Schader-Dialog 1/23: „Balancen“
Artikel vom 04.07.2024
Das neue Magazin der Schader-Stiftung zum Dialog zwischen Gesellschaftswissenschaften und Praxis ist mit dem Titelthema „Balancen" erschienen.
Balancen
Balancieren ein Kinderspiel? – Mit dem Erwachsenwerden wird es bitterer Ernst. Die ganz praktische Balance nach Verletzungen und im Alter, sprachliche Ausgewogenheiten oder Work-Life-Balance; aus dem ursprünglichen Bewegungsdrang, dem Kribbeln im Bauch und der Lust an der Labilität wird im Laufe des Lebens der sprichwörtliche Drahtseilakt.
Gleich dreimal Platin gab es vor genau dreißig Jahren für das über eineinhalb Millionen Mal verkaufte Album Seiltänzertraum der Deutsch-Pop-Gruppe PUR: „Kennst du den Seiltänzertraum? / Ich stürz’ ab, doch ich lebe noch. / Dein Netz fängt mich auf...“ Der geträumt folgenlose Himmelssturz aus der Hitparaden-Metaphorik war ein Soundtrack der frühen 1990er und passte mit seinem wohligen Timbre in diese hoffnungsstarken Jahre so mancher Höhenflüge.
Auch unter dem Eindruck des Falls der Berliner Mauer formulierte seinerzeit Francis Fukuyama die These vom „Ende der Geschichte“. Sein gleichnamiges Buch endet mit dem Kapitel Der letzte Mensch. Gut eine Generation später konfrontiert uns heute die selbsternannte Letzte Generation mit den Dystopien, die lange bekannt und präsent sein müssten. Wie halten wir also die Balance auf dem sozialökologischen Drahtseil und begegnen individuell wie institutionell den Herausforderungen eines balancierten, fairen Lebens? Auf dem schmalen Seil bleibt immer weniger Raum für Fehlversuche in Ökologie, Friedens- und Sozialpolitik.
Ohne dem seichten Charme des Popsongs zu erliegen, ließe sich davon träumen, dass nicht nur die Balance als Leistung zählt, sondern auch die Disbalance ihren gesicherten Platz hat – Scheitern als Seiltänzer*innentraum, das soziale Netz als Spielraum für den kreativen Versuch. Damit kann auch der kontrafaktische, irrationale, verzweifelt befreiende Schritt ins Neue gedacht werden, mit Hilde Domin: „Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug.“