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Meine Heimat oder wie mein Vater sagen würde ...

Artikel vom 16.10.2014

Literarischer Beitrag von Hatice Akyün

Die Autorin Hatice Akyün leistete im Rahmen der Abschlusskonferenz des Forschungs-Praxis-Projekts „Integrationspotenziale ländlicher Regionen im Strukturwandel“ einen literarischen Beitrag zum Thema Zuwanderung und Heimat.

Lesung

Vor einiger Zeit wurde ich gefragt, was für mich Heimat bedeute. Ich musste nicht lange überlegen, denn ich habe ein bestimmtes Bild vor Augen: Heimat ist für mich die A 42, die durch Duisburg geht. Hochöfen, die in den Himmel ragen. Ich kenne die A 42 in- und auswendig. Aber auch wenn ich zum millionsten Mal dort entlangfahre, berührt es mich - das ist Heimat. Mit Duisburg verbinde ich meine Kindheit, meine Jugend, und auch eine Zeit, in der ich noch keinen Migrationshintergrund hatte und einfach nur Hatice, der Mensch, war. Eines hat meine Stadt für mich immer einzigartig gemacht: Hier ist jeder Duisburger, ganz egal, woher er kommt oder woran er glaubt. Auch mein Deutsch lässt schon lange nicht mehr auf meine Herkunft schließen. Trotzdem fällt es mir schwer zu sagen: Ich bin Deutsche. Manchmal fühle ich mich monatelang kein einziges Mal türkisch. Erst wenn ich neue Menschen kennenlerne, die mich fragen, woher ich komme, reißen sie mich aus meiner deutschen Welt.
"Aus Berlin", antworte ich.
"Nein, ursprünglich?"
"Aus Duisburg", sage ich. Und dann kommt immer diese eine Frage:
"Nein, ich meine, wo liegen Ihre Wurzeln?"
Deshalb füge ich bei der Beschreibung meiner Person meist noch einen erklärenden Satz hinzu: Ich bin Deutsche, aber meine Eltern kommen aus der Türkei. Wobei auch das nicht stimmt. Denn eigentlich leben sie in Duisburg. Meistens sage ich aber:
"Ich bin Türkin."
Dann aber meint mein Gegenüber:
"Wirklich, Türkin? Sie sprechen aber gut Deutsch."
Und ich beende den Herkunftswirrwarr mit dem Satz:
"Hatice. Ich bin Hatice aus Duisburg."

Ich saß nie zwischen zwei Stühlen, steckte nicht zwischen zwei Kulturen fest, und schon gar nicht fühlte ich mich zerrissen oder auf der Suche nach meiner Identität. Wenn man mich früher gefragt hat, als was ich mich fühle, Deutsche oder Türkin, in welcher Sprache ich träume, Deutsch oder Türkisch, und wie viel Prozent an mir türkisch oder deutsch seien, kreisten die Gedanken in einer Endlosschleife in meinem Kopf, und ich bemühte mich, eine Antwort zu finden. Ich weiß sie bis heute nicht.

Als Kind, muss ich gestehen, habe ich mich oft seltsam gefühlt. Ich dachte, meine Familie und ich seien sonderbar: Meine Mutter trägt Kopftuch, wir essen anders, wir sprechen anders. Erst als ich älter wurde, merkte ich, mit welchem Reichtum ich gesegnet war, da ich die Chance hatte, mit zwei Sprachen und zwei Kulturen gleichzeitig aufzuwachsen; und dass ich eine Menge vermissen würde, wenn ich mich für eine meiner Welten entscheiden müsste.

Zwei Lebenswelten bedeuten eine doppelte Chance. Anderen Ursprungs zu sein ist für mich faszinierend. Jemand, der zwei Kulturen in sich vereint, zwei Sprachen spricht, exotisch aussieht und einen Lebenslauf mit Ecken und Kanten hat, kann viele Geschichten erzählen.

Als Deutsche mit türkischer Herkunft - oder Türkin mit deutschen Eigenschaften - bin ich in der Lage, all die Sitten und Unsitten meiner türkischen und deutschen Landsleute zu beobachten und sie liebevoll oder auch mit spitzer Zunge zu kommentieren. So bin ich mal die deutsche, mal die türkische Botschafterin.

Ich neige nicht zu Pathos. Lieber schreibe ich humorvolle Bücher mit Titeln wie Einmal Hans mit scharfer Soße oder Verfluchte anatolische Bergziegenkacke, die davon handeln, wie das so ist, wenn man als gebürtige Türkin hier lebt. Mir ist aber in diesen Zeiten der Humor vergangen. Ich kam nach Deutschland, als ich drei Jahre alt war. Eine Erinnerung daran habe ich nicht.

Deutschland meine Heimat, ich kann gar nicht woanders leben. Dies ist meine Sprache, dies ist mein Land. Die Klischees über Türken kenne ich nur zu gut, ich arbeite ja mit ihnen, genau darüber habe ich Bücher geschrieben. Aber in diesen Tagen scheinen diese Klischees auf eine feindliche Weise übermächtig zu werden. Bei meinen Lesungen gibt es längst nicht mehr viel zu lachen. Immer kommt dieser Punkt, wo einer aufsteht und etwas fragt. Keine Frage zu meinem Buch, sondern:
"Wie stehen Sie zum IS?"
Oder:
"Was halten Sie von Zwangsverheiratungen? Erklären Sie uns doch mal, warum Türken das machen?"
So schwingt dann mit, dass ich es doch wissen müsse. Ich sei ja schließlich "eine von denen".
"Natürlich verurteile ich das", antworte ich, "aber dazu muss ich doch nicht Türkin oder Deutsche sein, dazu reicht es völlig, Mensch zu sein." Vielleicht sollte ich einfach mal antworten: "Zwangsverheiratung? Finde ich gut! Sie nicht? IS? Prima Sache!" Das tue ich natürlich nicht. Stattdessen sage ich: "Keine Ahnung. Weil sie unmenschlich sind? Sagen Sie es mir!" Eine Antwort erhalte ich nicht. Stattdessen hängt dann im Raum so eine unangenehme Stille. Und die Lesung ist zu Ende.

Ich habe Deutsch gelernt, weil man Vater weise genug war zu erkennen, dass die Sprache das Wichtigste ist. Ich erinnere mich noch gut, als ich vier oder fünf Jahre alt war und er zu meinen Geschwistern und mir sagte: "Geht raus, spielt mit den deutschen Kindern, lernt Deutsch." Erst viel später habe ich gemerkt, wie sehr mir das geholfen hat. Heute erzähle ich meine Geschichten in Büchern, aber um unsere Geschichten verstehen zu können, müssen wir eine gemeinsame Sprache haben. Die deutsche Sprache. Sie zu beherrschen, bedeutet für Migranten aber noch viel mehr: Sie bedeutet, sich wehren zu können. Wer die deutsche Sprache nicht spricht, wird seine Wünsche, Bedürfnisse und Gedanken in diesem Land niemals formulieren können.

Ohne die deutsche Sprache wird es nicht möglich sein, einen Beruf zu erlernen, einen Abschluss zu erlangen. Somit verschließen sich für viele Migranten mögliche Lebenswege. Es geht weniger darum, ob man deutsch oder türkisch ist. Es geht weder um Religionen noch darum, welche Kultur die bessere ist. Es geht vor allem darum, dass Migranten ohne Deutschkenntnisse keine Chance haben. Es geht darum, dass Kinder aus Migrantenfamilien ohne die deutsche Sprache keinen Ausbildungsplatz bekommen und ohne die deutsche Sprache zu einer verlorenen Generation gehören werden. Ich spreche niemanden von der Verantwortung frei: nicht die Politiker, die mit sprachlicher Früherziehung, Ganztagsschulen und besonderer Förderung dafür sorgen müssen, dass auch den Benachteiligten in unserem Land Chancen eröffnet werden; nicht die Gesellschaft, die Integration auch zulassen muss und nicht mit Assimilierung verwechseln darf; und schließlich auch nicht die Eltern selbst, die ihre Kinder bestärken müssen, Deutsch zu lernen.

Die Sprache ist die wichtigste Voraussetzung für ein selbstbestimmtes unabhängiges Leben. Sie ist der Schlüssel dafür, dass wir alle in diesem Land glücklich zusammen leben können. So sehr ich die türkische Sprache, ihren Klang und ihre blumigen Beschreibungen liebe, so sehr liebe ich auch die deutsche Sprache, ihre Präzision und sogar die grammatikalischen Ausnahmen. Sich manchmal deutsch zu fühlen, bedeutet nicht, seine Identität aufzugeben. Ein türkisches Sprichwort sagt: Bir dil, bir insan, iki dil, iki insan - eine Sprache, ein Mensch, viele Sprachen, viele Menschen. Jede Sprache bereichert die Persönlichkeit eines Menschen. Ich bin in Marxloh aufgewachsen, habe die Hauptschule besucht, bei uns zu Hause wurde nur Türkisch gesprochen. Ich hatte eigentlich die besten Voraussetzungen, einmal als Beispiel misslungener Integration gelten zu müssen.

Aber manchmal stimmen eben die Klischees nicht, und nach Meinung vieler Politiker ist aus mir mittlerweile ein Paradebeispiel einer gelungenen Integration geworden. Trotz meiner negativen Ausgangsbedingungen habe ich Deutsch gelernt.

Manche von uns können die Verbindung als Bürger einer anderen Kultur aufrechterhalten, manche mussten diese Verbindung trennen, kappen, abschneiden, um Deutsche werden zu können. Trotz aller Weltoffenheit, der Globalisierung und einem großen Geflecht internationaler Verbindungen tun sich einige in unserem Land immer noch schwer damit, den Wert einer Staatsbürgerschaft als Errungenschaft einer Zivilgesellschaft in einem gemeinsam getragenen und gestalteten Gemeinwesen zu sehen. Vielmehr betrachten sie die Zugehörigkeit zu einem Land als eine von hohen Hürden und Hindernissen gepflasterten Kreuzweg, um nach vielen Opfern endlich Zugang zu erhalten, in den Club der Exklusiven, der 82 Millionen Deutschen in einer Welt der über 7 Milliarden Nichtdeutschen.

Ich selbst bin in Anatolien geboren, kam mit drei Jahren nach Deutschland und wuchs in einer Zechensiedlung in Duisburg auf. Mein Vater war Bergmann, wie unsere Nachbarn, und so zählte nicht die Herkunft meines Vaters, sondern die Arbeit, die unsere Väter verband. Meine Geschwister und ich wuchsen völlig selbstverständlich unter den Kindern der anderen Bergleute auf. Als Arbeiterkinder, als Bergmannskinder. Es war für mich damals völlig klar, dass Deutschland meine Heimat ist, hier mein Lebensmittelpunkt sein wird und ich dazu gehöre. Komplett immun wurde man nie, wenn es hieß:
"Warum sprechen Sie so gut Deutsch?"
"Weil ich hier aufgewachsen bin!"
"Woher kommen Sie?"
"Aus Duisburg!"
"Und wie ist das bei euch Türken?"
"Wie bei uns Deutschen!".

Ich weiß nicht, ob Ihnen das auch schon aufgefallen ist? Deutsche sind manchmal ungewollt komisch, mit einem verklemmten, fast anrührenden Sinn für Realsatire. Warum ich das sage? Nun, zu meiner Einbürgerung hat mir die Stadt Duisburg ein Geschenk gemacht. Eine Stadtrundfahrt durch Duisburg, mir, dem Mädel aus dem Ruhrpott, die in Marxloh aufgewachsen ist und ihr ganzes Leben in dieser rußgeschwärzten Stahlstadt verbracht hat, bekam eine Stadtrundfahrt für den einzigen Flecken der Welt geschenkt, wo ich jede Straßenlaterne mit Vornamen kenne. Trotzdem, wenn ich heute darüber nachdenke, es waren Deutsche, die für uns Gastarbeiterkinder die Brücken in die Gesellschaft gebaut haben. Noch nicht die Institutionen, nicht die Politik, nicht die Eliten. Die Menschen, die einen annahmen, mitnahmen und einem auf die Füße halfen.

Es gibt auch die, die genau diese Brücken bewachen, argwöhnisch kontrollieren, angstbesetzt darauf lauern, dass ihre Vorurteile bedient, ihr Befremden bestätigt und die Unsicherheit gegenüber dem Fremden sich auf Knopfdruck zur Paranoia auswachsen kann. Menschen ohne Neugier, die ihre Unsicherheiten nur schwer überwinden können, deren Ängste und Distanzen kaum überbrückbar scheinen. Ich verrate Ihnen etwas. Auf dieses Phänomen hat die Bundesrepublik kein Exklusivrecht. Das gibt es überall, dass sich die Mehrheit von der Minderheit bedroht fühlt und das Ausgrenzen von Minderheiten gerechtfertigt wird.

Meine Integration hat funktioniert. Ich habe sie den Müttern meiner Schulfreundinnen zu verdanken, die mir bei den Hausaufgaben geholfen haben. Ich habe sie meiner Lehrerin zu verdanken, die mich in der Schule gefördert hat. Ich habe es also in gewisser Weise dem Zufall zu verdanken, dass ich engagierten Menschen begegnet bin. Wer aber sollte es verantworten, dass die Zukunft von Migrantenkindern einem Glücksspiel gleicht? Die Zahl der Kinder mit Einwanderungsbiografie wird in den nächsten Jahren größer werden. Ich bin überzeugt davon, dass eine gesellschaftliche Veränderung nur dann erfolgt, wenn Kinder, egal welchen sozialen und ethnischen Hintergrund sie haben, bereits im Vorschulalter an die Hand genommen werden - damit sie die deutsche Sprache lernen.

Ich genieße meine zwei Welten, denn ich schöpfe lustvoll aus beiden Kulturen. Ein weiteres türkisches Sprichwort besagt: Sorma kisinin aslini sohbetinden belli eder - frage niemanden nach seiner Herkunft - er wird sie in seinen Erzählungen offenbaren.

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