Führen prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu Politikverdrossenheit?
Artikel vom 03.08.2016
Welche Konsequenzen hat eine Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsbedingungen auf die Beteiligung der betroffenen Menschen am politischen Prozess? Ist die Politikverdrossenheit vieler, vor allem benachteiligter Menschen die Folge einer mangelnden Repräsentation ihrer politischen Präferenzen und konkreten Interessen?
Drei Mechanismen zur Erklärung geringer politischer Beteiligung
Diese Fragen wurden im Dialog-Café „Prekarisierung und Demokratie“ diskutiert, das auf der Tagung „Ziemlich beste Feinde. Das spannungsreiche Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus“ vom 23. bis 25.06.2016 im Schader-Forum stattfand. Impulsgeber waren Prof. Dr. Paul Marx (University of Southern Denmark, Odense) und Prof. Dr. Armin Schäfer (Universität Osnabrück).
Als gesichert gilt: Armut und Arbeitslosigkeit geht einher mit geringer politischer Beteiligung. Dabei gilt dieser Zusammenhang nicht nur für Wahlen, sondern auch für andere Formen der politischen Beteiligung und ist in Gesellschaften mit höherer sozialer Ungleichheit deutlich ausgeprägter. Prekarität geht als Sammelbegriff über Einkommensarmut hinaus und umfasst alle gravierenden sozialen Probleme, die zu Unsicherheit bei den betroffenen Personen führen.
In seinem Impulsvortrag nennt Paul Marx drei Mechanismen, die den Zusammenhang zwischen geringer politischer Beteiligung und Prekarität erklären können. Aus individuell-psychologischer Perspektive wird betont, dass von Prekarität betroffene Menschen von dieser Situation stark absorbiert sind. Prekäre Lebenssituationen sind sehr stressig und erfordern einen großen Teil der kognitiven und emotionalen Ressourcen der Betroffenen. Damit kann weniger Aufmerksamkeit und Interesse für politische Prozesse aufgewendet werden. Hinzu kommt die Erfahrung einer geringeren Selbstwirksamkeit, die sich aus der prekären sozialen und wirtschaftlichen Lebenssituation auf die Teilnahme an politischen Prozessen überträgt. Der zweite Mechanismus betrifft das Sozialleben. Geringe ökonomische Ressourcen, Stigmatisierungserfahrungen und Schamgefühl im Fall von Armut beeinflussen das soziale Leben negativ und damit die sozialen Bedingungen für politische Beteiligung: Politische Beteiligung wird maßgeblich getragen von der Mobilisierung und Verteilung von Informationen durch soziale Kontakte und Netzwerke. Als dritter Mechanismus wird die fehlende Repräsentation der politischen Präferenzen von Menschen in prekären Lebenslagen genannt, die sich in Nicht-Beteiligung, aber auch in Protestwahl auswirkt.
Die Dimensionen von Prekarität
Die geringere politische Beteiligung von Menschen in prekären Lebenslagen beschränke sich nicht nur auf die Wahlbeteiligung, ist sei auch im Ehrenamt, Vereinsleben und bürgerschaftlichen Engagament zu beobachten. Dabei stellt sich die Frage, inweit Prekarität ein eigenständiger Faktor ist oder als eine Klassen- oder Schichtvariable gesehen werden sollte. Einerseits korrelieren Prekaritätserfahrungen (z.B. Arbeitsmarktrisiko) nur bedingt mit der Schichtzugehörigkeit, es gibt diese Erfahrungen auch bei Hochschulabsolventen. In höheren Einkommensschichten wirkt sich Arbeitslosigkeit sogar stärker negativ auf die individuelle politische Einflusserwartung („political efficacy“) aus. Zudem hat atypische Beschäftigung Einfluss auf die politischen Präferenzen. Andererseits sind für politische Beteiligung auch kognitive Kompetenzen sowie Bildungsniveau und Klassenzugehörigkeit relevant. Ebenso ist Politikverdrossenheit auch unter Industriearbeitern verbreitet, die nicht direkt von atypischen und unsicheren Arbeitsverhältnissen betroffen sind.
Ausgehend vom Begriff der Prekaritätserfahrung wird vorgeschlagen, weniger die direkte persönliche Betroffenheit, als vielmehr die Zugehörigkeit zu einer überproportional betroffenen Gruppe in den Blick zu nehmen und diese Gruppen stärker auszudifferenzieren. Der wirtschaftliche Niedergang des eigenen Arbeitssektors könne, unabhängig von einer persönlichen Betroffenheit, ein Bedrohungs- und Verlustgefühl hervorrufen. Prekarität habe zudem nicht nur eine ökonomische Dimension, sondern auch eine sozialpsychologische. Wo Wertschätzung stattfindet, wirke sich diese positiv auf die empfundene politische Selbstwirksamkeit aus. Ökonomisch prekäre Lebenssituationen laufen nicht zwangsläufig auf Politikverdrossenheit hinaus.
Auch in der Diskussion des Zusammenhangs von Prekarität und Rechtspopulismus wird die ökonomische zugunsten einer kulturellen Dimension von Prekarität beiseite gestellt. Die höhere Empfänglichkeit von Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit für populistische Politik, für die es empirische Hinweise gibt, liege in der Erfahrung begründet, innerhalb des öffentlichen Diskurses nicht repräsentiert zu sein. Dies führe in einem Bumerang-Effekt hin zu mehr Rechtspopulismus. Der Rechtspopulismus könne insofern tatsächlich etwas zu mehr Beteiligung an der Demokratie beitragen, indem er politikverdrossene und von der Repräsentation ausgeschlossene Menschen politisiert.
Fehlende Repräsentation
In der zweiten Runde des Dialog-Cafés steht die Frage im Mittelpunkt, ob ärmere Schichten tatsächlich politisch nicht repräsentiert sind. Der Impulsgeber Armin Schäfer vertritt die These, dass das Gefühl der mangelnden Repräsentation niedriger Einkommensschichten durchaus berechtigt sei. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern untersucht er die Zustimmung bzw. die Ablehnung bestimmter Klassen, Schichten, Bildungs-, Einkommens- oder Altersgruppen zu Fragen aus nahezu allen politischen Themenbereichen, die in Meinungsumfragen seit 1980 gestellt wurden. Neben der Zustimmung wird auch untersucht, wie die politischen Entscheidungen tatsächlich ausgefallen sind, und dem Willen welcher Gruppen sie entsprechen. Dabei zeigt sich folgendes Muster: Je höher die soziale Schicht, desto wahrscheinlicher ist es, dass der eigene politische Wille auch realisiert wird. Umgekehrt bedeutet das eine geringere Repräsentation niedriger Schichten.
Die Unterrepräsentierten wählen eher rechts als links, da sie mit den linken Parteien auf der „kulturellen Achse“, der Skala von Grün-alternativ-libertär (GAL) zu traditionell-autoritär-nationalistisch (TAN), nicht übereinstimmen. Festgestellt wird außerdem, dass die Eliten, d.h. politischen Entscheidungsträger in einem doppelten Sinne liberaler seien, sowohl auf einer Links-Rechts-Achse, als auch auf der „kulturellen Achse“.
Zwischen Wählerpräferenzen und Politikentscheidungen
Die Diskussion beginnt mit der Feststellung, dass auch für die USA, trotz der unterschiedlichen politischen Systeme, bereits ein solches Muster nachgewiesen ist. Zwar hätten sich dort für die Außenpolitik kaum Unterschiede zwischen Oben und Unten gefunden, für die Sozialpolitik jedoch sehr deutliche. Zur Frage, weshalb der Demos eine solche Schieflage der Repräsentation über 30 Jahre hingenommen habe und erst jetzt ein Aufbegehren in Form von Protestwahl stattfindet, wird angemerkt, dass es zunächst die Möglichkeiten zur Protestwahl geben müsse. Seit den 1980er Jahren sei die Reaktion auf unzureichende Repräsentation vor allem der Rückzug, die Nicht-Beteiligung gewesen. Wenn es kein Angebot zur Protestwahl gibt, wird eher nicht gewählt. Gibt es ein Protestwahlangebot, wird dieses wahrgenommen.
Zudem heißt es, dass die unteren Schichten häufig Parteien wählten, die ihre Präferenzen nicht vertreten. Erklären lässt sich dies auf verschiedene Weise. Einerseits könne die Varianz der Präferenzen innerhalb der Schichten eine Rolle spielen, da Schichten mit sehr unterschiedlichen Präferenzen schwieriger zu vertreten sind. Zum anderen seien Präferenzen in hohem Maße sozial konstruiert und es bestünde durchaus auch eine umgekehrte Kausalität, von Politikentscheidungen zu Präferenzen. Hinzu komme eine geringere Kohärenz der Präferenzen der unteren Schichten, insbesondere bei sehr konkreten Policy-Fragen. Angesprochen wird auch, dass es neben dem Umsetzen der Policy-Präferenzen noch andere Formen der deskriptiven Repräsentation gibt, die etwa durch die Identifikation mit Parteien oder Personen wirken. Das Mittel der Parteienidentifikation zur Reduzierung solcher kognitiven Dissonanzen falle allerdings weg, wenn nur noch aus Protest oder gar nicht mehr gewählt wird. Prinzipiell müsse in Bezug auf die im Impuls vorgestellte Forschung die Länge des Prozesses von Wählerpräferenzen hin zu Politikentscheidungen berücksichtigt werden, bei dem noch eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen sind, die Wähler wie politische Entscheidungsträger beeinflussen.
Die Frage, inwieweit die Eliten den unteren Schichten Präferenzen vorgeben, etwa über Behauptung, dass Maßnahmen zu Lasten bestimmter Gruppen diesen eigentlich nutzen würden, wurde am Beispiel der Hartz-4-Gesetzgebung debattiert. Diese sei damit begründet worden, der deutsche Sozialstaat werde so stabilisiert. Am Schicksal der SPD seit 2005 könne aber man nachvollziehen, dass solche Begründungen nicht übernommen worden seien. Generell könne angesichts der Diskrepanz zwischen den Präferenzen von Oben und Unten nicht davon gesprochen werden, dass die Eliten den unteren Schichten die Präferenzen erfolgreich vorgeben würden.