Praxen vernetzen und Perspektiven eröffnen
Artikel vom 23.05.2019
In einem verstärkten Austausch von Unternehmen, Organisationen und Politik auf der einen Seite und Gesellschaftswissenschaftler*innen in der Qualifikationsphase auf der anderen Seite stecken durchaus Potenziale. Von Lars Rinsdorf
Gedanken zum Verhältnis von Gesellschaftswissenschaften und außerwissenschaftlichen Organisationen
Die Debatte um Karrierewege in den Gesellschaftswissenschaften ist richtig, wichtig und bisweilen auch hitzig. Im Fokus stehen dabei häufig Forderungen nach mehr Verlässlichkeit und Planbarkeit für Wissenschaftler*innen, die an ihrer Promotion oder Habilitation arbeiten, nach angemessenen Arbeitsbedingungen und nachhaltiger Förderung an den Instituten. Die beteiligten Akteur*innen entwickeln abhängig von der eigenen Sozialisierung im Fach, vom fachlichen Schwerpunkt und Verlauf der eigenen Karriere unterschiedliche Standpunkte und Vorschläge, aber doch eint sie in der Regel der Hintergrund, vor dem sie ihre vielfältigen Argumente ausbreiten, nämlich die Rekrutierung von geeigneten Kandidat*innen auf Spitzenpositionen innerhalb des Wissenschaftssystems.
Diese Darstellung ist zugegebenermaßen grob vereinfachend. Gleichwohl soll dieser Beitrag bewusst eine andere Perspektive auf junge Wissenschaftler*innen einnehmen, indem er herausarbeitet, wie stark diese Gruppe ganz unabhängig von ihren persönlichen Karrierezielen von einem intensiven Austausch mit Organisationen außerhalb des Wissenschaftssystems profitieren kann und welche Chancen sich daraus für Akteur*innen außerhalb der Gesellschaftswissenschaft ergeben, die mitunter ebenfalls der akademischen Forschung mit einer gesunden Portion Skepsis gegenüberstehen.
Distanz zwischen Forschung und Praxis
Bevor dieser Gedanke weiter ausgeführt wird, stellt sich die Frage nach dessen Relevanz. Diese ergibt sich vornehmlich daraus, dass die Gesellschaftswissenschaften im Vergleich etwa zu den Lebenswissenschaften, den Ingenieurwissenschaften oder den Wirtschaftswissenschaften über ein weniger klar definiertes Berufsfeld jenseits der akademischen Forschung verfügen. Wer nicht mehr im Universitätslabor an Reibungskoeffizienten von Hubkolbenmotoren forschen mag, wechselt leicht nach Weissach, um künftig Sportwagen zu entwickeln. Wer die Kommunikationswissenschaft vorangebracht hat, ist deswegen noch lange nicht automatisch in einer Redaktion willkommen. Diese Differenz ist folgenreich und soll in ihren Konsequenzen kurz umrissen werden.
Am bedeutsamsten scheint hier eine größere Distanz zwischen der akademischen Forschung einerseits und den außerwissenschaftlichen Akteur*innen andererseits zu sein, für die gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisse von Bedeutung sein könnten. Am Beispiel der Kommunikationswissenschaft lässt sich dies zeigen und möglicherweise auch von Autor*innen mit einer jeweils spezifischen Expertise auf andere Gesellschaftswissenschaften übertragen. Hier gilt es zunächst festzuhalten, dass Wissenschaft und außerwissenschaftliche Akteur*innen natürlich vielfältig miteinander vernetzt sind: Medienunternehmen und Medienregulierer sind wichtige Auftraggeber*innen für kommunikationswissenschaftliche Forschung. Kommunikationswissenschaftler* innen sind gefragte Gesprächspartner*innen für Medien zu aktuellen Themen der (politischen) Kommunikation, ob es nun um Gaming, Dynamiken in sozialen Online-Netzwerken oder Medienvertrauen und Desinformation geht. Entscheider*innen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vertrauen auf den Rat von Kommunikationswissenschaftler*innen in strategischen Fragen. Und es gibt einen umfassenden Austausch auf Konferenzen und Tagungen.
Aber gleichwohl sind akademische Forschung auf der einen Seite sowie Forschung und Entwicklung auf der anderen institutionell, personell und thematisch deutlich lockerer miteinander verbunden als etwa in der Medizin oder den Ingenieurwissenschaften. Gemeinsame Institute, eng verzahnte, langfristig angelegte Projekte oder umfangreiche Ko-Finanzierungen und eine relativ hohe Durchlässigkeit hinsichtlich der Berufsfelder in Forschung und Entwicklung, wie wir sie aus diesen Feldern als gängige Praxis kennen, sind in der Kommunikationswissenschaft eher die Ausnahme als die Regel, etwa in der Mediaforschung oder PR-Beratung. Das muss – etwa unter dem Blickwinkel wissenschaftlicher Unabhängigkeit oder gesellschaftlicher Verantwortung von Wissenschaftler*innen – nicht zwangsläufig ein Nachteil sein. Aber es bleibt eben auch nicht folgenlos für die Beziehung von inner- und außerwissenschaftlichen Akteur*innen.
Auch wenn man sich auf Podien immer wieder die Wichtigkeit des gegenseitigen Austausches und des gemeinsamen Interesses am Gegenstand versichert: Die Praxen der außerwissenschaftlichen Akteur*innen, die professionell kommunizieren – oder es zumindest idealerweise tun sollten – und der Kommunikationswissenschaft bleiben relativ unabhängig voneinander und folgen unterschiedlichen dominanten Logiken – auch jenseits unterschiedlicher Sachziele wie Wissensgewinn auf der einen Seite beziehungsweise hohen Reichweiten oder strategisch gestalteten Beziehungen zu wichtigen Stakeholdern und weiteren kommunikativen Zielen auf der anderen. Die Berührungspunkte dürften in stärker praxisorientierten Feldern wie der Journalismusoder PR-Forschung mitunter vielfältiger und enger sein, am grundsätzlichen Befund ändert dies aber wenig.
Dieses Nebeneinander ist aber umso folgenreicher, je stärker Wissenschaft in einer digitalisierten Gesellschaft ihre Daten nicht selbst erheben kann, sondern zur angemessenen Beschreibung des Gegenstandes auf Datenbestände zurückgreifen muss, über die außerwissenschaftliche Akteur*innen verfügen. Hier mag man durchaus berechtigt einwenden, dass die Verfügungsgewalt über Datenspuren, die Bürger*innen in einer datafizierten Umwelt umfassend und zwangsläufig hinterlassen, eine gesamtgesellschaftlich zu klärende Frage sei, insbesondere bezogen auf mächtige Plattformanbieter wie Facebook oder Intermediäre wie Google. Aber diese politischen Prozesse werden, so sie denn überhaupt erfolgreich sein sollten, allein wegen ihrer transnationalen Komponente ihre Zeit in Anspruch nehmen, sodass es zumindest aus einer Mittelfristperspektive durchaus sinnvoll erscheint, das Phänomen genauer in den Blick zu nehmen – und sicher auch ausführlicher, als es in dieser Gedankenskizze möglich ist. Der Fokus liegt daher auf der Beziehung, die schon in der Einleitung beschrieben worden ist: Zwischen jungen Wissenschaftler*innen in der akademischen Qualifikationsphase auf der einen Seite und außerwissenschaftlichen Akteur*innen wie Unternehmen, Verbänden oder öffentlichen Organisationen auf der anderen.
Perspektiven der kommenden akademischen Generationen
Wer nach dem Masterstudium in der Forschung bleibt, konzentriert sich aus guten Gründen darauf, innerwissenschaftliche Anforderungen zu erfüllen, seien dies nun substantielle Beiträge zum Projekt, in das man eingebunden ist, der Aufbau eines professionellen Netzwerkes, eine möglichst große Zahl von Publikationen in möglichst renommierten wissenschaftlichen Fachzeitschriften, internationale Sichtbarkeit, die Aneignung von Fähigkeiten, die notwendig sind, um erfolgreich Drittmittel einzuwerben, oder gar fachpolitisches Engagement in wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Denn dies sind die notwendigen, wenn auch oft nicht hinreichenden Bedingungen für eine erfolgreiche Karriere in der Wissenschaft, die idealerweise darin mündet, als Professor* in mit hoher Autonomie ein Forschungsfeld gestalten zu können.
All das geschieht unter Wettbewerbsbedingungen, die sicherlich bis zu einem gewissen Grad durch wissenschaftspolitische Entscheidungen und die vielfach diskutierten Dysfunktionalitäten im Wissenschaftssystem verschärft werden, aber im Kern den Interessen eines Faches entsprechen, aus der Vielfalt guter Kandidat*innen jene zu fördern und mit knappen Ressourcen auszustatten, die besonders kreative und nachhaltige Beiträge zum Erkenntnisgewinn liefern. In diesem Wettbewerb zu bestehen kostet Zeit und Energie. Gleichwohl geht es bei dieser Fokussierung nicht allein um die Ressourcen, die junge Wissenschaftler*innen investieren, sondern eben auch um eine mentale Orientierung an wissenschaftlichen Standards wie theoretischer Ausgereiftheit, der Angemessenheit empirischer Methoden, der unbedingten Präzision von Sprache und Fragestellungen und vor allem der Unabhängigkeit von Interessen, die es Wissenschaft erst möglich macht, ihren spezifischen und wertvollen Beitrag zu einer aufgeklärten, modernen Gesellschaft zu leisten.
Diese Fokussierung ist nicht zu verwechseln mit einem Tunnelblick. Wissenschaftler* innen, die sich mit gesellschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzen, bleiben in gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge und persönliche soziale Netzwerke eingebunden. Gerade Phänomene, für die sich die Kommunikationswissenschaft interessiert, haben hohe Alltagsrelevanz, die sich – idealerweise reflektiert – in der wissenschaftlichen Annäherung an den Gegenstand niederschlägt und den Austausch mit Akteur*innen erleichtert, die Gegenstand der Forschung sind. In den methodologischen Grundlagen der qualitativ-entdeckenden Forschung ist diese Eingebundenheit sogar tief verankert als wichtiges Element im Prozess der Erkenntnisgewinnung. Aber gleichwohl steigt mit der Fokussierung junger Wissenschaftler* innen auf das innerwissenschaftliche Feld die Gefahr, die Chancen aus dem Blick zu verlieren, die sich jenseits der Wissenschaft ergeben können, und die Inspiration, die der Austausch mit der Praxis jenseits der akademischen Forschung für die eigene wissenschaftliche Arbeit liefern kann.
Von welcher Inspiration, von welchen Chancen ist hier die Rede? Zunächst einmal von solchen, die im Entdeckungszusammenhang für eigene, profilbildende Forschungsvorhaben wie etwa die Promotion angesiedelt sind. So unverzichtbar bei der Entwicklung von Forschungsfragen die innerwissenschaftliche Kommunikation ist, um Forschungslücken zu identifizieren und die eigenen Ansätze mit vorhandenen Arbeiten zu vernetzen, so hilfreich kann es sein, diese wissenschaftliche Fundiertheit um eine besondere gesellschaftliche Relevanz anzureichern, die im Austausch mit Akteur*innen außerhalb der Wissenschaft besonders gut herausgearbeitet werden kann. Hieraus kann sich ein zusätzlicher Impact der eigenen Arbeit als Forscher*in entwickeln, der in Zeiten, in denen verstärkt nach der accountability von Wissenschaftsorganisationen gefragt wird, keine rein altruistische Angelegenheit mehr ist.
Chancen ergeben sich aus einem stärkeren Austausch mit außerwissenschaftlichen Akteuren für die empirische Arbeit. Etwa auf der Suche nach (Ko-)Financiers, die die Realisation angemessener Forschungsdesigns erlauben, über professionelle Netzwerke, die den Zugang zum Feld oder den Zugriff auf Daten, die zur Beantwortung aktueller Fragestellungen notwendig sind, wesentlich erleichtern oder gar erst möglich machen, bis hin zu Expert*innen, die in member checks wissenschaftliche Zwischenergebnisse diskutieren und so wertvolle Hinweise zur Interpretation von Daten oder der Optimierung empirischer Designs liefern. Es gibt für all das gute Beispiele in der Praxis der Gesellschaftswissenschaften, die Anreiz sein können, diesen Austausch zu vertiefen.
Austausch verschiedener Eigenlogiken
Dieser Austausch kann unter Umständen auch attraktive Karriereperspektiven jenseits des akademischen Feldes eröffnen, die im innerwissenschaftlichen Diskurs mitunter vielleicht zu vorschnell mit Begriffen wie Exit-Option oder Plan B belegt werden: In der Beratung, in kommerzieller Forschung und Entwicklung oder in Führungspositionen, die mittelfristig in Form von Professuren an Hochschulen für angewandte Forschung auch wieder Perspektiven im akademischen Feld eröffnen können. Vielleicht würde es mancher Debatte um Karrierewege ein wenig ihrer Schärfe nehmen, wenn man hier zu einer verbalen Gleichberechtigung fände, zumal in einem hochkompetitiven Feld der Plan A in Form einer Professur nicht die default option für die involvierten Akteur*innen ist.
Inspiration ergibt sich aber auch auf einem anderen Feld. Bei allen Unterschieden in den Zielen ist der Wissenschaftsbetrieb gleichwohl von ähnlichen Organisationslogiken geprägt, die auch die Organisationen außerhalb der Wissenschaft bestimmen, aus denen Förder*innen, Beforschte und Expert*innen stammen, die regelmäßig in empirische gesellschaftswissenschaftliche Forschung eingebunden sind. Young scholars und young professionals teilen eine Reihe von Herausforderungen: kreative Ideen entwickeln, die ihnen den Zugang zu den allokativen und autoritativen Ressourcen sichern, die sie benötigen, um den Grundstein einer erfolgreichen Karriere zu entwickeln; die eigenen Projekte so effizient managen, dass organisationale und individuelle Ziele gleichermaßen erreicht werden; Widerständen begegnen, die sich aus den Routinen ergeben, die eine reife Organisation entwickelt hat, in die man erst kürzlich eingestiegen ist, oder Chancen erkennen, die sich aus dem Beitritt zu einem innerorganisationalen Veränderungsnetzwerk ergeben können.
Für die Wissenschaft ergeben sich hier Gelegenheiten aus einem anders akzentuierten Methodendiskurs in außerwissenschaftlichen Organisationen, der weniger auf die fundierte Beschreibung und Erklärung von Phänomenen abzielt, sondern stärker auf die Lösung von Problemen, sei dies nun in Form von Verfahren zur systematischen Ideenentwicklung und -bewertung, der Integration verschiedener inner- und außerorganisationaler Akteur*innen in Entwicklungsprozesse oder Projektmanagementansätze, die der deutlich gestiegenen Unsicherheit und Veränderungsgeschwindigkeit in der Projektumgebung Rechnung tragen. Und nein, hier sollen nicht zum gefühlt zehntausendsten Mal pauschal die Vorzüge des agilen Managements beschworen werden, ohne genau zu wissen, was man darunter versteht. Vielmehr geht es um ein Plädoyer, sich mit der Frage, wie man seine Forschung innerhalb eines organisationalen Kontexts entwickelt, genauso systematisch zu beschäftigen wie mit dem Forschungsdesign selbst. Und das kann im Austausch mit außerwissenschaftlichen Akteuren, die eine spezifische Methodenexpertise mitbringen, mitunter besser gelingen.
Dass die Möglichkeiten, die sich aus so einem Austausch ergeben könnten, noch nicht vollständig ausgeschöpft werden, liegt allerdings nicht nur an der beschrieben Fokussierung von Wissenschaftler*innen in der Qualifikationsphase, sondern auch an den außerwissenschaftlichen Akteur*innen, die als Austauschpartner*innen in Frage kämen. Auch diesbezüglich kann es an dieser Stelle nicht um eine tiefgreifende Analyse gehen, sondern um Beobachtungen, die sich aus dem persönlichen Agieren in diesem Feld ergeben.
Professionelle Akteur*innen tun sich, gerade wenn sie wie etwa in der Medienindustrie unter hohem täglichen Erfolgsdruck stehen, mitunter schwer mit dem hohen Detaillierungsgrad, der Abstraktheit und Vorläufigkeit sowie der langfristigen Perspektive der akademischen Forschung, die oft nicht die konkreten Handlungsanleitungen für die Gestaltung von professionellen Abläufen liefert, die sich die Akteur*innen aus der Praxis versprechen, die etwa die Kommunikationswissenschaft untersucht. Und zwar unter anderem deshalb, weil die Erwerbsbiographien der Akteur*innen im Vergleich etwa zur Ingenieurwissenschaft sehr unterschiedlich sind und weniger stark von einer akademischen Sozialisation in vergleichbaren Instituten geprägt werden.
Einsichten der Forschung
Dies gilt insbesondere für Forschungsfelder wie die digitalisierte Kommunikation, in der die Märkte eine Entwicklungsdynamik vorgeben, der etablierte Prozesse der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung kaum noch gewachsen sind. Selbst bei Phänomenen, die bei der Vorbereitung einer empirischen Studie hochaktuell waren, können die empirischen Befunde fast schon veraltet sein, wenn sie nach Review und Revision schließlich in einer Fachzeitschrift erscheinen.
Die Distanz zur Forschungslogik kann abfärben auf die Wahrnehmung der Wissenschaftler* innen, die nach dieser Logik Erkenntnisse produzieren. Wer an vermeintlich Abseitigem und wenig Praxisrelevantem forscht, hat auch als Individuum der Praxis außerhalb der Gesellschaftswissenschaften vermeintlich wenig zu bieten. Quereinsteiger*innen, die die akademische Welt nach ein paar Jahren in Drittmittelprojekten verlassen, gelten im Vergleich zu Hochschulabsolvent*innen tendenziell als weniger handlungsorientiert und weniger kompatibel zur eigenen Personalentwicklungsstrategie.
Diese Wahrnehmung mag bisweilen verstärkt werden durch einen Habitus der wissenschaftlichen Akteur*innen, der auf eine Abgrenzung von der Praxis abzielt. Mit Blick auf junge Wissenschaftler*innen kommt mitunter noch eine gewisse Elitenorientierung außerwissenschaftlicher Akteur*innen hinzu, die sich zur besseren Durchsetzung von strategischen Zielen innerhalb außerwissenschaftlicher Organisationen mit Hilfe von Forschungsergebnissen aus durchaus nachvollziehbaren Gründen der Glaubwürdigkeit gestandener Expert*innen mit eindrucksvollen akademischen Biographien bedienen. Gleichwohl unterschätzen Unternehmen und Organisationen damit den Beitrag, den (junge) Wissenschaftler*innen zur Erreichung von Organisationszielen leisten können, indem sie als externe Expert*innen aus einem weniger von der dominanten Logik einer Industrie geprägten Blickwinkel Situationen analysieren und Handlungsmöglichkeiten entwickeln können. Das gilt besonders für strategische Fragen, bei deren Lösung gerade das Abstraktionsvermögen, die methodische Strenge und die analytischen Fähigkeiten gefragt sind, die auch für eine erfolgreiche innerwissenschaftliche Karriere unverzichtbar sind.
Im Ergebnis verlieren letztlich beide, die Praxis innerhalb und außerhalb der Gesellschaftswissenschaften, indem sie intellektuelle Impulse, Methoden, Wissen und Perspektiven nicht in dem Umfang für sich nutzbar machen, wie er zumindest auf lange Sicht möglich und wünschbar wäre. Das gilt wenigstens mit Blick auf die Kommunikationswissenschaft besonders in einer digitalisierten und vernetzten Gesellschaft, in der einerseits eine wachsende Zahl von Branchen und gesellschaftlichen Problemstellungen kommunikationswissenschaftliche Expertise nachfragt und andererseits der Gegenstand selbst von Akteur*innen geprägt wird, die bislang nicht im Fokus wissenschaftlicher Konzepte von Massenkommunikation standen.
Die Praxis des Dialogs
In einem verstärkten Austausch von Unternehmen, Organisationen und Politik auf der einen Seite und Wissenschaftler*innen in der Qualifikationsphase auf der anderen Seite stecken also durchaus Potenziale. Daher ist es ein mehr als ehrenwertes Ziel, diese Sphären systematisch zusammenzubringen, um diese Potenziale zumin dest aufzuzeigen und in Teilen sogar zu heben. Das gilt insbesondere für Förder*innen der Wissenschaft wie die Schader-Stiftung, die die Praxis der Gesellschaftswissenschaften explizit zum Schwerpunkt ihrer Tätigkeit erhoben haben.
Wie aber sollte so ein Dialog idealerweise stattfinden? Als Konsequenz aus den bisher vorgetragenen Überlegungen vor allem auf Augenhöhe, vorbehaltlos und mit großer Offenheit. Auf Augenhöhe, weil alle Beteiligten gleichermaßen wertvolle Beiträge dazu leisten können, die Ergebnisse zu verbessern, an denen auf beiden Seiten Profis arbeiten. Vorbehaltlos, weil die Distanz beider Sphären nur zu kleinen Teilen aus Animositäten und bewusstem Missverstehen herrührt, sondern zum großen Teil in den Unterschieden der dominanten Logiken beider Bereiche zu suchen ist, an denen sich die Akteur*innen aus guten Gründen orientieren. Vorbehaltlos bedeutet hier, sich diese Unterschiede und ihren Einfluss auf individuelles Handeln bewusst zu machen. Offenheit ist vonnöten, um einen Nutzen der Adaption wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Methoden auch dort zu entdecken, wo man sie intuitiv nicht vermuten würde.
Zudem darf diese Zusammenarbeit keine Einbahnstraße sein. Es kann etwa nicht ausschließlich darum gehen, Forschungsgelder, Daten oder einen leichteren Feldzugang zu bekommen; genauso wenig um customer insights zum Nulltarif. Denn in beiden Fällen würde man die eigene Handlungslogik gerade nicht verlassen. Aber genau darin liegt der zentrale Treiber dafür, dass beide Seiten vom Austausch profitieren. Im Umkehrschluss spricht dies für Formate, die persönlichen Austausch ermöglichen und die gemeinsame Arbeit an relevanten Themen. Der persönliche Austausch ist hilfreich, um eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, die Differenzen nicht verwischt, sondern als Energiequelle definiert. Die gemeinsame Arbeit an einer Fragestellung macht Differenzen in der Herangehensweise sehr konkret erfahrbar und damit auch die Möglichkeiten und Vorteile, die sich aus der gegenseitigen Adaption von Methoden ergeben. Idealerweise wird dieser Prozess von Expert*innen aus beiden Feldern moderiert, die zur Reflexion und neuen Perspektiven anregen. Im Ergebnis entsteht so ein Umfeld, in dem man voneinander lernen und sich gegenseitig inspirieren kann. Idealerweise bleibt es nicht bei punktuellen Zusammentreffen. Die sind unverzichtbar, um das Eis zu brechen. Aber gerade weil es mitunter anstrengend ist sich kennenzulernen, sollte man sie als Investition in eine längerfristige Zusammenarbeit sehen.
Auf dem Weg zu so einem intensiven Austausch hat die Schader-Stiftung bereits wichtige Impulse gegeben. Zunächst dadurch, dass sie Wissenschaftler*innen in der Qualifikationsphase aus allen Gesellschaftswissenschaften gemeinsam den Raum gegeben hat, über die Rahmenbedingungen des Starts in eine akademische Karriere zu diskutieren. Insbesondere bindet sie in wachsendem Umfang junge Wissenschaftler* innen in ihre Veranstaltungen ein und traut ihnen wertvolle Beiträge an hervorgehobener Position zu.
Darüber hinaus gäbe es aber durchaus noch Möglichkeiten, diesen Austausch weiter zu vertiefen. Zu denken wäre an Plattformen, auf denen Expert*innen aus der Praxis und junge Wissenschaftler*innen gemeinsam Forschungsideen, vielleicht sogar Forschungsprogramme entwickeln. Zu prüfen wäre, ob nicht neue Formen des Mentorings konzeptioniert werden könnten, die erfolgreiche innerwissenschaftliche Ansätze ergänzten. Mit Graduiertenkollegs ist in den vergangenen Jahren ein neuer institutioneller Kontext für den Einstieg in eine wissenschaftliche Karriere entstanden. Möglicherweise könnte eine Stiftung auch in diesem Fall Expert*innen von außerhalb und innerhalb der Wissenschaft gemeinsam darüber nachdenken lassen, ob hier vielversprechende Wege des Austausches lägen. Denkbar wären aber auch Workshops, in denen junge Wissenschaftler*innen gemeinsam Lösungen für Probleme erarbeiten, die sich in der Praxis der Gesellschaftswissenschaften stellen. All dies könnte dazu beitragen, die Durchlässigkeit zwischen beiden Bereichen zu erhöhen – zum Gewinn von Gesellschaftswissenschaften und Praxis.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der erweiterten Dokumentation des Symposiums „Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften“, das anlässlich des 90. Geburtstags des Stifters Alois M. Schader am 16. Juli 2018 im Schader-Forum stattfand.
Lars Rinsdorf: Praxen vernetzen und Perspektiven eröffnen. Gedanken zum Verhältnis von Gesellschaftswissenschaften und außerwissenschaftlichen Organisationen, in: Alexander Gemeinhardt (Hrsg.): Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften. 30 Jahre Schader-Stiftung, Darmstadt 2018, 71-77.
Der Autor: Prof. Dr. Lars Rinsdorf ist als Studiendekan für die Studiengänge Crossmedia-Redaktion und Public Relations an der Hochschule der Medien Stuttgart (HdM) verantwortlich. Er ist seit 2018 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK).