Die Rolle von Bildung im Integrationsprozess
Artikel vom 10.05.2016
Die zweite Denkwerkstatt der Veranstaltungsreihe „Herkunft - Ankunft - Zukunft“ zum Thema der Integration von Geflüchteten am 21. April 2016 widmete sich der Frage, welche Rolle Fragen der Bildung bei dieser gesamtgesellschaftlichen Herausforderung einnehmen. Von Vera Elena Albrecht und Natascha Riegger
Denkwerkstatt 02 – Bildung
Bildung ist für Kinder und Jugendliche zentral, um ihnen Zugänge zu gesellschaftlicher Teilhabe zu eröffnen. Unter diesem Gesichtspunkt widmet sich die zweite Denkwerkstatt zur Integration Geflüchteter dem Schwerpunkt Bildung. Alexander Gemeinhardt, Vorsitzender des Vorstands der Schader-Stiftung, ordnet das Thema Bildung als Dimension gesellschaftlicher Teilhabe in den gesellschaftswissenschaftlichen Kontext der Stiftung ein.
Susanne Spindler, Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule Darmstadt und Mitglied des Instituts für Soziale Arbeit und Sozialpolitik, leitet inhaltlich in das Thema ein. Sie betont, dass beim Umgang mit Kindern und Jugendlichen immer die damit einhergehenden Rechte und der besondere Schutz von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt werden muss. Dies gilt auch beim Thema Bildung. Sie verweist auf die Kinderrechtskonvention, die auch von der Bundesrepublik unterzeichnet wurde. Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind während der Flucht und auch danach, wie etwa in den Gemeinschaftsunterkünften oder durch einen ungeklärten Asylstatus, besonders großen Belastungen ausgesetzt. Diese Problemlagen betreffen alle geflüchtete Menschen, prägen sich jedoch bei Kindern und Jugendlichen oft verstärkt aus. In dieser Situation nimmt Bildung einen umso größeren Stellenwert ein:Bildung ist der zentrale Ansatzpunkt zur gesellschaftlichen Teilhabe. Bildung ist dabei mehr als die Vermittlung von Wissen allein. Kinder und Jugendliche werden in soziale Netze und über Schulen auch institutionell eingebunden. Geflüchtete schreiben Bildung außerdem einen anderen, größeren Stellenwert zu, so Susanne Spindler: Durch die Flucht haben die Menschen viele Verluste materieller und emotionaler Natur erlitten. Bildung ist etwas, das man in sich trägt und nicht verlieren kann. Dieses inkorporierte kulturelle Kapital ist gerade nach den Verlusterfahrungen von großer Bedeutung für geflüchtete Menschen. Auch Bildungsorte sind für geflüchtete Kinder und Jugendliche sehr wichtig. Es sind Orte, die sie wieder in eine alltägliche Lebensführung zurückbringen und damit ein Stück weit Normalität in ihr Leben tragen.
Das Bildungssystem steht, Susanne Spindler zufolge, durch die große Anzahl an Geflüchteten vor einer erheblichen Herausforderung. Um diese zu meistern, müssen verschiedene grundlegende Fragen gestellt werden: Wie kann das Bildungssystem dieser Situation gerecht werden? Wie können Zugänge für möglichst breite Gruppen auf unterschiedlichen Ebenen geschaffen werden? Wie können Bildungseinrichtungen zu sicheren sozialen Orten für Geflüchtete werden? Welchen Beitrag kann Soziale Arbeit zu dieser Aufgabe leisten und welche Rolle kann die Zivilgesellschaft in diesem Prozess spielen? Dabei muss auch berücksichtigt werden, so Susanne Spindler, dass Bildungsteilhabe alleine nicht zu einer vollständigen Integration führen kann. Verschiedene Hürden, wie beispielsweise der Aufenthaltsstatus, müssen mitgedacht werden. Langfristig stellt sich außerdem die Frage, wie die entwickelten „Willkommenkulturen“ in „Willkommenstrukturen“ übertragen werden können.
Zur Rolle von Bildung im Integrationsprozess
Aus wissenschaftlicher Sicht beleuchtet Prof. Dr. Doron Kiesel, Wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland und Professor für Interkulturelle und Internationale Pädagogik und Soziale Arbeit an der Fachhochschule Erfurt, den Themenkomplex Bildung und Integration. Zunächst stellt er fest, dass man sich bei der Diskussion über die Rolle von Bildung für einen Integrationsprozess nicht in einem geschichtslosen Raum befindet. In Deutschland kann vielmehr auf gemachte Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zurückgegriffen werden. Es ist unabdingbar, so Doron Kiesel, die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik zu betrachten, bevor neue Bildungskonzepte erstellt werden. Es gilt demnach, vergangene Konzepte und ihre Resultate zu beleuchten, um Fehlentwicklungen nicht zu wiederholen. Er beschreibt, dass in Deutschland vor allem in den Erziehungswissenschaften zu spät begonnen wurde, sich mit dem Phänomen „Fremdheit“ auseinanderzusetzen. Stattdessen wurde auf Entwicklungen nur reagiert. Auch wurde erst in den 1990er Jahren begonnen, Kompetenzen anderer klassischer Einwanderungsländer in Form von theoretisch basierten Erfahrungen zu nutzen. In diesem Zusammenhang stellen sich Fragen danach, was man aus der Migrationsgeschichte der Bundesrepublik im Positiven wie im Negativen lernen kann und welche Herausforderungen sich daraus für Politik und der Sozialen Arbeit ergeben.
Ein Beispiel für Erfahrungen, auf die zurückgegriffen werden kann, stellt Doron Kiesel mit dem Konzept der Ausländerpädagogik zur Diskussion. Dieses Konzept ist, so Kiesel, mit einem bestimmten Menschenbild verbunden. Dies gilt auch allgemein: Hinter jedem Konzept, dass diskutiert wird, steht ein bestimmtes Menschen- und Gesellschaftsbild. Auf Grundlage dieser Erkenntnis plädiert er für die Klärung einer grundsätzlichen Frage: Was für eine Vorstellung von Gesellschaft identifizieren wir, um im Kontext dieses gesellschaftlichen Prozesses auf Menschen einzugehen und sie aufzunehmen, damit sie Teil dieses Prozesses werden können? Hinter dem Integrationsprozess steht zunächst eine politische Entscheidung, mit der die Gesellschaft sich auseinander setzen muss: Ist die Gesellschaft und insbesondere die Soziale Arbeit willig, den Prozess der Integration voranzutreiben, Mittel zur Verfügung zu stellen und Arbeit zu investieren? Bleibt diese Frage ungeklärt, so wächst die Gefahr, dass sich relativ unbemerkt Realitäten etablieren, die als Parallelgesellschaften auftreten. Auch ein Unverständnis gegenüber kultureller Vielfalt kann entstehen. Diese Fehlentwicklung war unter dem Konzept der Ausländerpädagogik zu beobachten. Es gilt nun, so Doron Kiesel, solche Fehler nicht zu wiederholen.
Bei dem Konzept der interkulturellen Pädagogik stand dagegen die Bereitschaft im Mittelpunkt, anzuerkennen, dass Migrantinnen und Migranten Menschen mit eigenen Interessen und Biografien sind, die es zu interpretieren gilt. Im Gegensatz zur Ausländerpädagogik wird bei der interkulturellen Pädagogik also nicht mehr von einem festgelegten Menschenbild ausgegangen. Doch auch dies kann die Soziale Arbeit vor Schwierigkeiten stellen. Denn kulturelle Muster werden aus unterschiedlichen Standpunkten verschieden interpretiert. Mit dem Begriff der Interkulturalität verbindet sich ein normatives Konzept das wiederum getragen ist von einem Begriff der Kultur. Wichtig ist, so Doron Kiesel, eine Unterscheidung zwischen den Menschen an sich und der Kultur, die man ihnen zuschreibt, zu treffen. Nur dann kann ein positiver Integrationsprozess gelingen. Integration soll Menschen in einer prozesshaften Entwicklung in die Lage versetzen, Werte und Normen der Aufnahmekultur anzunehmen, ohne die eigene Identität zu verleugnen. Deswegen kann es laut Doron Kiesel keine Verbindung zwischen Integration und Zwang geben. Durch die Anwendung von Zwang in einem Integrationsprozess werden ihm zufolge Widerstände geschürt. Vielmehr ist es notwendig, den Aspekt der Einladung innerhalb der Aufnahmegesellschaft nicht zu vernachlässigen. Es gilt, so Kiesel weiterhin, Zeichen und Strukturen zu schaffen, die transparent aufzeigen, was unsere Gesellschaft an Angeboten zur Verfügung stellt. Für die Soziale Arbeit bedeutet das, ein Netzwerk von Optionen auf unterschiedlichen Ebenen zu schaffen, das nicht nur die Schulsozialarbeit, sondern auch die berufliche Bildung ebenso wie die Begleitung und Orientierung umfasst. Laut Doron Kiesel setzt ein gelungener Integrationsprozess mehr als nur guten Willen und punktuelle Bereitschaft voraus: Integration ist eine institutionelle Herausforderung. Dabei reicht es nicht, Sprachkurse anzubieten sowie Regeln und Gesetzte zu vermitteln. Es ist wesentlich, Geflüchtete in die Lage zu versetzen, Regeln und Gesetze in einen Kontext einzuordnen und zu verstehen. Denn in vielen Herkunftsländern herrscht, so Doron Kiesel, ein autoritäres Bildungskonzept vor, dass zu einem großen Teil auf Auswendiglernen beruht. Dies gilt es nun zu durchbrechen.
Als Zwischenfazit plädiert Doron Kiesel dafür, zunächst nach einem gemeinsamen Menschen- und Gesellschaftsbild zu streben, das dann allen Überlegungen und Konzepten zugrunde gelegt werden kann. Im Bildungssystem gilt es zu hinterfragen, wie wir Kinder mit Lernschwächen aufnehmen können, ohne sie zu marginalisieren. Denn bislang entstehen Prozesse der Segregation in den Schulen immer dort, wo bestimmte Kompetenzen bei den Schülerinnen und Schülern nicht vorhanden sind. Weiterhin gilt es zu berücksichtigen, dass viele geflüchtete Kinder und Jugendliche bislang mit völlig anderen Lernkonzepten und Lernkontexten konfrontiert waren. Doch der Umgang mit Lernmodellen ist eine zentrale Voraussetzung, um Bildungsprozesse zu adaptieren. Doron Kiesel spricht sich für einen Bildungsbegriff aus, der in der Lage ist, auch Menschen einzubinden, die für unseren Bildungshorizont fremd erscheinen. Ein zentraler Punkt dabei ist nicht nur der Spracherwerb, vielmehr muss die Art der Sprachvermittlung berücksichtig werden. Denn mit dem Modus der Sprachvermittlung werden auch kulturelle Charakteristika weitergegeben.
Rosemarie Lück, Kreisbeigeordnete des Landkreises Darmstadt-Dieburg, gibt mit ihrem Input einen Einblick in die praktische Arbeit des Landkreises. Zunächst stellt sie den Begriff „Bildungssystem“ zur Diskussion. Über was sprechen wir, wenn wir über das Bildungssystem sprechen? Laut Rosemarie Lück umfasst das Bildungssystem mehr als nur die schulische Ausbildung von Kindern und Jugendlichen. Das Bildungssystem besteht also aus formaler schulischer Bildung und nonformaler Bildung, wie etwa in Jugendzentren. Hinzu kommen Formen informeller Bildung, wie sie beispielsweise in Freundeskreisen stattfindet. In diesem Zusammenhang hat sich der Landkreis Darmstadt-Dieburg das Ziel gesetzt, Bildungsteilhabe für alle Geflüchteten zu ermöglichen und damit auch soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Zum Bildungskonzept des Landkreises zählen verschiedene Projekte, die zur Bildungsgerechtigkeit führen sollen und spezielle Angebote für unterschiedliche Zielgruppen beinhalten. Von großer Bedeutung ist dabei, so Rosemarie Lück, das Miteinander von Jugendhilfe und Schulen, ebenso wie die Einbindung von allen Akteuren auf Augenhöhe.
Sprachförderung bedeutet in diesem Kontext mehr als die reine Vermittlung von Deutsch als Fremd-sprache. Vielmehr wird gefragt, wie Wissen und Kompetenzen in diesem Zuge aufgegriffen werden können, um Sprache auf unterschiedliche Weisen zu vermitteln. Generell ist eine Herausforderung für das Bildungssystem, die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler als Grundlage anzuerkennen. Der Landkreis Darmstadt-Dieburg hat dafür unter der Leitung des Landes Hessen Intensivklassen und InteA-Klassen (Intensivklassen an beruflichen Schulen) etabliert. Auch die Jugendsozialarbeit an Schulen soll durch mehr Personal und neue Konzepte besser auf diese Herausforderung reagieren können. Zu dem Konzept zählen neben der individuellen Förderung auch Projektförderungen der Schulsozialarbeit. Die Elternarbeit ist eine solche Projektförderung, mit dem Ziel, Eltern mit Migrationshintergrund stärker in die schulischen Aktivitäten mit einzubeziehen.
Auch in den beiden Zentren für schulische Erziehungshilfe des Landkreises bildet die interkulturelle Öffnung einen Schwerpunkt. Generell ist es schwierig, so ein Teilnehmer, die unter den Schülerinnen und Schülern bestehende Heterogenität in den normalen Schulalltag zu integrieren. Durch die stark festgelegten Curricula stehen den Lehrkräften wenige Möglichkeiten offen, neue Einflüsse in den Unterricht zu integrieren. Eine Teilnehmerin berichtet ihrerseits von der Erfahrung, dass viele Schulen sich bereits auf einem guten Weg befinden, andere machen gegenteilige Erfahrungen. Auch Lehrpläne werden Stück für Stück den Herausforderungen angepasst.
Als weiteres Beispiel nennt Rosemarie Lück ein Projekt, in dem Bildungsbeauftragte aus Migrantenselbstorganisationen ausgebildet werden. Diese können anhand ihrer Kompetenzen und Erfahrungen eine Art Mentoring-Netzwerk aufbauen und ihrerseits die Integration und Bildungsprozesse unterstützen. Migrantisches Engagement im Integrationsprozess zu nutzen ist eine große Chance, pflichtet Doron Kiesel bei. Denn Menschen mit Migrationshintergrund, die diesen Integrationsprozess bereits durchlaufen haben, können auf wertvolle Erfahrungen zurückgreifen.
Das Bildungsprogramm des Landkreises ist unter das Leitbild der Willkommens- und Anerkennungskultur gestellt. Der Begriff der Willkommenkultur ist in den letzten Monaten als Sinnbild für die Offenheit der Aufnahmegesellschaft geprägt worden. Rosemarie Lück plädiert für die Ergänzung dieses Begriffs durch den Begriff Anerkennungskultur, mit dem in den Bildungsinstitutionen Anerkennung und Wertschätzung gegenüber verschiedenen Kulturen vermittelt werden soll. Ein Beispiel hierfür ist, Mehrsprachigkeit als Bereicherung aufzufassen und dies in Kindertagesstätten und Schulen über Anerkennung zu vermitteln.
Einen anderen praktischen Einblick gewährt Regine Schütz von Teachers on the Road mit ihrem In-put. Teachers on the Road ist eine Gruppe ehrenamtlich Engagierter, die 2013 mit dem Ziel gegründet wurde, die Isolation Geflüchteter zu durchbrechen. Die Organisation gehört dem Netzwerk Konkrete Solidarität an. Im Zentrum der Aktivitäten von Teachers on the Road stehen Angebote zur Sprachvermittlung. Darüber hinaus werden die Geflüchteten auch bei Behördengängen, Arztbesuchen oder bei der Suche nach Wohnungen, Praktikums- und Ausbildungsplätzen unterstützt. Die Gruppe verfolgt neben der Unterstützung von Geflüchteten auch politische Ziele, wie etwa aufzuzeigen, dass aktuelle Verhältnisse in den Flüchtlingsunterkünften verbessert werden müssen.
In Frankfurt arbeiten etwa 150 zivilgesellschaftlich Engagierte für die Gruppe. Nicht alle der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer, aber sie haben alle eines gemeinsam: Sie arbeiten unter dem Leitbild, den Geflüchteten auf Augenhöhe zu begegnen. Um dem Ziel der Durchbrechung von Isolation gerecht zu werden, findet der Unterricht möglichst außerhalb der Flüchtlingsunterkünfte statt. Pro Deutschkurs werden im Durchschnitt 15 Geflüchtete von drei Lehrerinnen oder Lehrern unterrichtet. Eine Schwierigkeit besteht darin, so Regine Schütz, dass in den meisten Kursen Menschen unterschiedlicher Sprach-Levels und unterschiedlicher kultureller Herkunft gemeinsam unterrichtet werden. Zwar gibt es Versuche, die Geflüchteten nach Sprach-Niveaus aufzuteilen, was aber meist an der Unbeständigkeit der Gruppenzusammensetzung scheitert. Viele Teachers Gruppen sind außerdem in anderen Netzwerken organisiert. So beteiligen sich die Teachers on the Road beispielsweise in Oberursel beim Bürgerengagement Oberursel, das Regine Schütz als einen „kleinen Kosmos“ bezeichnet. Von der Stadt wurde für dieses Netzwerk eine Koordinatorin angestellt, welche die verschiedenen Akteure zusammenführen und unterstützen soll.
Spracherwerb ist für Geflüchtete der Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe in Deutschland, so Regine Schütz. Bislang ist allerdings das Angebot durch staatliche Stellen nicht weit genug ausgebaut, um allen Geflüchteten den Spracherwerb zu ermöglichen. Ausgegrenzt sind vor allem Geflüchtete mit unsicherer Bleibeperspektive: Wer noch keinen anerkannten Asylstatus besitzt, hat kein Anrecht auf die Teilnahme an einem Sprach- oder Integrationskurs. Nach offiziellen Angaben dauert die Bearbeitung eines Asylantrags beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge etwa fünf Monate. Regine Schütz berichtet allerdings von der Erfahrung, dass die Bearbeitung deutlich länger dauert. Gerade deswegen ist es ihr zufolge wichtig, Geflüchteten sofort den Besuch eines Sprachkurses zu ermöglichen. Aber auch Geflüchtete, die ein Anrecht auf die Teilnahme an einer Intensivklasse oder einer InteA-Klasse haben, können nicht immer aufgenommen werden, weil es ein begrenztes Platzangebot gibt.
Sprachförderprogramme an Schulen
Aus der eigenen Erfahrung als Lehrerin an einer Schule weiß Regine Schütz zu berichten, dass Intensivklassen durchaus einen großen Erfolg haben: Intensivklassen werden für schulpflichtige Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 16 Jahren angeboten. Die geflüchteten Schülerinnen und Schüler werden dort intensiv in der deutschen Sprache unterrichtet und machen laut Regine Schütz große Fortschritte. Schwierigkeiten gibt es dagegen bei der späteren Eingliederung der Geflüchteten in die Regelklassen: Zum Einen brechen die vorher geschlossenen sozialen Kontakte aus den Intensivklassen weg und zum Anderen ist das Sprachniveau oftmals nicht ausreichend, um in einer Regelklasse mitzuhalten. Regine Schütz plädiert in diesem Zusammenhang für eine stärkere Förderung von Geflüchteten in Intensivklassen und für eine breitere Unterstützung, die auch nach ihrer Eingliederung in Regelklassen stattfindet. Eine Teilnehmerin berichtet von guten Erfahrungen mit einem Schulkonzept, das in Offenbach durchgeführt wird. Dort werden die Geflüchteten nicht direkt nach ihrer Eingliederung in die Regelklassen benotet. So haben sie die Chance, sich zunächst im deutschen Schulsystem zurecht zu finden und ihre Sprachkenntnisse auszubauen, bevor sie mit den gleichen Maßstäben wie deutsche Kinder und Jugendliche gemessen werden.
Eine andere Teilnehmerin ergänzt, dass auch die sogenannten InteA-Klassen an beruflichen Schulen positiv zu bewerten sind: Dort werden jugendliche Geflüchtete im Alter ab 16 Jahren bis zu zwei Jahren lang intensiv in der deutschen Sprache unterrichtet, auch fachbezogener Unterricht wird später integriert. InteA-Klassen sind nach einem offenen und flexiblen System geplant, in dem die Jugendlichen an bis zu vier Modulen von jeweils einem halben Jahr Dauer teilnehmen können. Allerdings reichen die verfügbaren Plätze längst nicht aus.
Generell gilt für alle Bildungsprogramme, so ein Beitrag, dass Flexibilität im Einzelfall von großer Bedeutung ist. Gute Konzepte, die in der Praxis nicht oder nur unflexibel umgesetzt werden können, erfüllen ihre Zielsetzungen nicht. Gerade deswegen ist es wichtig, Freiräume und Kapazitäten für Einzelfallentscheidungen zu schaffen.
Schulabschluss
Kontrovers wird unter den Teilnehmenden das Thema Schulabschluss diskutiert: Eine Teilnehmerin berichtet von der Erfahrung, dass geflüchtete Jugendliche bei der Ausbildungsplatzsuche oft an nicht vorhandenen Schulabschlüssen scheitern. Diese werden aber vor allem von Handwerksbetrieben nicht unbedingt gefordert, erwidert ein Teilnehmer. Hier ist vielmehr das Sprachniveau der Geflüchteten relevant, ebenso wie ein, zumindest für die Ausbildungsdauer, sicherer Aufenthaltsstatus. Eine andere Teilnehmerin merkt an, dass das Bestehen der Berufsschule ohne schulische Vorkenntnisse, die durch den Bildungsweg zu einem Schulabschluss vermittelt werden, mit großen Schwierigkeiten verbunden sein kann. In diesem Zusammenhang kommt die Forderung auf, Bildungsziele nicht nur in Form von Abschlüssen und Zertifikaten festzulegen. Man benötigt, so ein weiterer Teilnehmer, einen erweiterten Bildungsbegriff, der es den Geflüchteten möglich macht, sich neue Rollen in der Aufnahmegesellschaft zu erarbeiten. Dazu gehört auch Selbstbildung und nicht nur die klassische schulische Bildung.
Integration - eine Frage der Haltung?
Bei allen Debatten über große Herausforderungen kommt früher oder später Einigkeit bei einem Aspekt auf, so ein Teilnehmer: Die Haltung aller Beteiligten ist entscheidend. Hier stellen sich Fragen danach, inwieweit die Haltung der Akteure Gegenstand von Bildung sein kann: Wie vermittelt man Geflüchteten Regeln und Umgangsweisen, insbesondere in den Erstaufnahmeeinrichtungen? In die andere Richtung muss gefragt werden, wie man die Haltung der Aufnahmegesellschaft über die verschiedenen Formen der Bildung beeinflussen kann. Ein anderer Teilnehmer ergänzt diese Überlegungen um einen weiteren Punkt: Was ist reale Integration? Im Sinne von Anteilnahme Aller an den Gütern der Gesellschaft muss gefragt werden, wie die Aufnahmegesellschaft ihren Habitus verändern muss, um mit dem Phänomen der Fremdheit umzugehen.
Integration und Inklusion
Während der Diskussion wird rasch deutlich, dass es zwischen den Themen Integration und Inklusion viele Parallelen gibt. In diesem Zusammenhang stellt eine Teilnehmerin die Existenz von zwei Parallelwelten fest: Während es viele verschiedene Bildungsprogramme gibt, die dazu dienen, Geflüchtete zu integrieren, geht die soziale Kluft der deutschen Gesellschaft immer weiter auseinander. Es gibt, so die Meinung, deutlich zu viele benachteiligte Jugendliche ohne Schul- oder Berufsabschluss. Auch Hilfsmaßnahmen für Menschen die von Wohnungslosigkeit oder ähnlichem betroffen sind, reichen nicht aus, um diese wieder vollständig in die Gesellschaft zu inkludieren. Aus diesem Grund plädiert die Teilnehmerin dafür, grundsätzlicher zu denken, also gesellschaftliche Werte grundsätzlich in Frage zu stellen. Dies gilt auch für die Bildungsangebote für Geflüchtete, so die Meinung: Diese alleine reichen nicht aus, um Integrationsprozesse zu unterstützen.
Geflüchteten ohne anerkanntes Bleiberecht und ohne die Aussicht auf Familiennachzug fällt es schwer, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen, weil sie sich zunächst auf ihre Unsicherheiten konzentrieren. Dem zustimmend betont eine andere Teilnehmerin, dass viele Themen der Integration längst Themen der Inklusion sind. Es handelt sich ihr zufolge um generelle Themen der Sozialen Arbeit. Die neue Aufmerksamkeit für diese Themen kann genutzt werden, um in Gesamtkonzepten zu denken. Hierbei ist von großer Bedeutung, dass Menschen verschiedener Benachteiligungsgruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es gilt, Neid unter ihnen zu vermeiden. Positiv bewertet die Teilnehmerin die verbesserte Zusammenarbeit mit den Schulen: Als Reaktion auf die neue Herausforderung konnte die Kommunikation zwischen Schulen und Sozialarbeit deutlich ausgebaut werden.
Orte und Konzepte der Bildung
Wo fängt Bildung an? Konsens herrscht bei den Teilnehmenden darüber, dass Bildung ein Schlüssel zur Integration ist. In diesem Zusammenhang plädiert eine Teilnehmerin dafür, Bildung schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu implementieren. Also dort, wo zuerst Fragen gestellt werden. Denn der Aufenthalt in den Erstaufnahmeeinrichtungen ist für die meisten Geflüchteten von einer langen Wartezeit und einer damit verbundenen Langeweile geprägt. Es gilt, diese Lücke zu schließen und sinnvoll zu nutzen.
Dabei ist es wichtig, so die Meinung, nach Bedarf zu agieren und die Menschen mit den Bildungskonzepten nicht zu überfallen. Zuletzt ist beispielsweise deutlich geworden, dass eine bemerkenswerte Zahl der Geflüchteten nicht alphabetisiert ist. Auch nach solchen Besonderheiten muss das Bildungsangebot ausgerichtet werden. Eine andere Teilnehmerin berichtet von der Erfahrung, dass Frauen oft nicht an gemischten Sprachkursen teilnehmen wollen oder dürfen. Auch dies ist eine besondere Schwierigkeit, die bei der Arbeit mit Geflüchteten berücksichtigt werden muss. Ein funktionierendes Konzept könnte etwa sein, klassische Sozialarbeit mit Patenschaften zu paaren. Auch Bildungsinstitutionen müssen weiter geöffnet werden, so ein Teilnehmer. Gerade die angesprochenen Analphabeten werden oft nicht ausreichend mit Bildungsangeboten versorgt. Es gilt, so die Meinung, neue Möglichkeiten zu schaffen und damit das Angebot zu erweitern. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass Erwachsene sich nicht mehr im „Lernalter“ befinden und größere Schwierigkeiten haben können, Neues zu erlernen. Ein bestehendes Konzept, das neu genutzt werden könnte, ist das der „Integrationsassistenten“. Diese wurden schon vor etwa zehn Jahren ausgebildet. Bislang hatten sie einen schwierigen Status, da sie unter anderem von der Bundesagentur für Arbeit nicht anerkannt wurden. Institutionalisiert man die Anerkennung von Integrationsassistenten, kann man dieses Konzept auch mit Geflüchteten fortführen. Denn Integrationsassistenten kommen selbst aus „Geflüchtetencommunities“, sind in der Lage als Übersetzer zu fungieren und haben somit einen guten Ausgangspunkt für die Arbeit mit Geflüchteten, so ein Beitrag.
Eine andere Teilnehmerin verweist auf ein Gelegenheitsfenster, dass sich mit dieser neuen Herausforderung geöffnet hat: Aufgrund der Brisanz, die das Thema mit sich bringt, werden aktuell viele Fortschritte ermöglicht, die bislang in ihrer Umsetzung undenkbar waren. Beispielsweise können nun ausländische Abschlüsse durch Nachqualifizierungsmaßnahmen teilweise in Deutschland anerkannt werden. Die neu gewonnene Aufmerksamkeit schafft also Bewegung. Trotz dieser positiven Entwicklung muss auch auf die immer noch bestehenden Schwierigkeiten hingewiesen werden, so ein Teilnehmer. Es fehlen Strukturen in der Organisation und große Teile der Unterstützungsleistungen werden nach wie vor lediglich von ehrenamtlich Engagierten übernommen. Dem schließt sich eine andere Teilnehmerin mit der Forderung nach einer strukturierten Zukunftsplanung an. Bisher sind alle Entwicklungen von Seiten der Politik lediglich Reaktionen, so der Beitrag. Was fehlt, ist ein politisches Programm, das eine langfristige Planung einschließt. Ein Teilnehmer ergänzt, dass die Bewältigung dieser Herausforderung eine nationale Aufgabe ist. Dementsprechend muss auch die Arbeit mit Geflüchteten auf eine nationale Ebene gebracht werden: Es genügt nicht, dass viele verschiedene Bereiche für sich arbeiten. Vielmehr muss es ein koordiniertes und geschlossenes Arbeiten geben, das von nationaler Ebene koordiniert wird.
Dem gegenüber steht die Meinung, dass das politische Handeln, welches durch die nationale Ebene bestimmt wird, auch negative Konsequenzen haben kann. Dies zeige sich vor allem in der jüngsten Asylpolitik, die auf Abgrenzung abziele. Die Migrationspolitik hat wiederum einen Einfluss auf die Einstellung der Aufnahmegesellschaft gegenüber Einwanderern.
Eine andere Teilnehmerin ergänzt, dass für einen langfristig erfolgreichen Prozess eine gute Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen erforderlich sei. Konzepte, die allein auf Bundesebene festgelegt werden, können in der praktischen Umsetzung scheitern. Deswegen müssen alle Ministerien gleichermaßen beteiligt sein – wie etwa bei dem Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“. Nur so kann langfristig die finanzielle Unterstützung aber auch eine erfolgreiche Umsetzung gewährleistet werden.
Resümee
Bildung ist der zentrale Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe, so ein Resultat der Denkwerkstatt. Bildungsprogramme allein sind allerdings nicht ausreichend, um einen gelungenen Integrationsprozess zu unterstützen, so der Konsens der Teilnehmenden. Berücksichtigt werden muss die besondere Situation der Geflüchteten, insbesondere unsichere Aufenthaltsperspektiven und die traumatischen Erfahrungen vor und während der Flucht. Generell haben die Geflüchteten ganz andere Bildungsansätze in ihren Herkunftsregionen kennen gelernt. Deswegen bedarf es grundlegender Änderungen in den Bildungskonzepten und ein erweitertes Angebot von Bildungsmöglichkeiten für Geflüchtete. Die Teilnehmenden bewerten die bereits etablierten Sprachklassen an Schulen und Berufsschulen positiv, plädieren jedoch für ein weiteres Angebot, das bereits in den Erstaufnahmeeinrichtungen ansetzt.
Um dergesamtgesellschaftlichen Herausforderung der Integration gerecht zu werden, gilt es, gemachte Erfahrungen aus der Migrationsgeschichte der Bundesrepublik zu nutzen. Außerdem ist es wichtig, grundlegende Haltungen zu überdenken, um so von Seiten der Aufnahmegesellschaft einen Grundstein für die Integration zu legen. Die erhöhte Aufmerksamkeit für das Thema Bildung kann schließlich auch positiv für Inklusion der deutschen Gesellschaft genutzt werden. Einigkeit herrscht darüber, dass Bildung sowohl für Geflüchtete, als auch für Menschen, die länger in Deutschland leben, gleichermaßen wichtig ist. Dass das Thema nun vermehrt in den Mittelpunkt von politischen und gesellschaftswissenschaftlichen Debatten rückt, schafft die Möglichkeit, alte Konzepte neu zu überdenken und auszubauen. Ebenso müssen allerdings auch neue Konzepte ausgearbeitet werden.
Die Autorinnen: Natascha Riegger M.A., Ethnologin und Kulturanthropologin, ist wissenschaftliche Referentin der Schader-Stiftung. Vera Elena Albrecht studiert Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt und war Praktikantin der Schader-Stiftung.