Mehr Fragen als Antworten. Gedanken der nächsten akademischen Generation
Artikel vom 20.05.2019
Wissenschaft und Öffentlichkeit miteinander in Dialog zu bringen ist eine Gratwanderung, die aber unbedingt gegangen werden muss. Wer ist diese Öffentlichkeit eigentlich? Und wer diese Nachwuchsgeneration? Nachwuchswissenschaftler*innen führen ein sehr wechselhaftes und ambivalentes Arbeitsleben: irgendwo zwischen der geistigen Elite des Landes und dem Arbeitsamt. Von Tabea Freutel-Funke und Marilena Geugjes
Vorausgeschickt
Die Autorinnenschaft – hart umkämpfte Währung in der Wissenschaft – teilen wir uns in diesem Beitrag; wir schreiben gemeinsam in alphabetischer Reihenfolge. Warum wir es uns überhaupt anmaßen, Äußerungshoheit im Namen des akademischen Nachwuchses zu besitzen? Weil wir aktiv an der Gestaltung von Veranstaltungen der Schader-Stiftung teilgenommen haben, und nicht etwa, weil wir ein „Mandat“ unserer Generation erhalten hätten. Dieses Stück spiegelt folglich unsere subjektiven Meinungen wider, für die wir keinen allgemeinen Geltungsanspruch erheben möchten. Und wer ist sie eigentlich, diese Nachwuchsgeneration, für die wir sprechen dürfen?
Auch wenn wir beide uns in unseren Fächern, Geburtsjahren und Lebensumständen unterscheiden, so haben wir doch auch viele Gemeinsamkeiten, die man als typisch für Jungwissenschaftler*innen an deutschen Hochschulen beschreiben könnte. Alle diese Gemeinsamkeiten kommen recht ambivalent daher. Beispielsweise haben wir einerseits in zahlreichen und teilweise langjährigen Auslandsaufenthalten viel internationale Erfahrung gesammelt. Weiterhin verfügen wir über Einblicke in die Arbeit vieler verschiedener Institutionen, Organisationen, Ministerien und Redaktionen. Andererseits bedeutet dies allerdings, dass wir zahlreiche Stunden und viel Arbeit in unbezahlte Praktika gesteckt haben. Für ein solches Praktikum, vor allem in einer anderen Stadt, musste man schon einmal investieren, genau wie für den Auslandsaufenthalt. Wer diese Mittel nicht hat, hat das Nachsehen. Und in unseren aktuellen Anstellungen als akademische Universitätsmitarbeiterinnen fühlen wir uns zwar einerseits privilegiert, da wir für etwas bezahlt werden, das uns Spaß macht und interessiert, und dies in Kontexten tun können, in denen wir auch schon vor dem Erreichen des Doktorgrades ernst genommen werden. Wir fühlen uns gut unterstützt von Professorinnen und Professoren, die an uns und unsere Arbeit glauben, sowie durch Stiftungen und Graduiertenförderprogramme. Andererseits würden wir uns aber, sollten wir diesen Weg weitergehen, bis zum Professorinnenstatus ausschließlich in befristeten Arbeitsverhältnissen befinden. Planungssicherheit? Fehlanzeige. Oft ist wenige Wochen vor dem Auslaufen des aktuellen Vertrags noch nicht klar, ob und wie es danach weitergeht. Ob der nächste Antrag bewilligt wird. Ob die nächste Stelle zustande kommt. Nachwuchswissenschaftler*innen führen ein sehr wechselhaftes und ambivalentes Arbeitsleben: irgendwo zwischen der geistigen Elite des Landes und dem Arbeitsamt.
Im Folgenden wollen wir, Vertreterinnen ebendieser akademischen Nachwuchsgeneration, wenige Antworten geben und viele Fragen stellen, Fragen, die uns in unserer Arbeit im akademischen Feld voraussichtlich immer wieder an verschiedenen Stellen begegnen werden und deren Beantwortungen wir uns im Austausch mit der vorherigen und der folgenden Generation wünschen würden.
Öffentlichkeit und Wissenschaft
Bevor der Frage nachgegangen werden kann, ob und wie „die“ Wissenschaft sich „der“ Öffentlichkeit nähern sollte, muss beantwortet werden, wer ebendiese Öffentlichkeit eigentlich ist. Ist es die eigene Fachöffentlichkeit, die Community einer angrenzenden Teildisziplin, die Öffentlichkeitsabteilung der eigenen Universität oder Fachhochschule, oder wagt man sich gar an eine Öffentlichkeit, der in ganz anderer Sprache begegnet werden muss (oder müsste)? Die Beiträge der verschiedenen Teilnehmer*innen des Symposiums haben gezeigt, dass über diese Definition von Öffentlichkeit in den Sozialwissenschaften keine Einigkeit besteht.
In Bezug auf die öffentliche Wahrnehmbarkeit von Wissenschaft hat sich viel getan in den letzten Jahren: Der Unterhaltungswert von wissenschaftlichen Inhalten wurde von einem breiten, internetfähigen Publikum entdeckt. Anschaulich und amüsant werden sie im Rahmen von Ted Talks, Science Slams, Pechu Kucha-Vorträgen und Podcasts vermittelt. Ist es diese Öffentlichkeit, die wir erreichen wollen? Auch Wissenschaftsjournalismus spielt in der verständlichen Vermittlung von wissenschaftlichen Inhalten eine wichtige Rolle. Jedoch ist der Zugang für Jungwissenschaftler*innen für diese Art von Öffentlichkeit nicht selbstverständlich, bedarf es dafür doch eigener präsentierbarer Ergebnisse, mit denen man sich positionieren könnte, welche erst einmal erarbeitet werden wollen. Außerdem ist fraglich, wie groß das Publikum tatsächlich ist, das über Wissenschaftsjournalismus erreicht werden kann. Und manchmal stellen sich Menschen aus dem eigenen Umfeld, Verwandte, Party- oder Zugbekanntschaften als die kritischste aller Öffentlichkeiten heraus: „Warum machst du das? Ist das denn wichtig? Was ändert das an der Situation? Und dafür braucht man wirklich so lange?“, oder aber: „Und wann fängst du dann richtig an zu arbeiten?“
Nicht alle diese Fragen kann und muss man als Jungwissenschaftler*in sofort beantworten können. Denn an theoretischen Grundlagen und methodischen Feinheiten zu arbeiten, ist wichtiger Bestandteil der Wissenschaft, obwohl es für Außenstehende weder spannend noch relevant klingen mag. Jedoch sollten wir diese Fragen auch nicht aus den Augen verlieren und sie vor allem nicht belächeln oder abtun. Das Hinterfragen von Motivation und Relevanz erdet und bindet die Wissenschaft zurück an Öffentlichkeit und Praxis.
Abgesehen von der Frage, welche dieser Öffentlichkeiten nun bespielt werden soll, herrscht in den Sozialwissenschaften auch kein Konsens darüber, ob und, falls ja, zu welchem Grade an die Öffentlichkeit herangetreten werden sollte. Auch während des Symposiums der Schader-Stiftung stellte sich heraus, dass es offenbar eine Gratwanderung ist, Wissenschaft und Öffentlichkeit zusammenzubringen. Gute Argumente gibt es für beide Seiten dieses Grats.
Wer die Wissenschaft als im Dienste der Öffentlichkeit stehend sieht, als eine Wissenschaft, die gesellschaftliche und politische Realität verändern, verbessern soll, läuft Gefahr, einer Verwertungslogik zu verfallen, denn nicht nur beforscht werden sollte, was gerade Konjunktur hat. Wissenschaft sollte nicht nur an ihrem Nutzen oder ihrer Anwendbarkeit für Gesellschaft und Politik gemessen werden. Dies würde sowohl die Standards guter Forschung in Frage stellen als auch zu schnellen und einfachen Antworten, da am leichtesten anwendbar, ermutigen. Und parallel zu dieser Überlegung erscheint es schon als beunruhigend genug, dass sich das Wissenschaftssystem bereits selbst beschränkt, was die Auswahl von Forschungsfragen betrifft: Die Logik der Drittmittelvergabe fördert eine Forschung, die sich nah am wissenschaftlichen Mainstream und an etablierten Methoden bewegt. Die dadurch entstandene Tendenz zu immer kleinteiligerer und quantifizierbarer Forschung lässt kaum Raum für Grundlagenforschung und Fragen, die sich größeren Zusammenhängen widmen – doch das ist ein anderes Thema und kann an dieser Stelle nur angedeutet werden.
Wird aber Wissenschaft, und dies ist das andere Extrem, als abgeschlossenes System angesehen, als „Raumschiff“, wie es so treffend in einem Symposiumsbeitrag hieß, in dem Ergebnisse und Erkenntnisse zirkulieren und verstanden werden, niemals jedoch nach außen gelangen, stellt sich die Frage nach dem Sinn dieser Weltraumexpedition. Science for science’s sake? Es wäre schade, wenn dies der einzige Anspruch von Sozialwissenschaft wäre. Oft liegt der Grund dafür, dass wissenschaftliche Produkte kaum an die Öffentlichkeit gelangen, aber nicht (nur) am Unwillen, sondern an Verständlichkeit. Das Raumschiff Wissenschaft pflegt in der Regel eine Sprache, die von Externen weder gesprochen noch verstanden wird. Die Produkte, die von einem abgeschlossenen wissenschaftlichen System hervorgebracht werden, sind somit nicht anschlussfähig an die Wissensbestände der nichtwissenschaftlichen Außenwelt. Dies führt zu einer Entfernung und Entfremdung zwischen Wissenschaft und dem Rest der Gesellschaft, was immer, aber im Besonderen momentan, zu Zeiten von Fake News, Faktenzweifler*innen, die sich von Globalisierung und Digitalisierung abgehängt fühlen, und einer immer weiter auseinanderdriftenden Gesellschaft eine gefährliche Entwicklung ist. Vor allem die Sozialwissenschaften sollten an gesellschaftlichem Zusammenhalt und gelingender Sozialintegration interessiert sein und nicht durch Distinktionspraktiken das Entstehen von Parallelgesellschaften fördern.
Wissenschaft und Öffentlichkeit miteinander in Dialog zu bringen ist also eine Gratwanderung, die aber unbedingt gegangen werden muss. Jedoch stellt diese Wanderung eine besondere Herausforderung für Jungwissenschaftler*innen dar: Neben Forschungstätigkeiten, dem ständigen Ausbau der Publikationsliste, dem Anfertigen der Qualifikationsarbeiten und dem Erarbeiten und Schärfen eines eigenen wissenschaftlichen Profils bleibt in der Regel wenig Zeit, sich über die öffentlichkeitswirksame Aufbereitung der eigenen Ergebnisse Gedanken zu machen. Wer in der Wissenschaft bleiben möchte, kann es sich leider kaum leisten, nach rechts und links zu schauen. Zudem schlägt sich öffentliches Engagement weder im Impact Factor nieder, noch wird es bei Berufungsverfahren berücksichtigt. Das Wissenschaftssystem funktioniert nach seiner eigenen Logik. In dieser Logik ist das Präsentieren nach außen (noch) nicht angelegt. Mit der Öffentlichkeit, in welcher Form auch immer, in Kontakt zu treten, kann folglich als Luxus angesehen werden, der bei der momentanen Ausgestaltung des Systems etablierten und entfristeten Wissenschaftler*innen, sprich: Professor*innen, vorbehalten bleibt. Dies führt wiederum dazu, dass es eine recht homogene Gruppe von Wissenschaftlern (sic) ist, die in der Öffentlichkeit sichtbar ist. Obwohl der Zugang zur akademischen Ausbildung für junge Menschen aus bildungsferneren Elternhäusern leichter geworden ist, nimmt die Repräsentation von sozialer Diversität an Universitäten mit steigendem Bildungsgrad deutlich ab. Dies gilt auch für Frauen. Und obwohl aktuell so viele Frauen wie nie zumindest im akademischen Mittelbau arbeiten, waren hier die Arbeitsbedingungen für sie noch nie so schlecht. Die erfolgreiche Vereinbarung von Familienplanung und der voraussetzungsvollen akademischen Karriere bedarf privilegierter Kontextbedingungen, über die nicht jede Frau verfügt. Doch auch dies ist ein Problem, das hier nicht im Vordergrund stehen soll.
Wissenschaftler*innen, die regelmäßig in der Öffentlichkeit wahrnehmbar sind, sind also mehrheitlich männlich und in entfristeter Beschäftigung. Zudem sind es oft Persönlichkeiten, die durch Selbstinszenierung und -vermarktung den eigenen Namen zur Marke gemacht haben. Ein markantes Äußeres, ein extravaganter Kleidungsstil, ein besonderer Habitus – der Wiedererkennungswert spielt eine zunehmend wichtige Rolle für den Erfolg innerhalb der Wissenschaftscommunity und in der Öffentlichkeit. Neben der Titulierung als Wissenschaftler geht es dann oft auch darum, noch möglichst viele weitere, vermeintlich legitimierende Bezeichnungen hinter dem Schrägstrich zu sammeln: Wissenschaftler/Aktivist, Wissenschaftler/Künstler, Wissenschaftler/Herausgeber/ Kurator/Beiratsmitglied. Dies zeigt einmal mehr, dass ein distinktes und wiedererkennbares Profil als relevant erachtet wird, jedoch sollten zumindest Jungwissenschaftler* innen sich dabei noch so viel Flexibilität wahren, dass sie für den akademischen Arbeitsmarkt verwertbar bleiben. Paradoxe Erwartungen also, ähnlich wie der Aufbau von tiefgehender Expertise bei gleichzeitiger Anstellung in befristeten Projekten.
Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit kann aber auch so gedacht werden, dass nicht nur Wissenschaft in die Öffentlichkeit getragen wird, sondern auch, dass die Wissenschaft offen für Einflüsse aus der Öffentlichkeit ist. In diesem Zusammenhang kann Wissenschaft als Berufsfeld im Kontext von Öffentlichkeit verstanden werden, das durch Quereinsteiger*innen und Praktiker*innen, die sich erst später für eine akademische Karriere entscheiden, neue Dynamik und frische Einsichten erhalten könnte. Diese Richtung ist allerdings schwer möglich. Perspektivisch würden wir uns darum wünschen, dass diese Durchlässigkeit in die Wissenschaft hinein auch zu späteren Zeitpunkten im Lebenslauf noch möglich ist.
Akademische Ausbildung für die Praxis
Als Vertreterinnen der „Generation Praktikum“ haben wir spätestens beim zweiten Praktikum von insgesamt etwa zehn verstanden, dass Modelle, Definitionen und Theoreme, die wir in unserem Studium gelernt haben, in Arbeitsbereichen, die Gesellschaft, Kultur oder Politik nahestehen, selten weiterhelfen. Das rührt jedoch daher, so glauben wir, dass ein sozialwissenschaftlicher Studiengang zu so viel mehr befähigt als zu einem einzigen Beruf. Im Vergleich zu beispielsweise Medizin oder Jura ist der mögliche Aufgabenbereich für eine*n Sozialwissenschaftler*in so groß, dass Studieninhalte unmöglich an einem bestimmten Beruf ausgerichtet werden können. Entgegen einer gängigen Überzeugung werden beispielsweise die wenigsten Politikwissenschaftler*innen später Politiker*innen (… „und was machst du dann damit?“). Was uns als studierte Sozialwissenschaftlerinnen bei unseren Tätigkeiten in verschiedenen Kultur- und Bildungsinstitutionen, Vertretungen, Ministerien und Nichtregierungsinstitutionen jedoch von großem Vorteil war, war unsere Fähigkeit zur Reflexion und zum Hinterfragen. Nicht nur unsere eigene Rolle, auch die Eigenlogiken der verschiedenen Arbeitsfelder und Institutionen können wir schnell begreifen und bewerten. Verstandene Strukturen lassen sich auf andere Bereiche anwenden, komplexe Zusammenhänge in Kontext bringen und verstehen. Diese Fähigkeit hat uns das Studium gelehrt.
Zudem finden wir, dass – ähnlich wie Forschungsthemen – Studieninhalte nicht an ihrer Praktikabilität oder Anwendbarkeit gemessen werden sollten. Die Lehrinhalte der sozialwissenschaftlichen Studienfächer sind das, was in der entsprechenden Wissenschaftscommunity als State of the Art gehandelt wird. Sie auf das einzudampfen, was später in möglichen Berufen gebraucht werden könnte, würde einem „Studium“ nicht mehr gerecht werden. Das sozialwissenschaftliche Studium sollte zum Denken und Verstehen befähigen, nicht für einen bestimmten Beruf ausbilden. Die „Praxis“, für die akademisch ausgebildet werden soll, ist im Falle der Sozialwissenschaften also das Denken, das Hinterfragen, eine bestimmte Sicht auf soziale Systeme und Komplexe.
Begreift man den wissenschaftlichen Beruf wiederum als Praxis, als späteres Aufgabengebiet für eine*n Sozialwissenschaftsstudent*in, für den während des Studiums vorbereitet wird, so fällt auf, dass nicht alle Standards wissenschaftlichen Arbeitens, die in einer Disziplin erlernt wurden, auf andere Disziplinen übertragbar sind. Trotz mittlerweile zahlreicher interdisziplinärer Studiengänge ist, was gelesen, wie zitiert und was vorausgesetzt wird, in siloähnlichen Strukturen verhaftet. Wie geforscht, in welcher Sprache und in welchem Format publiziert wird, ist von Teildisziplin zu Teildisziplin verschieden. Das erschwert die gemeinsame Erarbeitung von interdisziplinären Fragestellungen und sorgt dafür, dass viele Doktorand*innen zu Beginn ihrer Promotionsphase das wissenschaftliche Arbeiten neu erlernen müssen.
Verantwortliche Forschung und Praxis
Diese Überschrift, sicherlich absichtlich deutungsoffen formuliert, legt zunächst die Frage nahe, wer für wen verantwortlich ist. Auch kann „verantwortlich“ sowohl als „in Verantwortung“ als auch als „verantwortungsvoll“ verstanden werden. Beide Lesarten sollen hier kurz angeschnitten werden.
Einerseits sollte es nicht die Rolle der gesellschaftlichen Realität sein, lediglich Anschauungsobjekt und Problem für wissenschaftliche Forschung zu sein. Wissenschaft ist vielmehr in der Verantwortung, die Realität nicht passiv bleiben zu lassen. Als Teil der Gesellschaft kann sich Wissenschaft nicht von gesellschaftlichen Entwicklungen und Prozessen abkoppeln. Darum ist sie in der Verantwortung, diese auch sinnvoll in ihr eigenes System zu integrieren. Ein Beispiel dafür wäre partizipative Forschung und die gemeinsame Gestaltung von Forschungsprojekten, die über klassische Evaluationsstudien hinausgehen. Andererseits ist es auch nicht die Verantwortung von Wissenschaft, im Dienste der Öffentlichkeit lediglich die soziale Realität zu erklären und Entwicklungen vorauszusagen, so wie beispielsweise im Kontext der Eurokrise oder des Arabischen Frühlings regelmäßig gefordert. Die Verantwortung füreinander sehen wir vielmehr als gegenseitig an.
Mit dieser wechselseitigen Verantwortung geht die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit einher. Ziel sollte es sein, eine gemeinsame Sprache zu etablieren, die Einblicke in und Verständnis für das jeweils andere zulässt. Das soll nicht bedeuten, dass alle Grenzen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit abgebaut werden sollten: Am Ende des Tages praktizieren Praktiker*innen eigenverantwortlich, und Urheberschaft wie Autorenschaft wissenschaftlicher Produkte verbleiben bei den Forscher*innen. Was die andere Lesart betrifft, „verantwortlich“ im Sinne von „verantwortungsvoll“, so gibt es Gremien, die prüfen, ob die Verantwortung, die Wissenschaftler*innen gegenüber ihren Forschungsteilnehmenden haben, wahrgenommen wird. Im Rahmen von Peer Review-Prozessen wird darüber hinaus sichergestellt, dass sowohl Forschungsprozess als auch -produkt qualitative Standards erfüllen und somit der Verantwortung gegenüber der restlichen Community gerecht werden. Der verantwortungsvolle Umgang mit Forschungsobjekten wird zwar mithilfe unterschiedlicher Strukturen aber doch kontinuierlich angestrebt. Die Verantwortung, dass die Wissenschaftler*innen selbst unter guten Bedingungen arbeiten, hat jedoch (noch) nicht den gewünschten Stellenwert.
Als empirisch forschende Wissenschaftlerinnen nehmen wir unsere Verantwortung gegenüber unseren Gesprächs- und Interviewpartnern ernst und sollten uns bei anschließenden Aussagen über das Forschungsfeld immer auch dahingehend hinterfragen, ob es tatsächlich legitim ist, dass wir auf diese Art und Weise über eine Personengruppe sprechen, nur, weil wir sie beforscht haben. Denn wer erteilt uns das Mandat dazu? In Bezug auf beforschte Personengruppen, soziale Gruppen oder Schichten fällt außerdem auf, dass es vergleichsweise viel Forschung zu marginalisierten oder prekarisierten sozialen Gruppen gibt, wohingegen sich einige gesellschaftliche Gruppen dem „Beforschtwerden“ entziehen können. Auch wenn beispielsweise Policyforschung Entscheidungsprozesse unter die Lupe nimmt, so bleibt doch die Verantwortlichkeit von Entscheidungsträger*innen oft im Dunkeln. Wenig wissen wir über die Dynamiken und Prozesse in Kreisen, in denen die Eliten unserer Gesellschaft gesamtgesellschaftlich relevante Entscheidungen treffen. Es läge sowohl in der Verantwortung der Eliten, sich der Forschung zu öffnen, als auch in der Verantwortung der Forschung, Eliten und ihre Entscheidungsstrukturen mehr ins Zentrum ihrer Studien zu rücken.
Abschließend
Wie zu Beginn angekündigt, haben wir mehr Fragen aufgeworfen, als wir beantworten können. Wir hoffen jedoch, mit den in diesem Stück präsentierten Gedanken eine zumindest kleine Debatte anstoßen zu können und sind der Schader-Stiftung dankbar, dass sie uns den Raum dafür zur Verfügung gestellt hat.
Ein Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ist schwierig, aber wichtig. Ein Füreinander-Verständnis-Haben ist wichtig. Für diesen Austausch und das Finden einer gemeinsamen Sprache braucht es von unserer Seite engagierte Wissenschaftler* innen, die den Dialog mit der Öffentlichkeit anstoßen und sich auf ihn einlassen. Vor allem aus unserer Sicht wäre es wünschenswert, wenn daran auch Jungwissenschaftler* innen beteiligt wären. Dazu müssten zunächst Möglichkeiten geschaffen werden, die es jungen Forscher*innen erlauben würden, im Laufe ihrer Karriere mehr als das Ziel im Blick zu behalten, als endlich in entfristeter Position zu sein. Das Engagieren von Jungwissenschaftler*innen für einen konstruktiven Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit müsste darum vom Wissenschaftssystem honoriert werden, was aktuell kaum der Fall ist. Darum würden wir bereits etablierte Wissenschaftler* innen, die sich im Rahmen ihrer Rolle in beispielweise Berufungskommissionen in der Position befinden, das Wissenschaftssystem mitgestalten zu können, dazu ermutigen, öffentliches Engagement von Bewerber*innen positiv zu berücksichtigen. Wissenschaftler*innen sind mehr als nur ein Impact Factor.
Zumindest im Kleinen, so sind wir überzeugt, kann den Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit jede*r starten, jeden Tag. Dazu sind weder Fernsehinterviews noch große öffentliche Auftritte nötig. Das, was wir an Erkenntnissen aus unserer wissenschaftlichen Arbeit ziehen, die Standards, die wir voraussetzen, und die Anforderungen, die wir an uns selbst und den Rest unserer Community stellen, sollten auch im Alltag und im Umgang mit Mitmenschen beachtet und umgesetzt werden. Zivilcourage, Solidarität und das Einsetzen für den Zusammenhalt der Gesellschaft ist gelebte Wissenschaft.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der erweiterten Dokumentation des Symposiums "Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften", das anlässlich des 90. Geburtstags des Stifters Alois M. Schader am 16. Juli 2018 im Schader-Forum stattfand.
Tabea Freutel-Funke und Marilena Geugjes: Mehr Fragen als Antworten. Gedanken der nächsten akademischen Generation zu den drei großen Themen des Symposiums, in: Alexander Gemeinhardt (Hrsg.): Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften. 30 Jahre Schader-Stiftung, Darmstadt 2018, 65-70
Die Autorinnen:
Tabea Freutel-Funke ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kooperativen DFG-Graduiertenkolleg "Doing Transitions" der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Eberhard Karls Universität Tübingen.
Marilena Geugjes ist Doktorandin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg und Vorstandsmitglied des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung.