Akademische Ausbildung für die Praxis – „Und was macht man dann damit?“
Artikel vom 22.05.2019
So manchem jungen Wissenschaftler ist diese Frage – meist mit besorgtem Unterton – schon mehrfach begegnet, besonders dann, wenn mit dem Studium oder der Promotion kein klares Berufsbild wie Jurist, Ärztin oder Lehrer verbunden ist. Von Anne Schreiter
Akademische Ausbildung und Beruf
Akademische Ausbildung und Praxis werden nicht nur auf Familienfeiern und von besorgten Verwandten weniger als komplementär, denn als konträr verstanden: „Elfenbeinturm“ und „Praxisferne“ stehen dann dem „richtigen“ Leben, einem „richtigen“ Job außerhalb der Hochschultore gegenüber. Je länger Hochqualifizierte zudem im Wissenschaftssystem verweilen, desto größer scheint die Kluft zu werden.
Schaut man sich die Statistik für Promovierte unter 45 Jahren in Deutschland an, fällt jedoch auf, dass auch nach Abzug von Medizin und Jura lediglich 19% der akademisch weit Ausgebildeten an einer Hochschule tätig sind. Der Großteil, 65%, arbeitet in der Wirtschaft, die restlichen 16% sind im öffentlichen Dienst beschäftigt.1 Die Akademikerarbeitslosigkeit ist mit 2,5% zudem vergleichsweise niedrig.2
Eine akademische Ausbildung bereitet statistisch gesehen also auch für Berufe in anderen Arbeitswelten vor. Aber ist Wissenschaft weniger „Praxis“ als es außerakademische Bereiche sind? Und für welche Praxis sollte denn wie ausgebildet werden? Eine weiterführende Ausbildung wie die Promotion und Stationen als Postdoc sollen auf eine wissenschaftliche Karriere vorbereiten – das erklärte Ziel ist in der Regel die Professur. Gleichzeitig ist es kein Geheimnis, dass diesen wenigen Stellen deutlich mehr junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegenüberstehen. Viele Promovierte zielen daher bereits während der Zeit an der Uni auf außerakademische Bereiche. Informationen über Karriereoptionen außerhalb der Wissenschaft sind jedoch nicht flächendeckend institutionalisiert, hinzu kommt ein diffuses Gefühl des Scheiterns, wenn andere Karrierewege verfolgt werden. Der außerakademische Praxisbezug ist sicher abhängig von der Disziplin und der Nähe zu passenden Jobs außerhalb der Wissenschaft: Laborleiter oder Ingenieurin in der Industrie zu werden, ist bei den relevanten Fächern naheliegend. Aber was können ein Chemiker im Non-Profit-Bereich oder aber eine Historikerin in der Wirtschaft anfangen?
Fähigkeiten und Führung
Eigentlich recht viel, wenn Stärken und Talente richtig allokiert werden. Denn im Wissenschaftsbetrieb sammeln junge Forschende neben Fachkenntnissen auch „transferable skills“, also Fähigkeiten, die in anderen Bereichen ebenfalls von Nutzen sind: Projektmanagement, Teamarbeit, Datenanalyse, kritisches Denken und Fundraising, der Umgang mit Misserfolgen und kreatives Problemlösen, um nur einige zu nennen. Zum einen ist WissenschaftlerInnen ohne außerakademische Erfahrung jedoch oft nicht bewusst, dass sie über diese Fähigkeiten verfügen, oder das Wording unterscheidet sich von branchenüblichen Begriffen. Es ist also eine Übersetzungsleistung notwendig, um Stärken und Kenntnisse in anderen Bereichen als der Wissenschaft zu benennen. Zum anderen fehlt es trotz solcher universell einsetzbaren Fähigkeiten an Erfahrungen, an Unterstützungsangeboten und oft auch an Vorbildern – denn ProfessorInnen und GruppenleiterInnen, die als MentorInnen und Führungskräfte wahrgenommen werden, können diese Aufgaben durchaus gut ausfüllen, es ist jedoch nicht garantiert. Hinzu kommt, dass eine strategische Personalentwicklung an Universitäten weniger breit ausgebaut ist oder aber trotz dessen aufgrund hierarchischer Strukturen systemische Mängel gute Führungspraxis erschweren, wie zum Beispiel die jüngsten Vorwürfe von Mobbing in der Max-Planck-Gesellschaft gezeigt haben.3
Gerade bei Führungs- und Managementthemen sind junge WissenschaftlerInnen in der Regel auf sich allein gestellt. Dazu gehören besonders das Führen von MitarbeiterInnen, Selbstreflexion, strategische Planung und die Kenntnis passender Kommunikationswerkzeuge. In diesen Bereichen sollten WissenschaftlerInnen individuell und systemisch besser unterstützt werden – durch flächendeckend institutionell verankerte Maßnahmen an Universitäten und Forschungseinrichtungen, aber auch durch eine Anpassung des Systems, in dem sie wirken (einen Aufschlag hat die Junge Akademie mit ihrem Vorschlag zu Departments statt Lehrstühlen gemacht4). Denn gute Führungspraxis ist sowohl in der Wissenschaft als auch in außerakademischen Bereichen essentiell. Die wissenschaftliche Methode – also kritisches Hinterfragen von Fakten, Neugier und Experimentierfreude, der Umgang mit Fehlversuchen – bietet eigentlich beste Voraussetzungen für ein progressives Führungsverständnis. Denn solche Soft Skills werden in Zukunft an Bedeutung gewinnen.
Diese Zukunft ist mit dem digitalen Zeitalter bereits angebrochen. Technologische und gesellschaftspolitische Veränderungen werden zwar beforscht, in der akademischen Ausbildung werden die Konsequenzen für die lebens- und arbeitsweltliche Praxis jedoch noch nicht ausreichend inhaltlich und strukturell abgebildet. Das Hochschulforum Digitalisierung hat Kompetenzen auf Grundlage von Zukunftstrends zusammengetragen: Neue Wirtschafts- und Organisationsformen erfordern beispielsweise besondere Kollaborationsfähigkeiten. Wenn heute Kommunikations- und Empathiefähigkeit bereits bedeutsam sind, wird dies perspektivisch noch zunehmen. Darin mischt sich zudem ein Bedarf an einer ganz neuen „Media Literacy“, also der Fähigkeit, Medieninhalte dekodieren, verstehen und interpretieren zu können. Verstärkt nachgefragt wird auch sein, eine Vielzahl an Informationen und Daten, die noch dazu ständig in Veränderung begriffen sind, zu interpretieren, zu kontrollieren und sinnvoll zu nutzen. Generell werden der Umgang mit Unsicherheit und die Fähigkeit, kreative Lösungen zu finden, an Bedeutung gewinnen. Aber auch die Fähigkeit, über verschiedene Kulturgrenzen zusammenzuarbeiten und Sinn zu stiften, wird noch wichtiger werden.5
Wissenschaft als Praxis muss sich wie auch andere Gesellschaftsbereiche an neue Realitäten anpassen. Im besten Falle verschwinden dann Grenzziehungen wie die eingangs genannten vom Elfenbeinturm auf der einen und dem „echten Leben“ auf der anderen Seite. Denn alle Lebens- und Arbeitswelten werden sich in Zukunft grundlegend verändern. Um diese Veränderungen mitzugestalten und nicht von ihnen getrieben zu werden, bedarf es kompetenter Gestalter und eines systemischen Wandels – und damit einer zeitgemäßen akademischen Ausbildung. Dafür muss es möglich sein, neue Ansätze ausprobieren zu können und verstärkt mit anderen Sektoren zu kollaborieren.
Ziel muss es heute schon sein, für eine Zukunft auszubilden, in der wir Professionen haben werden, für die es noch gar keine Bezeichnung gibt. Das sollte dann auch als Antwort auf die Frage „Und was macht man dann damit?“ ausreichen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der erweiterten Dokumentation des Symposiums „Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften“, das anlässlich des 90. Geburtstags des Stifters Alois M. Schader am 16. Juli 2018 im Schader-Forum stattfand.
Anne Schreiter: Akademische Ausbildung für die Praxis. „Und was macht man dann damit?“ In: Alexander Gemeinhardt (Hrsg.): Die Praxis der Gesellschaftswissenschaften. 30 Jahre Schader-Stiftung, Darmstadt 2018, 62-64.
Die Autorin: Dr. Anne Schreiter ist Geschäftsführerin der German Scholars Organization e.V. (GSO).
1 Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (Hrsg.): Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017, S. 186.
2 Stand 2017, Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Berichte: statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Berufe/generische-Publikationen/Broschuere-Akademiker.pdf (27.09.2018).
3 Thiel, Thomas (2018): Exzellenz und Exzess. Online verfügbar unter www.faz.net/aktuell/feuilleton/hoch-schule/max-planck-gesellschaft-neue-mobbing-vorwuerfe-15747710.html (02.10.2018).
5 hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/future-work-skills-interview-tobias-seidl-kompetenzen (18.03.2019).