Plural und partizipativ. Historische Bildung in der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Artikel vom 29.05.2019
Politische und historische Bildung folgt einer anderen Logik als akademische Routinen. AkademikerInnen unterliegen dem Zwang zur Sichtbarmachung, während politische Bildung in erster Linie Menschen zu einer eigenständigen Meinungsbildung befähigen soll. Von Bernd Hüttner
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) ist aus dem bereits 1990 in Berlin gegründeten Verein „Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e.V.“ hervorgegangen. Heute ist sie, nicht zuletzt dank eines stetig steigenden Etats, eine bundesweit agierende Institution politischer Bildung, auch international ein Diskussionsforum für kritisches Denken und politische Alternativen, sowie eine Forschungsstätte für eine progressive Gesellschaftsentwicklung.
Konkret organisiert die RLS, neben anderem, politische Bildung, verbreitet also ergebnisoffen Kenntnisse über gesellschaftliche Zusammenhänge in einer globalisierten, ungerechten und unfriedlichen Welt. Sie ist ein Ort kritischer Analyse des zeitgenössischen patriarchalen Kapitalismus und ein Zentrum programmatischer Diskussionen über einen zeitgemäßen demokratischen Sozialismus, ein sozialistischer Think-Tank politiknaher Alternativen. Sie dürfte in Europa jenseits der Parteien diejenige linke Einrichtung mit dem größten Etat sein.
Grundsätzlich ist die RLS in der Bundesrepublik Deutschland und international ein Forum für einen Dialog zwischen linkssozialistischen Kräften, sozialen Bewegungen und Organisationen, linken Intellektuellen und Nichtregierungsorganisationen. Sie fördert darüber hinaus junge Intellektuelle durch Studien- sowie Promotionsstipendien und unterhält wie alle parteinahen Stiftungen ein Archiv und eine Bibliothek. 2020 wird ein Neubau bezogen werden.
Für die Linke in Deutschland hat die historische Selbstverortung eine große Bedeutung. Wie für keine andere gesellschaftspolitische Strömung ist die Reflexion historischer Erfahrungen und das Lernen aus der Geschichte eine conditio sine qua non. Im Folgenden spreche ich von der historischen Bildung in der RLS, also dem Feld, in dem ich für die RLS seit 2006 aktiv bin und seit 2012 ausschließlich arbeite. Anfang 2017 wurde in der Stiftung zudem ein Historisches Zentrum Demokratischer Sozialismus als eigenständiger Bereich installiert. Die RLS ist ressourcenstarker Knotenpunkt in einem weitverzweigten Netzwerk1, sie arbeitet gerne mit kleinen engagierten Vereinen und Einzelpersonen, mit relevanten Zeitschriften bis punktuell hin zu „big playern“ wie der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Schader-Stiftung oder der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zusammen. In diesem Kontext wurde mit den beiden Letztgenannten sowie dem aus dem HistoCamp hervorgegangenen unabhängigen „AK Tagungsrevolte“ ein „BarCamp 68“ für den November 2018 vorbereitet. Dieses musste zwar letztlich mangels Teilnehmenden ausfallen, war aber in der Vorbereitung durch das intensive Gespräch, gemeinsames Lernen und einen ergebnisoffenen Dialog ungleicher Partner für alle Seiten ausgesprochen erkenntnisreich2.
Historische Bildung
Inhaltlich ist das bearbeitete Themenspektrum der RLS weit gefächert, es reicht vom historischen Kommunismus und Sozialismus bis zum Stalinismus und zu den sozialen Bewegungen der 1970er- und 80er-Jahre.3 Historische Bildung kann heute, und dies ist nur eine Erfahrung aus der Existenz der DDR und der dort vorherrschenden Legitimationswissenschaften, kein festes Geschichtsbild vermitteln und erst recht keinen Wahrheitsanspruch verfolgen. Die Linke war in der Vergangenheit plural, und dies ist auch heute so. Die daraus resultierenden inhaltlichen Widersprüche sind auszuhalten und im Idealfall Anlass zu lernen.
Die generationell bedingten und anderen Habitusdifferenzen schleifen sich etwas ab. So ist der Widerspruch zwischen (älteren) Ost- und (eher jüngeren) Westsozialisierten in den letzten Jahren lange nicht mehr so bemerkbar wie früher.
Schon in der Zielstellung, Impulse für selbstbestimmte gesellschaftliche politische Aktivität zu geben, das Engagement für Frieden und Völkerverständigung, für soziale Gerechtigkeit und ein solidarisches Miteinander zu unterstützen und unter diesem Blickwinkel Vergangenheit zu untersuchen und zu reflektieren, ist die Spannung zwischen Theorie und Praxis angelegt: Wie entsteht dieses Wissen, gibt es eine Hierarchie zwischen Praxis und Wissenschaft, welcher der beiden Kontexte ist wichtiger oder prägender? Ist „politische Bildung“ eigentlich „Wissenschaft“ oder „Praxis“? Oder ist diese Gegenüberstellung letztendlich eh Unsinn, da auch Wissenschaft „Praxis“ ist und politische Bildung ohne Wissenschaft auch nicht auskommt?
Historische Bildung bewegt sich in der RLS im Dreieck zwischen sozialen Bewegungen (inklusive Gewerkschaften), der nahestehenden Partei und der Wissenschaft. Sie soll ermöglichen und motivieren, möchte zur Beteiligung einladen und nicht dröge die Botschaften der Referenten (aka „alte weiße Männer“) transportieren.
Historische Bildung hat vor allem drei Instrumente: Online-Aktivitäten mit einem breiten, indifferenten Adressatenkreis. Diese stehen vor der Aufgabe, sich im Terror der Aufmerksamkeitsökonomie zu behaupten. Dann öffentliche Konferenzen und ähnliche Formate, die dem eher wissenschaftlichen Austausch und der Präsentation neuer Erkenntnisse und Sichtweisen dienen; und drittens fachliche Kolloquien im kleineren Kreis, wie etwa geförderte DoktorandInnen oder der nichtöffentlich tagende Gesprächskreis Geschichte der RLS, ein Arbeitszusammenhang, der seit 2006 existiert und Haupt- und Ehrenamtliche generationenübergreifend und fruchtbar zusammenbringt. Bei den Instrumenten zwei und drei ist festzustellen, dass etablierte Einrichtungen zusehends die RLS nicht mehr ausschließen, sondern diese zum Verfassungsbogen dazugehört. Einzelne Ausnahmen, wie zum Beispiel die sich als linksliberal definierende Hamburger Professorin, die sagt „Sie können bei mir promovieren, aber nicht mit einem Stipendium der RLS“, gibt es natürlich weiterhin. Von 2015 bis 2018/9 fand das (mittlerweile) zweite Promotionskolleg der RLS statt. Es untersucht unter dem Titel „Jenseits von Sozialdemokratie und Parteikommunismus?“ Fragestellungen aus der Geschichte linker Politik in Deutschland.
Historische Bildung und akademische Routinen
Eine zentrale Herausforderung ist, dass politische und historische Bildung einer anderen Logik als akademische Routinen folgt. Die Bedürfnisse und Ziele sozialer Bewegungen oder von Menschen, die gerade in sozialen Kämpfen stecken, sind andere als die einer Partei oder eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin. Parteien ringen um Mehrheiten, Wissenschaft ist – Postmoderne hin oder her – irgendwie auch der Wahrheit verpflichtet. Viele AutorInnen wollen in erster Linie ihre eigenen – selbstverständlich ihrer Ansicht nach sehr wichtigen – Publikationen gefördert haben und übersehen dabei, dass die RLS keine Einrichtung der Forschungsförderung ist. AkademikerInnen unterliegen dem Zwang zur Sichtbarmachung durch Konferenzteilnahmen und noch mehr Publikationen an den richtigen Orten, während politische Bildung in erster Linie Menschen zu einer eigenständigen Meinungsbildung befähigen soll und dafür Materialien und Formate zur Verfügung stellen sollte, die „niedrigschwellig“ sind. Die Spannungen zwischen diesen Logiken sind auszuhalten und in alle Richtungen zu kommunizieren. Da die Ressourcen aber wie stets begrenzt sind, ist dies alles auch eine organisationsinterne Machtfrage.
Angesichts der Renaissance völkischer und autoritärer Vorstellungen in den Medien und den Parlamenten, angesichts dessen, dass die AfD inhaltlich längst mitregiert und in vielen Regionen um die 20 Prozent der abgegebenen Stimmen erzielt, ist für eine gesellschaftliche Linke eine kluge Bündnispolitik nötig. Alleine wird Die Linke oder die (radikale) Linke die AfD nicht aufhalten. Dazu ist deren Etablierung bereits zu weit fortgeschritten. Für eine erfolgreiche Kooperation von innovativen, reflektierten Linken mit antifaschistischen, aufgeklärten „Bürgerlichen“ gibt es auch historische Vorbilder, sei es Willi Münzenberg4, das Bauhaus oder die Entstehung und die ersten Jahren der Partei Die Grünen. Die Schader-Stiftung zum Beispiel arbeitet, soweit ich das überblicken und beurteilen kann, interdisziplinärer als die RLS und ist sehr offen gegenüber neuen Formaten, wie etwa BarCamps.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der erweiterten Dokumentation des Symposiums „Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften“, das anlässlich des 90. Geburtstags des Stifters Alois M. Schader am 16. Juli 2018 im Schader-Forum stattfand.
Bernd Hüttner: Plural und partizipativ. Historische Bildung in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, in: Alexander Gemeinhardt (Hrsg.): Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften. 30 Jahre Schader-Stiftung, Darmstadt 2018, 173-175.
Der Autor:
Bernd Hüttner ist Politikwissenschaftler und Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
1 Vgl. zum Feld kritischer Geschichtswissenschaft Hüttner, Bernd (2015): Netzwerkarbeit im Feld kritischer Geschichtswissenschaft: Von Making History (2003) zu History is Unwritten (2013). In: AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hrsg.): History is Unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft. Ein Lesebuch. Münster: edition assemblage. Online verfügbar unter www.rosalux.de/news/41389 (08.02.2019).
2 Ende November 2019 wird das nächste „HistoCamp“ in den Räumen der RLS stattfinden.
3 Vgl. dazu programmatisch und grundlegend Hüttner, Bernd / Nakath, Detlef (2016): Antistalinismus – deutsche Zeitgeschichte – Geschichtsschreibung einer pluralen Linken. Geschichtsarbeit in der Rosa-Luxemburg-Stiftung – ein Blick zurück – nach vorne. Online verfügbar unter www.rosalux.de/news/id/8660 (08.02.2019).
4 Vom 17.-20. September 2015 fand in Berlin der Erste Internationale Willi-Münzenberg-Kongress statt. Zahlreiche Aspekte des Wirkens von Willi Münzenberg und der durch ihn repräsentierten Solidaritätsnetzwerke wurden beleuchtet. Im Tagungsband sind über dreißig Beiträge veröffentlicht. Online verfügbar unter www.muenzenbergforum.de/ebook (08.02.2019).