefordert, denn Männer leisten informelle Pflege umso weniger, desto mehr Zeit diese in Anspruch nimmt.
Resümee
Menschen mit Demenz fühlen sich in großen Strukturen verloren. Da selbstorganisierte Wohn-Pflege-Gemeinschaften als flächendeckendes Angebot weder geeignet sind noch ausreichend zur Verfügung stehen, ist eine Vielfalt weiterer kleinräumiger Versorgungformen, auch in Kombination unterschiedlicher Wohn- und Betreuungstypen, unverzichtbar: neben trägerverantworteten ambulanten Pflege-Wohngruppen und stationären Hausgemeinschaften auch Angebote auf Quartiersebene.
Das Modell gemeinschaftlichen Wohnens und Pflegens befindet sich noch in einer Probephase, in der Fehler nicht immer zu vermeiden sind. Das sollte niemand daran hindern, diesen Weg weiter zu gehen. An die Adresse der Politik geht die Forderung, ambulante Wohn-Pflegeformen wirksamer finanziell zu unterstützen. Zumal dieses Care-Arrangement dazu beiträgt, Anforderungen rund um die Pflege und Betreuung von Angehörigen geschlechtergerecht zu organisieren und insbesondere Frauen nicht in der häuslichen Pflege zu binden, sondern ihnen eine eigenständige Berufstätigkeit zu ermöglichen.
Wie jedes gute „Nischenprodukt“ können selbstverantwortete Pflege-Wohngemeinschaften als Leuchtturmprojekt ein Vorbild für zukünftige Politikgestaltung abgeben. Vielversprechende Ansätze und Ideen, die sich in der Praxis bewähren, lassen sich in andere, auch stationäre Versorgungsformen übertragen, ohne dass der Zugang zu diesen „besseren“ Heimen dann wieder auf einen begrenzten Interessentenkreis beschränkt sein darf. Übergeordnetes Ziel unter wohlfahrtsstaatlichen Gesichtspunkten sollte ohnehin eine gute Versorgung für alle sein.
Die Autorin: Monika Berghäuser ist Juristin und Soziologin.