Was den Rechtsstaat wirklich bedroht
Artikel vom 19.03.2019
Am 7. März 2019 hielt Andreas Lipsch die Eröffnungsrede zur Ausstellung Unwort des Jahres 2018: „Anti-Abschiebe-Industrie“. Es geht beim Unwort des Jahres 2018 um deutlich mehr als „nur“ das Flüchtlingsthema, letztlich geht es um die Grundlagen unserer demokratischen Gesellschaft. Die Ausstellung in Darmstadt beleuchtet die unterschiedlichen Dimensionen dieses Unworts. Von Andreas Lipsch
Was den Rechtsstaat wirklich bedroht
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich hier zu sein und bedanke mich herzlich für die freundliche Begrüßung, lieber Herr Gemeinhardt. Wenn es nach Herrn Dobrindt und dem von ihm in die Welt gesetzten Unwort des Jahres 2018 ginge, hätten Sie mich allerdings anders vorstellen müssen. Etwa so: „Wir sind nun gespannt auf den Impuls eines Vertreters der Industrie.“ Und ich würde das dann annehmen, mich als Teil eines großen und einflussreichen deutschen Industriekonzerns outen und gleich zu Anfang bekennen: „Ja, auch ich gehöre zur ‚Anti-Abschiebe-Industrie‘“.
Aber ich möchte das nicht, meine Damen und Herren. Ich möchte weder ironisch noch sarkastisch werden. Herrn Dobrindt und seinen Epigonen würde ich am liebsten sachlich und als Konservativer entgegentreten. Ich glaube nämlich immer noch daran, dass die Grund- und Menschenrechte für uns alle handlungsleitend sein sollten, und dass der Rechtsstaat in erster Linie bedeutet, dass Einzelne die Möglichkeit haben, Schutz in Rechtsverfahren zu erhalten. Ich bin immer noch davon überzeugt, dass das eines der zentralen Kennzeichen einer demokratischen Gesellschaft ist. Und darum möchte ich Herrn Dobrindt – und natürlich auch Ihnen allen – eigentlich nur folgendes sagen: „Gerade die, die heute mit dem Unwort der ‚Anti-Abschiebe-Industrie‘ beschimpft werden, sind diejenigen, die den Rechtsstaat verteidigen.“
Das sieht der CSU-Landesgruppenchef dezidiert anders. „Sie sabotieren den Rechtsstaat“ ruft er. Und nennt sie „Zwangsideologen“ mit „Partikularinteressen". Eine "Allianz gegen den gesellschaftlichen Frieden", die den „Rechtsstaat von innen heraus bekämpft.“ Alles wörtliche Zitate, meine Damen und Herren. Nochmal in dem einen Satz zusammengefasst, der seit dem vergangenem Jahr so oft zitiert worden ist: „Es ist nicht akzeptabel, dass eine aggressive Anti-Abschiebe-Industrie bewusst die Bemühungen des Rechtsstaates sabotiert.“
Das klingt schlimm. Als sei eine verbrecherische Gruppe dabei, flächendeckend Rechtsbruch zu organisieren, massenhaft, (denken Sie an die „Industrie“) wie am Fließband Abschiebungen zu vereiteln, und dieses Land damit von innen heraus zu ruinieren. Diesem so skrupellosen wie einflussreichen Industriekomplex gegenüber steht (ich führe die Industriemetapher mal weiter:) das ehrliche und mühsame Handwerk des Abschiebungsvollzugs, das aber angesichts der Macht des Anti-Abschiebe-Konzerns gar nicht mehr richtig zum Zuge kommt. So etwa geht die Story zum Unwort.
Eigentlich liegt es nahe, über diese Räuberpistole zu lachen oder den Kopf zu schütteln. Vor allem, wenn wir uns vor Augen führen, um wen es bei dieser angeblichen „Anti-Abschiebe-Industrie“ tatsächlich geht. Das sind an erster Stelle die Richterinnen und Richter, die im vergangenen Jahr jede dritte Behördenentscheidung korrigieren mussten, zugunsten der Asylsuchenden. Weil aber kein Richter wo kein Kläger, sind das die Anwältinnen und Anwälte von Schutzsuchenden, die die Richtigkeit staatlicher Entscheidungen gerichtlich überprüfen lassen; das sind die Unterstützerinnen und Unterstützer von Geflüchteten, das sind die Beratungsstellen der Verbände, die Asylsuchende über ihre Rechte und Pflichten aufklären, das sind die Ehrenamtlichen in Initiativen und Kirchengemeinden und nicht zuletzt die Organisationen, die sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzen. Also alle die, die gerade auf den Rechtsstaat bauen und – ja, auch das – zur Wahrung von Grund- und Menschenrechten den Konflikt mit der Exekutive gegebenenfalls nicht scheuen. Eine Industrie soll das sein?
Wie gesagt, wir könnten einfach nur den Kopf darüber schütteln. Aber das wäre falsch und auch gefährlich, weil diese vergiftete Story von der „Anti-Abschiebe-Industrie“, die mittlerweile ja nicht nur Herr Dobrindt, sondern auch viele andere wiederholen und weitererzählen, leider doch mehr ist als eine Räuberpistole. Jedenfalls zeitigt sie mittlerweile reale Wirkungen. Ich nenne vier: Der Abschiebungsvollzug ist merklich brutaler geworden; die Entrechtung Schutzsuchender schreitet voran; es ist geplant, Ehrenamtliche und Nichtregierungsorganisationen zu kriminalisieren; und nicht zuletzt: Der Begriff des Rechtsstaates wird zunehmend entkernt, sein eigentlicher Gehalt ins Gegenteil verkehrt.
Zu jedem dieser vier besorgniserregenden Entwicklungen möchte ich ein paar Sätze sagen.
1. Zur Brutalisierung des Abschiebungsvollzugs:
Sie kennen sie mittlerweile alle, die fast ununterbrochen Klage über ein angebliches Vollzugsdefizit bei Abschiebungen. Dabei wird gerne die Zahl von mehr als 200.000 Personen genannt, die zwar ausreisepflichtig aber noch immer nicht abgeschoben worden seien. Das ist richtig, und es hat gute Gründe. Viele von ihnen dürfen nämlich aus humanitären oder rechtlichen Gründen gar nicht abgeschoben werden, weil sie hier eine Berufsausbildung machen, weil sie ein Kind haben oder Angehörige pflegen, weil sie in ihren Herkunftsstaat aufgrund der Sicherheitslage gar nicht abgeschoben werden können. Andere Abschiebungen scheitern aufgrund eines buchstäblich in letzter Minute gewährten Rechtsschutzes. Es ist also nicht eine „Anti-Abschiebe-Industrie“ in Gestalt von Gerichten, Anwälten, Beratungsstellen und Ehrenamtlichen, die den Rechtsstaat sabotieren, sondern gerade dieser Rechtsstaat selbst, der in vielen Fällen aus guten Gründen Abschiebungen unmöglich macht. Aber genau das scheint immer mehr Verantwortlichen in Politik und Behörden ein Dorn im Auge zu sein. Jedenfalls nimmt der Druck auf Ausreisepflichtige merklich zu. Es häufen sich überfallartige Abschiebungen – angekündigt werden sie mittlerweile ohnehin nicht mehr –, Familienangehörige werden immer wieder voneinander getrennt, behandlungsbedürftige Kranke werden aus Krankenhäusern geholt und auf den Flieger gesetzt, ärztliche Atteste immer seltener berücksichtigt. Und der Einsatz polizeilicher Gewaltmittel wie Hand- und Fußfesseln oder Klettbänder hat sich in den letzten vier Jahren bei etwa gleichbleibenden Abschiebezahlen verzehnfacht. Besonders beunruhigend: Es häufen sich rechtswidrige Abschiebungen, bei denen Behörden laufende Verfahren ignorieren oder Gerichtsurteile missachten, womit grundlegende Prinzipien des Rechtsstaates infrage gestellt werden.
2. Zur zweiten Sorge, der fortschreitenden Entrechtung Schutzsuchender:
Vor kurzem wurde ein Referentenentwurf aus dem Bundesinnenministerium zu einem neuen Gesetz bekannt, dass den euphemistischen Titel „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ trägt. Mit dem vermeintlichen Argument der „Durchsetzung des Rechtsstaats“ werden in diesem Gesetzentwurf rechtsstaatliche Grundsätze geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Dies gilt z.B. für die Schaffung eines neuen Nicht-Status für Ausreisepflichtige unterhalb der Duldung. Wer den erhält, soll künftig – unter anderem – gar nicht mehr arbeiten oder eine Ausbildung aufnehmen dürfen. Die Abschiebungshaft soll ausgeweitet werden, Abzuschiebende will man – gegen geltendes Europarecht – wieder mit Straftätern zusammen in Gefängnissen unterbringen, und der Inhaftierungsgrund der sogenannten „Fluchtgefahr“ soll beinahe beliebig ausgeweitet werden. Das klingt alles danach, als sollte Haft künftig zum Normalfall für Ausreisepflichtige werden. Zentrale Verfahrensgarantien im Haftrecht sollen für diese Gruppe nicht mehr gelten. Und neue Haftformen sind geplant, die Inhaftierungen ohne richterliche Anordnung möglich machen, was dem Grundgesetz klar widerspricht. Der Journalist und Moderator Georg Restle hat es scharf aber leider zutreffend auf den Punkt gebracht: „Seehofer schafft einen neuen Menschentypen: Den Rechtlosen.“
3. Die geplante Kriminalisierung von Ehrenamtlichen und Nichtregierungsorganisationen
Besorgniserregendes findet sich in diesem Entwurf zum „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ auch im Blick auf meinen dritten Punkt: die geplante Kriminalisierung von Ehrenamtlichen und Nichtregierungsorganisationen. Offenbar soll es nun endlich auch per Gesetz der „Anti-Abschiebe-Industrie“ an den Kragen gehen. Die Verbreitung von Informationen über Abschiebeflüge – zum Beispiel per Newsletter oder soziale Medien – soll künftig mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden können. Das ist ein direkter Angriff auf die Pressefreiheit und es verletzt das Recht auf Informationsfreiheit. Rechtsanwälten und Beratungsstellen wird prinzipiell unterstellt, ihre Mandantinnen und Mandanten zu rechtswidrigen Taten anzustiften. Diesen offenen Angriff auf zivilgesellschaftliches Engagement sollten wir sehr ernst nehmen – auch im Blick auf die Entwicklungen in anderen Ländern. Es scheint, als habe sich der Bundesinnenminister wieder mal an Orban und Ungarn ein Beispiel genommen? Dort steht mittlerweile praktisch jede Unterstützung von geflüchteten Menschen unter Strafe. Im vergangenen Jahr wurde in Ungarn ein Gesetz verabschiedet, das die Unterstützung von asylsuchenden Menschen als „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ attackiert. Menschenrechtsorganisationen wie das Ungarische Helsinki Komitee, dem die Stiftung PRO ASYL im vergangenen Jahr den Menschenrechtspreis verliehen hat, werden systematisch an ihrer Arbeit gehindert.
Nein, meine Damen und Herren, so weit sind wir in Deutschland noch nicht. Aber es liegt an uns allen, dass es nicht noch dahin kommt. Auch wenn der Gesetzentwurf aus dem Bundesinnenministerium den Bundestag – hoffentlich (!) – nicht in dieser Form passieren wird, sollte er uns doch aufschrecken. Da ist was in Gefahr, auch hier bei uns, da rutscht was weg, da wird – und damit bin ich bei meinem vierten und letzten Punkt –
4. Die zunehmende Entkernung des Rechtsstaats
der Rechtsstaat zunehmend entkernt und sein eigentlicher Gehalt ins Gegenteil verkehrt. Der Rechts- und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl hat kürzlich in einem sehr lesenswerten Beitrag1 an die Geschichte und die Funktion des Rechtsstaates erinnert. „Der Rechtsstaat“, schreibt er, „entstand in den Auseinandersetzungen des liberalen Bürgertums gegen die Feudalgewalt und sollte … [unter anderem] … das erstarkende staatliche Gewaltmonopol einer umfassenden Kontrolle unterwerfen. Zu diesem Zweck entstand sukzessive ein engmaschiges rechtsstaatliches Netz aus Gerichten, Rechtsverfahren, subjektiven Rechten und Rechtsbeiständen, die Einzelne vor staatlicher Gewalt schützen sollten.“ Rechtsstaat meint also nicht „Law and Order“, wie heute vielfach suggeriert wird, sondern gerade umgekehrt: eine kontrollierte Exekutive. „Rechtsstaat meint Einhegung des Gewaltmonopols.“ Im Blick auf unser Thema und das Unwort: Rechtsstaat meint nicht die Durchsetzung einer Ausreisepflicht um jeden Preis, wie das Herrn Dobrindt vorschwebt, sondern die Möglichkeit eines Einzelnen, in einem rechtsstaatlichen Verfahren die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung überprüfen zu lassen.
Daran muss dringend erinnert werden angesichts der aktuellen Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs. Viele, nicht nur Herr Dobrindt, viele, die heute den Rechtsstaat beschwören und behaupten, ihn zu verteidigen, meinen damit vor allem verschärfte Gesetze, eine exzessive Anwendung des Strafrechts oder eben die Durchsetzung von behördlichen Befugnissen. Pichl nennt das die „ordnungspolitische Vereinnahmung des Rechtsstaatsbegriffs“. Dieser Vereinnahmung sollten wir alle lautstark widersprechen. Weil sie gefährlich ist. Weil sie an der Basis unseres demokratischen Zusammenlebens rüttelt.
Es kann gar nicht oft genug daran erinnert werden: Der zentrale Gradmesser für eine demokratische Gesellschaft ist nicht eine möglichst schlagkräftige Exekutive, sondern die Möglichkeit jedes Einzelnen, jedes (!), nicht nur des deutschen Einzelnen, Schutz in Rechtsverfahren vor eben dieser Exekutive zu erhalten.
Darum vor allem geht es denen, die Herr Dobrindt als „Anti-Abschiebe-Industrie“ verunglimpft.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
was ich Ihnen mit alledem heute Abend sagen wollte: Es geht beim Unwort des Jahres 2018 um deutlich mehr als „nur“ das Flüchtlingsthema. Es geht letztlich um die Grundlagen unserer demokratischen Gesellschaft. Und darum bin ich froh, dass es diese Ausstellung hier in Darmstadt gibt, in der sehr unterschiedliche Dimensionen des Unworts der „Anti-Abschiebe-Industrie“ ihre fotografische Resonanz gefunden haben. Und ich hoffe, dass diese Ausstellung vielfache Anlässe gibt, diese hier nur angerissenen Fragen und Themen weiter zu vertiefen und zu diskutieren.
Gerade weil es dieses und derzeit leider noch andere Unworte gibt, die die gesellschaftliche Debatte in eine gefährliche Richtung verschieben, müssen wir selbst das Wort ergreifen und widersprechen, wo Grund- und Menschenrechte in Deutschland und Europa in Frage gestellt werden und wo der Rechtsstaat unter vermeintlicher Berufung auf ihn selbst zusehends ausgehöhlt wird.
Und deshalb bleibe ich bei meinem Satz: „Gerade die, die heute mit dem Unwort der ‚Anti-Abschiebe-Industrie‘ beschimpft werden, sind diejenigen, die den Rechtsstaat verteidigen.“
Ich sag`s aber auch nochmal anders, näher an der ursprünglichen Formulierung des CSU-Landesgruppenchefs: „Es ist nicht akzeptabel, dass mit einem Unwort wie der ‚Anti-Abschiebe-Industrie‘ der Entkernung unseres demokratischen Rechtsstaates das Wort geredet wird.“
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche Vernissage.
Eröffnungsrede zur Ausstellung Unwort des Jahres 2018 „Anti-Abschiebe-Industrie“, gehalten am 7. März 2019 im Schader-Forum.
Der Autor: Andreas Lipsch ist Vorsitzender von PRO ASYL, Interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und Leiter der Abteilung Flucht, Interkulturelle Arbeit und Migration der Diakonie Hessen.
1 Maximilian Pichl: „Wie ein Begriff ins Gegenteil verkehrt wird. Gefährliche Rede vom ‚Rechtsstaat‘“. Legal Tribune Online, unter: https://www.lto.de/recht/justiz/j/rechtsstaat-sicherheit-gewaltmonopol-polizei-begriff-bedeutung/ (abgerufen am 05.03.2019)