Zuwanderer auf dem Land - Forschung: Integration von Aussiedlern
Artikel vom 20.04.2007
Ist die Forschungslage zur Zuwanderung im ländlichen Raum allgemein schon dünn, so fällt die wissenschaftliche Befassung mit der Frage der Integration von Zuwanderern im ländlichen Raum umso dürftiger aus. Noch eher wird die Integration von Aussiedlern Gegenstand einiger regional beschränkter Untersuchungen.
Lebenshintergründe, Migrations- und Integrationserfahrungen von Aussiedlern
Im Auftrag der Körber-Stiftung hat Wierling (2004) mit der Methode der „Oral History“ drei Generationen Russlanddeutscher befragt und zu ihren Lebensgeschichten und Migrationserfahrungen zu Wort kommen lassen.
Obgleich es sich bei den Interviewten um Aussiedler handelt, die in Hamburg und damit nicht im ländlichen Raum leben, lassen sich aus der Bilanz des Erzählprojekts verallgemeinerbare Erkenntnisse über die Gruppe der Aussiedler in Deutschland ziehen, die als Basiswissen spezifischeren Untersuchungen unterlegt werden können.
- Die weit überwiegende Zahl der nach Deutschland übersiedelten Russlanddeutschen wurde in einem sowjetischen Umfeld sozialisiert. Nur noch die älteste Generation kennt rein deutschstämmige Heiraten und Nachbarschaften, wie sie bis zum 2. Weltkrieg üblich waren, danach aber zerschlagen wurden. Kultur und Lebensweise orientierten sich nicht einmal mehr an einem wenn auch überholten und auf veraltetem Stand stagnierenden Deutschlandbild, sondern an zeitgenössischen Kultur- und Konsummustern der sowjetischen Gesellschaften.
- Hauptmotiv für die Übersiedlung nach Deutschland war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Chance, für sich selbst und die Kinder in einem wohlhabenden Land eine bessere Zukunft zu sichern.
- Die Ausreise nach Deutschland wurde häufig gegen den Widerstand von Angehörigen der eigenen Familie durchgesetzt. Insbesondere ältere Kinder und Jugendliche wollten ihren alten Lebenskontext und die peer groups, innerhalb derer sie sich bewegten, nicht aufgeben.
- Die Stigmatisierung der Deutschstämmigen als „Deutsche“ oder gar „Nazis“ in der Sowjetunion schlug nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik in eine Stigmatisierung als „Russen“ um. Dieser verbale Ausdruck der Ausgrenzung wurde insbesondere von der jungen Generation als Merkmal der eigenen Identitätsbildung und Selbstabgrenzung angenommen und bewirkt noch immer erhebliche Integrationsprobleme.
- Die gleichermaßen von außen entgegengebrachte und selbst gewählte Ausgrenzung im Aufnahmeland, die vor allem auf viele männliche, jugendliche Aussiedler einwirkt, steht in enger Verbindung mit dem Zeitpunkt der Übersiedlung nach Deutschland vor oder nach Mitte der 1990er Jahre. Die frühen Aussiedlergruppen verfügten noch über Kenntnisse der deutschen Sprache und Kultur und trafen günstige Arbeitsmarktbedingungen in der Bundesrepublik an; ihre strukturelle Integration gelang schnell und erfolgreich. Unter den späteren Aussiedlergruppen besaßen nur noch wenige Personen deutsche Sprachkenntnisse, die kulturelle Sozialisation war eine komplett russische bzw. sowjetische. Die verschlechterte Arbeitsmarktlage in Deutschland und gekürzte Mittel zum Beispiel für Sprachkurse erschwerten die Eingliederung im Aufnahmeland erheblich. Die Geschichte der Migration ist für diese Menschen daher in vielen Fällen eine Geschichte des sozialen Abstiegs.
Was verstehen Aussiedler unter „Integration“
Trösters Untersuchung (2003) zum Integrationsverständnis basiert auf qualitativen Interviews mit Aussiedlern im süd- und mitteldeutschen Raum.
Im Unterschied zu migrationssoziologischen Theorien, die die Hauptverantwortung für den Integrationserfolg von Zuwanderern bei der Aufnahmegesellschaft und den von ihr offerierten Integrationsangeboten sehen, messen die interviewten Aussiedler den individuellen Integrationsdeterminanten, wie eigene Kenntnisse und Fähigkeiten, Einstellung zum Migrationsprozess, Erwerbsstatus und Migrationskontext, primäre Bedeutung bei.
Tröster ermittelt drei Deutungsmuster zum Integrationsverständnis der Aussiedler:
- Zurechtkommen
- Mithalten
- Gleichen
„Zurechtkommen“bedeutet für die Aussiedler, nach der Migrationserfahrung die Eingliederungsphase im neuen Land damit abzuschließen, dass ein strukturiertes Alltagsleben wieder aufgenommen werden kann. Kernbestandteile dessen sind die Fähigkeit, für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen und Alltagsanforderungen selbstständig und eigenverantwortlich zu bewältigen.
„Mithalten“ - Dieses Deutungsmuster ist stark materialistisch geprägt und orientiert sich daran, in ausgewählten Lebensbereichen das Niveau der Aufnahmegesellschaft zu erreichen. Strukturelle Assimilation ist neben günstigen Umgebungsbedingungen eine Grundvoraussetzung dieses Integrationsverständnisses, das bereits deutlich stärker als das Muster „Zurechtkommen“ auf einen Vergleich der Neubürger mit den Einheimischen zielt.
„Gleichen“ - Dieser am stärksten assimilationsorientierte Integrationsbegriff verfolgt das Ziel, von den Einheimischen nicht mehr als fremd identifiziert werden zu können. Äußerliche Anpassung in Habitus und Gestus ist Grundvoraussetzung. Darüber hinaus ist die Übernahme von Werten und Normen bei angestrebter völliger Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft vonnöten.
Bemerkenswert ist ferner, dass die Russlanddeutschen im Unterschied zur Aufnahmegesellschaft informellen sozialen Kontakten zu Einheimischen nur geringe Bedeutung beimessen, während im öffentlichen Diskurs die soziale Separation als Hauptindikator misslungener Integration bezeichnet wird. Die meisten Aussiedler hegen die Hoffnung, dass Angehörige der zweiten und dritten Generation „automatisch“ zu gleichwertigen, sozial integrierten Mitgliedern der Gesellschaft würden. Ohne gegenseitige Kenntnisse voneinander und zumindest partielle Kontakte kann sich dies jedoch durchaus als trügerische Hoffnung erweisen.
Ethnische Koloniebildung als dauerhaftes Merkmal der Wohnortwahl von Aussiedlern
Wie allgemein in der Literatur beschrieben, stellt auch Wenzel (2002, 2003) fest, dass der konzentrierte Aussiedlerzuzug in die strukturschwachen Räume der Landkreise Osnabrück und Emsland aus der anfänglichen Wohnortzuweisung schnell in Kettenwanderungsmuster von Verwandten und Bekannten umschlug. Auch in der Folgegeneration setzt sich diese sehr starke Familienorientierung häufig fort. Während die ersten Aussiedler noch vergleichsweise gute Arbeitsmarktchancen – sogar im strukturschwachen ländlichen Raum – vorfanden, traf dies für später Zugezogene nicht mehr zu. Die gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklung verspricht keine entscheidende Verbesserung der Situation. Dennoch spielt die Arbeitsmarktlage immer noch eine untergeordnete Rolle bei der Wohnstandortwahl der Aussiedler. Im Zweifelsfall ist die sozialräumliche Nähe zur Familie wichtiger als die mit Unsicherheiten behaftete Arbeitsmarktintegration an einem entfernteren Ort.
Beispiele ethnischer Koloniebildung von russlanddeutschen Aussiedlern
Die starke Kohäsion innerhalb großer Aussiedlergruppen und ihre Bildung von Wohnkolonien erschwert Kontakte mit der Mehrheitsgesellschaft und fördert die Wahrnehmung von Differenzen statt diese zu beseitigen. So entwickelt sich das, was der Anfangsorientierung und Selbsthilfe in einem neuen Land zunächst zuträglich ist, auf lange Sicht zu einem Trennungsfaktor zwischen Neubürgern und Einheimischen. Dennoch bietet gerade der ländliche Raum für Aussiedler leichtere Einstiegschancen als großstädtische Lebensräume. Ein geringeres Modernisierungstempo und eine größere Nähe zu agrarwirtschaftlich geprägten Sitten und kulturellen Ausdrucksformen federt die Unerfahrenheit der Aussiedler mit einer pluralistischen Gesellschaft und ihren pluralistischen Wertvorstellungen eher ab.
Was Micksch und Schwier, aber auch Boos-Krüger festgestellt haben, bestätigt auch Wenzel: Die räumliche Nähe und Überschaubarkeit sowie die Unmöglichkeit, Fremden dauerhaft ausweichen zu können, fördert polare Reaktionsmuster zutage. „Zum einen sind engagierte Formen der Unterstützung und Hilfsbereitschaft beobachtbar und gleichzeitig auch gelebte Formen der Ablehnung und Distanz. Viele Dorfbewohner akzeptieren nicht das kulturelle Selbstbild der zugewanderten Aussiedler [...] Viele Aussiedler versuchen demgegenüber ihrer Zwitterstellung [...] und ihrem empfundenen Fremdsein durch Überanpassung und durch Zurückhaltung gerecht zu werden [...] Das gilt jedoch dezidiert nicht für Jugendliche und junge Erwachsene der Altersgruppe 15 bis 25 Jahre, die in den ländlichen Gemeinden und Kleinstädten zu wenige Ausbildungs-, Erwerbs- und Freizeitmöglichkeiten vorfinden und durch die neuen Lebensbedingungen und Lernanforderungen eine fundamentale Verunsicherung erfahren. Hinzu kommt der Zerfall der traditionellen Autoritätsstrukturen in den Aussiedlerfamilien. Sie versuchen, durch Selbstorganisation und durch Abschottung ein Gegengewicht zu schaffen gegen den verunsichernden Anpassungsdruck. [...] Soll mittelfristig der Integrationsprozess weiter voranschreiten, so scheint der Handlungsbedarf auch in ländlichen Räumen mit Blick auf die zweite Generation besonders groß.“ (Wenzel, 2003)
Binnenintegration von Aussiedlern als Eingliederungsfaktor
Für zwei Aussiedler-Kirchengemeinden in Rheinhessen hat Henkel (1994) untersucht, ob eigene Gemeinden als Institutionen der Binnenintegration zur Integration von Russlanddeutschen in die deutsche Gesellschaft beitragen. Im Untersuchungsfall handelt es sich um eine Baptisten- sowie eine Pfingstgemeinde. Dabei zeigt sich, dass die Pfingstgemeinde stärkere autoritäre Strukturen besitzt als die Baptistengemeinde und keine Kontakte zu einheimischen Gemeinden, allenfalls zu weiteren russlanddeutschen Pfingstlern unterhält und anstrebt. Kontakte der Baptistengemeinde zur ortsansässigen Kirche sind dagegen vorhanden und werden als Teil der Kontakte zu Einheimischen von den Gemeindegliedern auch gewünscht. Henkel folgert aus diesen Befunden, dass die Integration von Einwanderern durch Institutionen der Binnenintegration sowohl beschleunigt als auch behindert werden kann. „Da einheimische Institutionen wie etwa Vereine von Aussiedlern zwar etwas mehr als von Ausländern, aber immer noch nur sehr zögernd angenommen werden, können behutsam von Seiten der einheimischen Kirchen geförderte ‚integrationsverträgliche‘ Aussiedlergemeinden hier positiv wirken.“
Literatur
Henkel, Reinhard: Binnenintegration als Faktor für die Eingliederung russlanddeutscher Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland - Das Beispiel zweier Gemeinden in Rheinhessen. In: Festschrift für Erdmann Gromsen zum 75. Geburtstag. Mainzer Geographische Studien H. 40. Mainz 1994. S. 445-458
Roesler, Karsten: Russlanddeutsche Identitäten zwischen Herkunft und Ankunft: Eine Studie zur Förderungs- und Integrationspolitik des Bundes. Frankfurt a.M. 2003: Peter Lang
Tröster, Irene: Wann ist man integriert? Eine empirische Analyse zum Integrationsverständnis Rußlanddeutscher. Frankfurt a.M. 2003: Peter Lang
Wenzel, Hans-Joachim: Aussiedlerintegration als kommunalpolitische Aufgabe. Akrivitäten und Maßnahmen am Beispiel des Landkreises Osnabrück. In: K.J. Bade, J. Oltmer (Hrsg.): Zuwanderung und Integration in Niedersachsen seit dem Zweiten Weltkrieg. Osnabrück 2002: Universitätsverlag Rasch. S. 167-198
Wenzel, Hans-Joachim: Aussiedlerzuwanderung als Stukturproblem in ländlichen Räumen. In: K.J. Bade, J. Oltmer (Hrsg.): Aussiedler: deutsche Einwanderer aus Osteuropa. 2. Aufl. 2003 Göttingen: v&r unipress. S. 264-280
Wierling, Dorothee (Hrsg.) : Heimat finden. Lebenswege von Deutschen, die aus Russland kommen. Hamburg 2004: edition Körber-Stiftung